es in der Menschheitsgeschichte etwas Neues? Läuft da nicht ein ewig gleicher Prozess von Werden und Vergehen ab? Kulturen entstehen und verschwinden wieder. Kriege und Katastrophen vernichten alles, aus den Trümmern wächst Neues. Das Neue aber bleibt nicht neu. Die Erkenntnis, dass sich alles verändert, ist es auch nicht.
Und doch! Der christliche Glaube tritt mit diesem ungeheuren Anspruch auf: Da ist etwas wirklich Neues passiert. Das Christentum selbst wird in der Apostelgeschichte als „der neue Weg“ bezeichnet: „Saulus verfolgte immer noch die Jünger des Herrn und drohte ihnen mit Gefängnis und Hinrichtung. Er ging zum Obersten Priester und bat um eine schriftliche Vollmacht für die Synagogen in Damaskus. Dort wollte er die Anhänger des neuen Weges aufspüren. Er wollte sie, Männer wie Frauen, festnehmen und nach Jerusalem bringen“ (Apostelgeschichte 9,1–2).
Ironie der Geschichte oder, wie ich besser sagen sollte, Wirken des Heiligen Geistes: Aus Saulus wird Paulus, aus dem Verfolger der größte Missionar. Paulus ist den neuen Weg gegangen und hilft bis heute Menschen, auf diesem Weg voranzukommen. Paulus erfuhr eine dramatische Lebenswende durch seine Begegnung mit Jesus Christus, sein Leben wurde absolut neu!
Was Kohelet dazu gesagt hätte? Vielleicht: „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Das meint meine Tochter auch schon mal. Ich reagiere dann ziemlich belehrend: „Es gibt Dinge, die können wir uns nicht vorstellen – und sie geschehen doch.“
Der Reiz des Krummen
Elisabeth ist erfahrene Ärztin in einem Klinikum, bei Patienten und Kollegen gleichermaßen geschätzt. Als Mitglied der Ethik-Kommission berät sie in komplizierten Fällen, was medizinisch angemessen und menschlich vertretbar ist. Elisabeth sieht nicht nur die Erkrankung, sondern den ganzen Menschen in seiner sozialen Wirklichkeit. In ihrer eng bemessenen Freizeit liest sie viel, um das Mysterium Mensch besser zu verstehen. Sie hält zahlreiche soziale Kontakte aufrecht und bleibt mit ihrer Kirchengemeinde in Verbindung, denn sie empfindet das Leben als Geschenk Gottes. Elisabeth ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und führt eine zufriedene bürgerliche Existenz. Auf einmal verliebt sie sich in den Medizinstudenten Robert. Eine amour fou!
Ihre moralischen Skrupel wühlen sie auf. Doch das Abenteuerliche an dieser geheimen Beziehung erfüllt Elisabeth mit Energie und Freude. Sie genießt Zärtlichkeit und Sexualität, wie sie sie nie zuvor in ihrer Ehe erlebt hat. Die unbeschreibliche Nähe zu ihrem Liebhaber taucht ihr ganzes Dasein in ein neues Licht.
Ich bemühte mich, mithilfe meines Verstandes die Dinge zu erforschen und zu erkunden. All mein Streben galt der Weisheit, denn mit ihrer Hilfe wollte ich ergründen, was in der Welt geschieht: Es ist eine mühsame Arbeit, und Gott hat sie den Menschen auferlegt, damit sie sich damit quälen. Ich habe die Menschen bei ihrem täglichen Tun beobachtet. Es ist alles sinnlos und gleicht dem Versuch, den Wind einzufangen. Was krumm ist, kann nicht gerade werden, und was nicht vorhanden ist, kann auch nicht gezählt werden. (Prediger 1,13–15)
Lange habe ich mit Elisabeth zusammengesessen und zugehört. Sie, die so viel mit Hilfe ihres Verstandes erforscht und erkundet hat, fühlt sich von etwas überwältigt, was fern ihrer Vorstellungskraft lag. Die Wucht der Emotionen scheint sie – die doch in so gewohnten und sicheren Bahnen zu laufen schien – aus der Spur zu werfen. Sie will verstehen, was da geschieht, in ihrer kleinen Welt, die auf einmal kopfsteht. Ihren Mann zu verlassen steht nicht zur Debatte, ebenso wenig alles aufzugeben, was sie sich aufgebaut hat. Nur wenige wissen von ihrer Situation.
Ihr auffallend jüngerer Geliebter drängt sie nicht zu einer Entscheidung. Robert ist in einem anderen Milieu zuhause als Elisabeth, bevorzugt andere Freizeitaktivitäten, betrinkt sich schon mal und hat einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus als sie. Er lebt ein anderes Leben. Er sieht gut aus und könnte viele Frauen seines Alters haben. Aber er liebt Elisabeth. Er zeigt sich ihr gegenüber schamlos, ohne Scham, in einer Vertrautheit, die Elisabeth fasziniert. Diese Leidenschaft.
Das alles zu begreifen gelingt beiden nicht, was für Robert kein Problem darstellt, wohl aber für Elisabeth. Die Situation quält sie. Die erfahrene Ärztin kennt sich selbst nicht wieder. Was sind das für romantische, animalische, egoistische Anwandlungen, die sich da ihrer bemächtigen? Muss sie sich schämen? Sündigt sie gegen Gott? Gegen ihren Mann, der nichts ahnt … oder doch? Die Lust zwischen beiden kühlte ziemlich ab in den letzten Jahren. Vielleicht schweigt er in stillem Einverständnis? – Diese Fragen nagen an ihr.
Was Elisabeth mir offenbart, beschließt sie mit dem Satz: „Es ist doch alles sinnlos, was da läuft!“
Ist Sinn hier die passende Kategorie? Ihr wird etwas gefehlt haben, was sie nun genießt. Allerdings hat dieser Genuss seinen Preis. Selbstverständlich ist ihr bewusst, diese Geschichte wird nicht ewig dauern. Doch jetzt prägt sie ihre Realität. Das Verhältnis mit Robert ist nichts für die Ewigkeit. Es ist vergänglich, doch jetzt schön. Und problematisch. Zumal für eine Frau, die ihr Leben – wie sie sagt – in Gottes Hand gelegt hat.
Kohelet kommentiert: Es bleibt krumm und kann nicht gerade werden. Doch Paul Claudel tröstete: „Gott schreibt auf krummen Linien gerade.“
Rom im November
Sie gleicht einer Verführerin, für die man alle heiligen Grundsätze aufzugeben bereit ist: Rom betört! Ich bin der Stadt hörig, folge mindestens einmal im Jahr ihrem Lockruf und frage mich dann jedes Mal, was ich in diesem lauten, teuren und schmutzigen Moloch suche. Immer mich selbst.
In jedem Monat war ich schon da, in glühender Hitze und im Schnee (dem Rom hilflos ausgeliefert scheint). Ohne Lieblichkeit zeigt sich Rom im November. Das Wetter trüb, zum Draußen-Sitzen zu kühl, auch das warme Licht fehlt, das die Ewige Stadt in ihren unvergleichlichen Glanz hüllt.
Rom im November – das könnte auch als poetische Umschreibung dienen für den Zustand jener Religion, die sich nach der Metropole benennt. Die römisch-katholische Kirche möchte den Eindruck erwecken, alles sei ganz wunderbar und laufe prima wie immer. Der Prunk lässt kaum vermuten, dass sich diese größte Glaubensgemeinschaft der Welt in einer schweren Krise befindet. In Deutschland ist das allerdings sehr offensichtlich.
Die Veränderungsprozesse innerhalb der katholischen Kirche betrachte ich aus einer heilsamen Distanz. Ich leide mit den katholischen Schwestern und Brüdern unter ausbleibenden Reformen. Das II. Vatikanische Konzil ließ von einer anderen Kirche träumen. Doch die Bewegung erlahmte wieder in den letzten Jahrzehnten. Unter Papst Franziskus hat zwar ein kirchlicher Klimawandel eingesetzt, man darf über vieles diskutieren. Nur, substantielle Fortschritte sind nicht wahrnehmbar. Eigentlich ist das nun wirklich nicht mein Thema. Allein, die fortschreitende Entfremdung meiner katholischen Familienangehörigen und Freunde von ihrer Institution bedrückt auch mich.
Sich als Nicht-Katholik klammheimlich an den Schwierigkeiten der römischen Variante zu ergötzen wäre dumm. Von einer starken und lebendigen katholischen Kirche profitieren auch Protestanten und Orthodoxe.
Ich versuchte auch zu verstehen, wo der Unterschied zwischen Weisheit und Dummheit liegt. Aber ich begriff: Auch diese Mühe ist so sinnlos wie der Versuch, den Wind einzufangen. Denn je größer die Weisheit ist, desto größer ist auch die Mutlosigkeit, und je größer die Erkenntnis wird, umso mehr steigert sich auch die Enttäuschung. (Prediger 1,17–18)
Elmar, ein katholischer Diakon, verheiratet und Vater zweier Kinder, gehört durch sein Amt zur kirchlichen Hierarchie. Er ist ein sympathischer Offizieller seiner Kirche: kommunikationsfreudig, intelligent, engagiert und von tiefer Frömmigkeit. Der Mann ist beliebt.
Dann passiert etwas, das einfach nicht vorgesehen ist. Elmar verliebt sich in eine andere Frau. Die Ehe wird geschieden, und da er mit seiner Freundin zusammenlebt, muss er sein Amt ruhen lassen. Die Ehe wird nach einigen Jahren annulliert. Heißt in der Lesart seiner Kirche: Diese Ehe hat nie bestanden. (Die Kinder behalten allerdings den Status „ehelich“.) Nun kann Elmar seine Freundin heiraten und seinen Dienst als Diakon wieder aufnehmen, die Kirche braucht Leute wie ihn. … Zu früh gefreut! Da seine erste Ehe nie bestand,