Alberto Vazquez-Figueroa

Tuareg


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begreifen, daß er die Wahrheit gesagt hatte. Maliks Interesse war erwacht, denn er lebte schon lange genug in der Sahara, um vor einem Mann Hochachtung zu empfinden, der sich ins »Land der Leere« begeben hatte und heil zurückgekehrt war. Solche Männer konnte man zwischen Marokko und Ägypten an den Fingern einer einzigen Hand abzählen. Nicht einmal Mubarrak-ben-Sad, der der Garnison offiziell als Führer in der Wüste diente und der als einer der besten Kenner dieses von Geröll und Sand bedeckten Landes galt, konnte sich einer solchen Leistung rühmen.

      »Aber ich kenne einen, der es geschafft hat«, hatte Mu-barrak dem Sergeanten irgendwann einmal während einer ausgedehnten Expedition zum Huaila-Massiv versichert. »Ich kenne einen amahar vom Kel-Tagelmust, der war dort und ist sogar wieder zurückgekehrt...«

      »Was fühlt man, wenn man mittendrin ist?« wollte Malik wissen.

      Gacel warf ihm einen langen Blick zu, dann antwortete er achselzuckend: »Nichts.

      Man muß alle Gefühle draußen lassen. Auch alle Ideen und Vorstellungen muß man draußen lassen. Es kommt darauf an, wie ein Stein zu leben, und man darf keine einzige überflüssige Bewegung machen, die den Wasserverbrauch erhöht.

      Sogar nachts muß man sich so langsam bewegen wie ein Chamäleon. Nur wenn es dir gelingt, dich gegen Hitze und Durst unempfindlich zu machen, hast du eine winzige Überlebenschance. Aber vor allem muß man die Todesangst überwinden und ruhig bleiben.«

      »Warum hast du das getan? Warst du auf der Suche nach der Großen Karawane?«

      »Nein, ich suchte in mir nach den Spuren meiner Vorfahren. Sie haben das >Land der Leere< besiegt.«

      Malik schüttelte abwehrend den Kopf. »Niemand besiegt das >Land der Leere<«, sagte er voller Überzeugung. »Der Beweis dafür ist, daß alle deine Vorfahren tot sind, aber das >Land der Leere< ist noch genauso unerforscht wie an dem Tag, als Allah es schuf.« Er machte eine Pause, schüttelte erneut den Kopf und stellte sich wie im Selbstgespräch die Frage: »Warum hat Allah das wohl getan? Warum hat er, der so große Wunder vollbringen konnte, auch diese Wüste geschaffen?«

      Die Antwort klang ebenso vermessen wie die Frage selbst: »Damit er hinterher die imohar schaffen konnte.«

      Malik lächelte belustigt. »So wird es wohl sein«, meinte er. Und mit einem Blick auf die Antilopenkeule fuhr er fort: »Ich mag es nicht, wenn das Fleisch zu stark gebraten ist.« Gacel zog den Ladestock aus dem Fleisch, reichte Malik eines der beiden Stücke und machte sich daran, mit seinem scharfen Dolch dicke Scheiben von dem anderen abzuschneiden. »Falls du jemals in Not gerätst, koche oder brate das Fleisch nicht, sondern iß es roh. Verzehre jedes Tier, das dir in die Quere kommt, und trinke sein Blut! Aber beweg dich dabei nicht, bewege dich überhaupt nicht!«

      »Ich werde daran denken«, meinte der Sergeant. »Ich werde daran denken, aber ich bete zu Allah, daß er mich vor einer solchen Notlage behütet.«

      Schweigend beendeten sie die Mahlzeit. Sie tranken einen Schluck frisches Wasser aus dem Brunnen, dann erhob sich Malik und reckte sich zufrieden. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Der Hauptmann erwartet meinen Bericht, und ich muß noch meinen Kontrollgang machen. Wie lange wirst du hierbleiben?«

      Gacel hob die Schultern zum Zeichen, daß er es nicht wußte.

      »Ich verstehe. Bleib, solange du willst, aber halte dich von den Baracken fern! Die Wachen haben Befehl, ohne Vorwarnung zu schießen.«

      »Warum?«

      Sergeant Malik-el-Haideri lächelte vielsagend, dann wies er mit einer Kopfbewegung auf ein Holzhäuschen, das abseits der anderen stand. »Der Hauptmann hat keine Freunde«, erläuterte er. »Er hat keine, und ich habe auch keine, aber ich kann mich um mich selbst kümmern.« Mit diesen Worten ließ er Gacel stehen.

      Schon vertieften sich die Schatten zwischen den Palmen der Oase. Die Stimmen der Soldaten, die mit geschulterten Schaufeln müde und verschwitzt zurückkehrten, waren klar und deutlich zu vernehmen. Die Männer sehnten sich nach einer Mahlzeit und dem Strohsack, auf dem sie sich für ein paar Stunden ins Reich der Träume flüchten konnten, weit fort von Adoras, dieser Hölle auf Erden.

      Fast ohne Abenddämmerung färbte sich der Himmel zuerst rot und wurde dann schwarz. Überall in den Hütten wurden Karbidlampen angezündet. Einzig das Häuschen des Hauptmanns hatte Fensterläden, so daß niemand sehen konnte, was im Inneren vor sich ging. Bei Anbrach der Dunkelheit bezog ein Wachtposten keine zwanzig Schritte von der Haustür entfernt Stellung, das Gewehr im Anschlag.

      Eine halbe Stunde später ging die Tür auf, und eine hochgewachsene, schlanke Gestalt zeichnete sich im Türrahmen ab. Auch ohne die Sterne an der Uniform hätte Gacel den Mann wiedererkannt, der seinen Gast getötet hatte. Der Mann blieb ein paar Augenblicke lang ruhig stehen, atmete in vollen Zügen die Nachtluft ein und zündete sich eine Zigarette an. Im Schein der kleinen Flamme sah Gacel wieder in allen Einzelheiten dieses Gesicht und die stahlharten Augen, die so verächtlich geblitzt hatten, als jener Mann behauptet hatte, sei das Gesetz. Gacel fühlte sich versucht, zum Gewehr zu greifen und den Kerl mit einem einzigen Schuß zu erledigen, tat jedoch nichts dergleichen, sondern beschränkte sich darauf, den Mann zu beobachten. Dabei malte er sich aus, wie sich der Hauptmann wohl fühlen würde, wenn er wüßte, daß der von ihm erniedrigte und beleidigte Targi neben einem erlöschenden Lagerfeuer an einer Palme lehnte und darüber nachsann, ob er ihn, den Hauptmann, sofort umbringen oder ob er die Tat auf später verschieben sollte.

      Für all die Männer aus der Stadt, die es in die Wüste verschlagen hatte, eine Wüste, die zu lieben sie nie lernen würden, sondern die sie haßten und aus der sie gern um jeden Preis geflohen wären - für diese Leute waren die Tuareg nichts weiter als ein Bestandteil der Landschaft. Sie konnten nicht nur keinen Targi vom anderen unterscheiden, sondern waren auch nicht in der Lage, zwei langgestreckte Dünen mit ihren Wellenkämmen aus Sand voneinander zu unterscheiden, selbst wenn eine halbe Tagesreise zwischen diesen Dünen lag.

      Als Stadtmenschen hatten sie keinen Sinn für die Zeit, den Raum, die Gerüche und die Farben der Wüste. Genausowenig begriffen sie den Unterschied zwischen einem Krieger aus dem »Volk des Schleiers« und einem amahar vom »Volk des Schwertes«, oder den Unterschied zwischen einem amahar und einem Sklaven, oder den Unterschied zwischen einer echten, freien und starken targia und einer armen beduinischen Haremsklavin.

      Gacel hätte zu dem Hauptmann gehen und sich mit ihm eine halbe Stunde lang über die Nacht, die Sterne, den Wind und die Tiere der Wüste unterhalten können, ohne daß der Mann in ihm den »verfluchten, stinkenden Bettler« wiedererkannt hätte, der vor fünf Tagen versucht hatte, sich ihm zu widersetzen. Viele Jahre lang hatten die Franzosen vergeblich versucht, die Tuareg zum Ablegen des Gesichtsschleiers zu bewegen. Am Ende hatten sie sich eingestehen müssen, daß sie gescheitert waren und daß es ihnen nie gelingen würde, einen Targi vom anderen allein aufgrund der Stimme und der Gesten zu unterscheiden.

      Weder Malik noch der Hauptmann oder all die zum Sandschaufeln verurteilten Soldaten waren Franzosen, aber eines hatten sie gemeinsam: Sie kannten die Wüste nicht und verachteten ihre Bewohner.

      Als der Hauptmann seine Zigarette zu Ende geraucht hatte, ließ er den Stummel in den Sand fallen, grüßte lustlos den Wachtposten und schloß die Tür. Geräuschvoll schob er den schweren Riegel vor. Im Lager gingen nach und nach die Lichter aus.

      Bald lag die Oase in tiefem Schweigen da. Nur das Rauschen der Palmwedel in der leichten Brise war zu vernehmen; dann und wann heulte in der Ferne ein hungriger Schakal. Gacel wickelte sich in seine Decke, legte den Kopf auf den Sattel und warf einen letzten Blick auf die Baracken und die unter einem roh zusammengezimmerten Sonnendach aufgereihten Militärfahrzeuge. Wenig später war er eingeschlafen.

      Im Morgengrauen erkletterte er die fruchtbarste der Palmen und warf von oben büschelweise reife Datteln hinab. Er verstaute sie in einem Sack, füllte seine gerbas mit Wasser und sattelte sein Mehari, das geräuschvoll protestierte, denn gern wäre es noch länger am schattigen Brunnen geblieben.

      Die Soldaten kamen aus den Baracken, gingen in die Dünen, um zu pinkeln, oder wuschen sich im Wassertrog neben dem größten der Brunnen das Gesicht.