Eingang von Gacels khaima zeichnete sich eine schattenhafte Gestalt ab. Lailas Augen funkelten in der Nacht. Gleich darauf waren Reiter und Kamel verschwunden, als hätte der Wind sie wie einen Dornenbusch mit sich fortgetragen.
Noch ließ das fahle Licht des Morgengrauens auf sich warten, und Gacel mußte seine Augen anstrengen, um den Kopf seines Kamels zu erkennen, aber er brauchte nicht mehr Helligkeit. Er wußte, daß es im Umkreis von mehreren hundert Kilometern kein Hindernis gab. Der Instinkt des Wüstenbewohners und die Fähigkeit, sich mit geschlossenen Augen zu orientieren, wiesen ihm sogar in der finstersten Nacht den Weg.
Dies war eine Fertigkeit, die nur Männer wie er besaßen, Männer, die in der Sahara geboren und aufgewachsen waren. Ähnlich wie eine Brieftaube, ein Zugvogel oder ein Walfisch in den Tiefen des Ozeans wußte ein Targi stets, wo er sich befand und wohin er unterwegs war. Norden, Süden, Osten und Westen: Wasserstellen, Oasen, Sandpisten, Berge, »Leeres Land«, Dünentäler, steinige Ebenen ... Die weite Sahara mit ihrer ganzen Vielfalt spiegelte sich in den Tiefen von Gacels Gehirn, erzeugte eine Art Widerhall, aber er wurde sich dessen nie ganz bewußt.
Als die Sonne aufging, saß er noch immer auf seinem Mehari. Die Sonne stieg höher, bis sie über seinem Kopf stand. Ihre Kraft nahm rasch zu. Sie ließ den Wind verstummen, und ihr Licht prallte auf die Erde. Der treibende Sand kam zur Ruhe, die Dornenbüsche rollten nicht mehr hin und her. Eidechsen krochen aus ihren Höhlen. Die Vögel blieben unten am Boden. Sie wagten nicht mehr, sich in die Luft zu schwingen, als die Sonne den Zenit erreichte.
Der Targi brachte sein Kamel zum Stehen und ließ es niederknien. Dann pflanzte er sein langes Schwert und sein altes Gewehr in den Sand, um zwischen ihnen und dem Sattelhorn eine kleine Zeltplane aus grobem Tuch aufzuspannen.
Er flüchtete sich in den Schatten, lehnte den Kopf gegen die Flanke des weißen Kamels und war gleich darauf eingeschlafen.
Ein Geruch, der in der Wüste von allen Menschen am sehnlichsten herbeigewünscht wird, weckte Gacel und ließ seine Nasenflügel erbeben. Er schlug die Augen auf, rührte sich aber nicht. Er atmete tief und traute sich kaum, zum Himmel aufzublicken, denn er fürchtete, daß alles nur ein Traum war. Als er schließlich den Kopf nach Westen wandte, erblickte er weit hinten über dem Horizont eine große, dunkle, verheißungsvolle, lebenspendende Wolke. Sie war anders als jene weißen Wolken, die manchmal in großer Höhe von Norden her über den Himmel zogen und verschwanden, ohne die eitle Hoffnung auf ein bißchen Regen erfüllt zu haben.
Jene graue, tiefhängende, prachtvolle Wolke sah so aus, als enthielte sie das gesamte segensreiche Wasser der Welt. Sie war wahrscheinlich die schönste Wolke, die Gacel in den letzten fünfzehn Jahren gesehen hatte, die schönste seit dem großen Unwetter, das Lailas Geburt vorausgegangen war. Es hatte dazu geführt, daß die Großmutter dem Mädchen eine düstere Zukunft weissagte, denn der ersehnte Regen war so stark, daß er einen reißenden Strom bildete, der Zelte und Tiere mit sich fortriß, Nutzpflanzen vernichtete und eine Kamelstute ertrinken ließ.
R’Orab bewegte sich unruhig, verdrehte den langen Hals und richtete die bebenden Nüstern auf den Vorhang aus Wasser, der das Licht des Tages zerteilte und das Gesicht der Landschaft veränderte, während er rasch näher kam. Das Kamel brüllte leise, und dann drang aus seiner Kehle eine Art Schnurren, als wäre es eine riesige, zufriedene Katze. Gacel erhob sich langsam, nahm dem Tier Sattel und Zaumzeug ab und entledigte sich selbst seiner Kleidung, die er sorgsam über die dornigen Büsche breitete, damit sie möglichst viel Regen abbekamen. Barfuß und splitternackt wartete er darauf, daß die ersten Tropfen in den Sand fielen, bevor das Wasser wie ein reißender Bach herabstürzte und seine Sinne zuerst mit einem leisen Plätschern, dann mit einem donnernden Rauschen betörte. Er würde den Regen auf der Haut fühlen wie eine Liebkosung, im Mund die Frische und Reinheit des Wassers auskosten und den köstlichen Duft der feuchten Erde einatmen, während rings um ihn ein dichter Dunst vom Boden aufstiege. Da war sie endlich, die wunderbare, fruchtbringende Vereinigung von Himmel und Erde. Noch am selben Nachmittag würde die Sonne den schlafenden Samen der achab-Sträucher wecken, so daß die Pflanzen innerhalb kürzester Zeit die weite, ebene Fläche mit ihrem Grün überziehen und diese Gegend der Wüste verzaubern würden.
Allerdings wären sie schon nach ein paar Tagen wieder verblüht und würden abermals in einen langen Schlaf fallen, bis der nächste Regenschauer sie wiederum zum Leben erwecken würde. Doch vielleicht vergingen bis dahin erneut fünfzehn Jahre.
Wie schön er war, der wilde, ungebundene achab.In beackertem Boden, in der Nähe einer Wasserstelle oder unter der sorgsamen Pflege eines Bauern, der ihn tagtäglich bewässerte, wollte er nicht gedeihen. Er war wie der Geist der Tuareg: Ähnlich wie diese Menschen hatte der achab es fertiggebracht, die Jahrhunderte in der Stein- und Sandwüste zu überdauern, in einer Gegend, die von den meisten Menschen gemieden wurde.
Der Regen durchtränkte Gacels Haar und befreite seinen Körper von einer Schorfschicht aus Schweiß und Schmutz, die Monate, vielleicht sogar Jahre alt sein mochte. Er half mit den Fingernägeln nach, und dann suchte er sich einen flachen, porösen Stein, mit dem er seine Haut abscheuerte, bis sie immer heller wurde. Das Regenwasser, das an ihm herabrann, war fast indigoblau, denn die nicht sehr beständige Färbung seiner Kleidung hatte im Lauf der Zeit jeden Quadratzentimeter seines Körpers imprägniert.
Zwei lange Stunden stand Gacel so im Regen, fröstelnd, aber glücklich. Er mußte gegen die Versuchung ankämpfen, kehrtzumachen und nach Hause zu reiten, um den Regen zu nutzen. Er wollte Gerste pflanzen, die Ernte abwarten und sich im Kreis der Seinen jener wunderbaren Gabe erfreuen, die Allah ihm zu schicken geruht hatte. Vielleicht war der Regen ein Fingerzeig dafür, daß er daheimbleiben sollte, in seiner kleinen Welt. Vielleicht sollte er jene Beleidigung vergessen, von der ihn nicht einmal alles Wasser dieser dicken Regenwolke reinzuwaschen vermocht hätte. Aber Gacel war ein Targi, und sein eigenes Unglück wollte es, daß er wohl einer der letzten echten Tuareg des Flachlandes war. Nie würde er vergessen, daß man ihm einen Gast unter seinem eigenen Dach ermordet und einen zweiten mit Gewalt verschleppt hatte.
Sobald die Wolke nach Süden weitergewandert war und die Nachmittagssonne seinen Körper und seine Kleidung getrocknet hatte, zog er sich wieder an, sattelte das Kamel und setzte seinen Weg fort. Zum ersten Mal verschmähte er Wasser und Regen, Leben und Hoffnung. Er wandte sich von etwas ab, das sein eigenes Herz und das seiner Lieben noch vor zwei Tagen mit unbändiger Freude erfüllt hätte.
Bei Anbruch der Nacht suchte er sich eine kleine Düne, scharrte mit den Händen den noch feuchten Sand beiseite, bettete sich in die Kuhle und bedeckte sich fast gänzlich mit trockenem Sand, denn er wußte, wie kalt es kurz vor Tagesanbruch sein konnte. Dann würde der Wind die Wassertropfen, die noch auf den Steinen und dem dürren Gestrüpp glänzten, zu Rauhreif gefrieren lassen.
In der Wüste konnte die Differenz zwischen Mittagshitze und Morgenkälte kurz vor Sonnenaufgang bis zu fünfzig Grad betragen. Aus eigener Erfahrung wußte Gacel, daß jene Kälte dem unvorsichtigen Reisenden in die Knochen kriechen und ihn krankmachen konnte, so daß die schmerzenden Gelenke seines Körpers tagelang steif blieben und sich weigerten, den Befehlen des Willens unverzüglich Folge zu leisten.
Drei Jäger waren vor längerer Zeit in den Ausläufern des kargen Huaila-Gebirges erfroren aufgefunden worden. Gacel erinnerte sich noch an den Anblick ihrer Leichen. Die Männer hatten sich eng aneinandergekauert und waren so im Tode miteinander verschmolzen worden. Das hatte sich in jenem kalten Winter ereignet, als die Tuberkulose auch Gacels kleinen Sohn Bisrha hinweggerafft hatte. Die Gesichter der Toten schienen zu lächeln. Später, als die Sonne ihre Körper allmählich austrocknete, boten sie mit ihrer pergamentenen Haut und ihren gebleckten Zähnen einen makabren Anblick.
Dies war ein grausames Land, denn hier konnte ein Mann innerhalb weniger Stunden an Hitze, aber auch an Kälte sterben. Manch ein Kamel hatte schon tagelang vergeblich nach Wasser gesucht, um dann eines Morgens nach einem Unwetter in einem reißenden Strom zu ersaufen. Ja, dies war ein grausames Land, aber Gacel konnte es sich nicht vorstellen, in einem anderen zu leben. Es wäre ihm nie eingefallen, den Durst, die Hitze und die Kälte in dieser grenzenlosen Weite gegen die Bequemlichkeiten einer engen Welt ohne Horizont einzutauschen. Jeden Tag dankte er Allah, das Gesicht nach Osten gen Mekka gewandt, für die Gnade, daß er dort leben