Der Unbekannte stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete ihn verwundert.
»Franzosen?« sagte er. »Die Franzosen sind schon seit Jahren fort... Wir sind jetzt
unabhängig«, fügte er hinzu. »Die Wüste gehört nun freien, unabhängigen
Nationen. Wußtest du das nicht?«
Gacel dachte kurz darüber nach. Jemand hatte ihm irgendwann einmal gesagt, daß ganz weit oben im Norden ein Krieg tobte und daß die Araber versuchten, das Joch der roumis abzuschütteln. Aber er, Gacel, hatte dem keine Bedeutung beigemessen, denn die Anfänge jenes Krieges reichten in eine Zeit zurück, an die sich nicht einmal sein Großvater hatte erinnern können. Für ihn, Gacel, bedeutete Unabhängigkeit die Möglichkeit, allein durch das Land zu streifen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn aufzusuchen und ihm mitzuteilen, daß er einer neuen Nation angehörte.
Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, das wußte ich nicht.« Und ein wenig verwirrt fügte er hinzu: »Ich wußte auch nicht, daß es eine Grenze gibt. Wer könnte schon eine Grenze durch die Wüste ziehen? Wer will verhindern, daß der Wind den Sand von einer Seite auf die andere trägt? Wer könnte den Menschen untersagen, diese Grenze zu überschreiten?«
»Die Soldaten.«
Gacel blickte den anderen verblüfft an. »Soldaten? In der ganzen Welt gibt es nicht genug Soldaten, um eine Grenze in der Wüste zu bewachen! Außerdem haben die Soldaten Angst vor der -Wüste.« Er lächelte leise unter dem Schleier, der sein Gesicht bedeckte und den er in Gegenwart von Fremden nie ablegte. »Nur wir, die imohar, fürchten die Wüste nicht. Soldaten ergeht es hier wie verschüttetem Wasser: der Wüstensand verschluckt sie.«
Der junge Mann wollte etwas sagen, aber der Targi sah ihm an, wie müde er war,und drückte ihn zurück in die weichen Kissen.
»Du mußt dich schonen«, mahnte er. »Du bist noch sehr schwach. Morgen reden wir miteinander. Vielleicht geht es dann auch deinem Freund besser.« Er wandte sich um und warf einen Blick auf den Alten. Zum ersten Mal begriff er, daß der Mann wohl nicht so alt war, wie er zunächst geglaubt hatte, obwohl er weißes, schütteres Haar und ein zerfurchtes Gesicht mit tiefen Falten hatte. »Wer ist das?«fragte er.
Der andere zögerte sekundenlang. Dann schloß er die Augen und sagte langsam mit leiser Stimme: »Ein Weiser. Er erforscht die Geschichte unserer Ahnen. Wir waren unterwegs nach Dajbadel, aber dann hatte unser Lastwagen eine Panne.«
»Bis Dajbadel ist es sehr weit«, bemerkte Gacel, aber der junge Mann hörte ihn nicht mehr. Er war in tiefen Schlaf gefallen. »Sehr, sehr weit, Richtung Süden ...
Soweit bin ich noch nie gekommen.«
Lautlos verließ er das Zelt. Draußen im Freien hatte er plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Es war wie eine Vorahnung, und er hatte bisher noch nie so empfunden. An diesen beiden so harmlos wirkenden Männern war etwas, das ihn beunruhigte. Sie trugen keine Waffen, und ihr Äußeres deutete auf keine Gefahr hin, aber sie waren umgeben von einer unsichtbaren Aura der Furcht - und genau diese Furcht spürte Gacel.
»... erforscht die Geschichte unserer Ahnen ...«, hatte der Jüngere der beiden gesagt. Aber das Gesicht des anderen trug die Spuren von soviel Leid, wie sie sich auch während der Woche des Durstes und des Hungers in der Wüste nicht in seine Züge hätten graben können.
Gacel blickte sich in der Abenddämmerung um, als könnte er dort die Antwort auf seine Fragen finden. Der Geist, von dem er als Targi beseelt war, und die tausendjährigen Überlieferungen der Wüste sagten ihm unüberhörbar, daß er richtig gehandelt hatte, als er die beiden Fremdlinge unter seinem Dach aufnahm, denn Gastfreundschaft war das erste Gebot des ungeschriebenen Gesetzes, dem alle imohar gehorchten. Doch der Instinkt eines Menschen, der gewohnt ist, sich von seinen Vorahnungen leiten zu lassen, und der sechste Sinn, der ihn so viele Male vor dem Tod bewahrt hatte, flüsterten ihm ein, daß er ein großes Risiko eingegangen war und daß die beiden Männer den Frieden bedrohten, den er sich mit soviel Mühe erkämpft hatte.
Plötzlich stand Laila neben ihm, und seine Augen freuten sich an der süßen Gegenwart und der erblühenden Schönheit des Mädchens. Sie war halb Kind, halb Frau und hatte dunkle Haut. Den älteren Männern zum Trotz, die meinten, ein amahar dürfe nicht die Ehe mit einer Frau aus den Reihen der verachteten iklan- Sklaven eingehen, hatte er sie zu seiner Frau gemacht.
Sie setzte sich neben ihn, schaute ihn unverwandt aus ihren riesigen schwarzen Augen an, die stets voller Leben und geheimnisvoller Spiegelungen waren, und fragte mit leiser Stimme: »Du machst dir Sorgen wegen dieser Männer, nicht wahr?«
»Nein, nicht ihretwegen«, antwortete er nachdenklich, »sondern wegen etwas, das sie wie ein Schatten oder ein Geruch umgibt.«
»Sie kommen von weit her, und alles, was von weit her kommt, beunruhigt dich, weil meine Großmutter vorausgesagt hat, daß du nicht in der Wüste sterben wirst.«
Mit einer scheuen Gebärde streckte sie ihre Hand aus und berührte leicht die seine.
»Meine Großmutter hat sich oft getäuscht«, fuhr sie fort. »Bei meiner Geburt prophezeite sie mir eine düstere Zukunft, aber dann wurde ich die Frau eines Edlen, fast eines Fürsten.«
Gacel lächelte sie zärtlich an. »Ich erinnere mich an deine Geburt«, sagte er. »Es kann nicht viel länger als fünfzehn Jahre her sein ... Deine Zukunft hat kaum begonnen ...«
Es schmerzte ihn, sie traurig gemacht zu haben, denn er liebte sie. Als amahar durfte er sich zwar Frauen gegenüber nicht allzu weich zeigen, aber immerhin war sie die Mutter des letzten seiner Söhne. Deshalb öffnete er jetzt die Faust und umschloß ihre Hand mit der seinen.
»Vielleicht hast du recht, und die alte Khaltoum hat sich geirrt«, meinte er.
»Niemand kann mich zwingen, die Wüste zu verlassen und in der Ferne zu sterben.«
Sie schwiegen lange und ließen die Stille der Nacht auf sich wirken. Gacel fühlte, wie ihn erneut ein Gefühl des Friedens durchströmte.
Gewiß, die dunkelhäutige Khaltoum hatte ein Jahr im voraus die Krankheit prophezeit, die dann seinen Vater unter die Erde brachte. Sie hatte auch die große Dürre vorausgesagt, die die Brunnen versiegen und jeden Grashalm in der Wüste verdorren ließ, so daß Hunderte von Tieren starben, obwohl sie von Anbeginn an Durst und Trockenheit gewöhnt waren. Die alte Sklavin redete aber auch oftmals um des Redens willen, und ihre Visionen schienen häufig eher die Ausgeburt eines greisen Gehirns als echte Vorahnungen zu sein.
»Wer lebt am anderen Ende der Wüste?« brach Laila schließlich das lange Schweigen. »Ich bin noch nie über die Berge von Huaila hinausgekommen.«
»Menschen, viele Menschen«, antwortete Gacel. Er dachte über seine Erlebnisse in El-Akab und in den Oasen des Nordens nach. Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Dort gefällt es den Menschen, sich auf engstem Raum zusammenzuscharen oder in engen, übelriechenden Häusern zu wohnen. Sie machen viel Lärm und schreien sich grundlos an, sie bestehlen und betrügen sich und sind wie Tiere, die nur in einer Herde leben können.«
»Warum?«
Gern hätte er eine Antwort darauf gegeben, denn Lailas Bewunderung für ihn erfüllte ihn mit Stolz. Aber er wußte keine. Er war ein amahar, geboren und aufgewachsen in der Einsamkeit dieses großen, leeren Landes. Mochte er sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, so konnte er dennoch nicht begreifen, was die vielen Menschen zueinandertrieb und was es mit jenem Herdentrieb auf sich hatte, dem die Männer und Frauen anderer Stämme offenbar so bereitwillig nachgaben.
Gacel bewirtete mit Freuden alle seine Besucher und liebte es, mit anderen Menschen rund um ein Feuer zu sitzen, alte Geschichten zu erzählen und die kleinen Vorkommnisse des Alltags zu besprechen. Doch später, wenn die Glut langsam erlosch und das schwarze Kamel, das auf seinem Rücken den Schlaf herbeibrachte, lautlos und unsichtbar durch das Zeltlager schritt, begab sich ein jeder zu seinem abseits gelegenen Zelt, um mit sich allein zu sein, in tiefen Zügen zu atmen und sich an der Stille zu erfreuen.
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