A.H. Almaas

Essentielles Sein


Скачать книгу

das seid oder nicht.

      Wir gehen nicht von der Annahme aus, daß ein Selbst gefunden werden kann, oder daß man es, wenn es gefunden werden kann, beschreiben kann. Wir wollen untersuchen, wer ihr seid - ob es wirklich so etwas gibt, und wenn es so etwas gibt, was es ist und ob man es kennen kann. Ihr denkt wahrscheinlich: „Natürlich habe ich ein Selbst, und ich weiß, was es ist, oder wenn ich es nicht weiß, dann werde ich es eines Tages wissen.“ Ich sage euch also, geht nicht von dieser Annahme aus. Ihr sagt: „Moment mal, was ist dann noch übrig?“ Nichts ist übrig - das ist der Punkt.

      Ihr merkt, wir gebrauchen die Wörter „Ich“ und „Selbst“, und wir denken, fühlen und verhalten uns, als gäbe es hier etwas, daß unser „Selbst“ ist. Wir haben schon ein Gefühl oder eine Ahnung, daß es ein „Selbstsein“ (selfhood) gibt, daß es ein „Ichsein“ (me-ness) gibt. Jetzt wollen wir untersuchen, was es mit diesem Gefühl eines Selbst auf sich hat. Was ist dieses Gefühl, eine Person, ein Selbst, eine Identität zu sein? Worauf bezieht ihr euch, wenn ihr sagt: „Ich bin“, „Ich möchte“, „Ich mag“, „Ich mache“ oder „Ich mache nicht“?

      Ihr habt in der Vergangenheit vielleicht eine Erfahrung gehabt und dabei das Gefühl gehabt: „Das bin ich.“ Vielleicht hat das gestimmt, vielleicht nicht. Auch wenn es stimmt ist, daß ihr euch damals selbst erkannt habt, habt ihr jetzt vielleicht ein anderes Selbst. Wir wollen wissen, was eure Erfahrung jetzt ist. Wir wollen genau hier sein, genau in diesem Moment. Laßt uns erforschen, was wir glauben, statt es ungeprüft vorauszusetzen. Wenn ihr erfahren habt, was ihr als euer wahres Selbst wahrnehmt, dann kann es leicht sein, daß ihr denkt: „Ich habe mich selbst erfahren und das ist es. Von jetzt an werde ich immer glücklich sein.“ Gut, das kann sein, aber wir wollen wissen, wie es genau jetzt ist. Könnt ihr die Frage mit Bestimmtheit beantworten, ihr selbst in genau diesem Moment, wenn ihr fragt: „Wer bin ich?“

      Etwas, das uns bei unserer Untersuchung helfen kann, ist, das Gefühl von „Ich“, das Gefühl eines Selbst, mit dem zu verbinden, was man „Identität“ oder „Identifikation“ nennt. Herausfinden, wer ihr seid, heißt in erster Linie eure Identität finden. Ihr könnt die Verbindung zwischen Identität und Identifikation sehen, wenn ihr eure Erfahrung irgendeines Augenblicks betrachtet und seht, daß ihr euch genau in dem Moment mit etwas identifiziert, daß ihr euch für etwas Bestimmtes haltet. Ihr seid euch dessen, wofür ihr euch haltet, vielleicht nicht bewußt, aber in jedem Moment haltet ihr euch für etwas oder für jemanden.

      Wir wollen also untersuchen, für was oder für wen ihr euch in jedem Moment haltet, und es hinterfragen. Seid ihr das wirklich? In jedem Moment gibt es eine Identifikation, in gewissem Sinn das Empfinden eines Selbst: „Ich schaue zu“ oder „Ich sitze“. Wenn ihr „ich“ sagt, dann ist dieses „Ich“ an etwas gebunden. Ist das, woran ihr das „Ich“ festmacht, das, was ihr wirklich seid?

      Wenn ihr zum Beispiel meditiert – wer meditiert dann? Wer sitzt in diesem Moment? Seid eurer Erfahrung gewahr. Schaut, ob ihr diese Frage beantworten könnt. Was ist es, woran ihr das „Ich“ festmacht? Wer bin ich, der sitzt? Mit größter Wahrscheinlichkeit werdet ihr sehen, daß ihr das „Ich“ an eurem Körper festmacht. Es ist der Körper, der sitzt. Wenn ihr also sagt „Ich sitze“, sagt ihr dann damit nicht: „Ich bin der Körper“? Ihr haltet euch nicht für ein Gefühl oder eine Wahrnehmung, weil Gefühle nicht sitzen, weil der Geist (mind) nicht spazierengeht. Der einzige Teil, der sitzt, geht und sich bewegt, ist der Körper.

      Wir sehen, daß die Identifikation mit dem Körper mächtig und beständig ist. Sie ist viel subtiler und tiefer, als wir uns gewöhnlich vorstellen. Natürlich können sich manche Menschen nichts anderes vorstellen - „Was könnte ich denn sonst sein?“ Es ist nicht leicht, die Identifikation mit dem Körper aufzulösen, weil wir uns unser ganzes Leben lang für unseren Körper gehalten haben. Ich sage nicht, daß ihr irgendetwas tun müßt, um das zu ändern; ihr sollt euch nur bewußt sein, daß das der Fall ist. Seid ihr euch wirklich bewußt, daß ihr glaubt, euer Körper zu sein?

      Wenn wir „mein Körper“ sagen, wem gehört dann der Körper? Wenn ich „ich selbst“ (myself) sage, dann ist das genauer, aber was genau bedeutet das? Wer ist es, der einen Körper hat und ein Selbst hat? Wen meint ihr, wenn ihr sagt: „Ich habe einen Körper“? Was ist das „Ich“? Es macht keinen Sinn zu sagen: „Ich habe ein Ich“ oder „Selbst hat ein Selbst“. Gibt es ein großes Selbst, das ein kleines Selbst hat?

      Verwirrt euch das? Das ist gut. Ihr seid verwirrt, und die ganze Zeit habt ihr gedacht, ihr wüßtet. Ein Grund für diese Untersuchung besteht darin, euch zu zeigen, daß ihr nicht wirklich wißt.

      Seht euch jetzt selbst, wie ihr da sitzt und schaut. Wer schaut? Beobachtet jetzt einmal nur euch selbst, wie ihr sitzt und schaut. Was schaut? Was erfahrt ihr? Ihr sagt: „Also ich schaue durch meine Augen und denke in meinem Kopf.“ Was schaut mit euren Augen? Was denkt in eurem Kopf? Was glaubt ihr, was ihr seid?

      Ihr seid eine Präsenz, die da sitzt. Was ist die Präsenz, die ihr erfahrt? Hat sie eine Form? Sehr wahrscheinlich seht ihr gleich, daß die Form eurer Präsenz die Form eures Körpers zu sein scheint. Auch wenn ihr nicht glaubt, euer Körper zu sein, definiert die Form eures Körpers wenigstens, wer ihr seid. Wir wollen damit nicht sagen, daß diese Identifikation schlecht oder falsch ist. Das wissen wir nicht. Wir wollen einfach erforschen - ist das wahr?

      Ihr könnt die Untersuchung weiterverfolgen, indem ihr eure gegenwärtige Erfahrung betrachtet. Was ist für euch „ich“?, Was glaubt ihr in eurer Erfahrung genau dieses Moments was ihr seid? Wenn ihr euch bewußt werdet, daß ihr euch selbst für den Körper haltet, dann führt das Bewußtsein der Identifikation gewöhnlich zu deren Auflösung. Ihr fangt an zu sehen, daß ihr vielleicht doch nicht der Körper seid. Was seid ihr dann?

      Wenn ihr euch in diesem Moment nicht für euren Körper haltet, wofür haltet ihr euch dann? Ihr habt vielleicht ein Gefühl von Identität oder das Gefühl, daß ihr ein Wesen (entity) seid. Was ist dieses Gefühl? Ihr assoziiert es vielleicht mit eurem Geist (mind). „Es scheint ein Gefühl von einem Selbst zu geben, und das scheint in meinem Körper zu sein, aber es ist nicht mein Körper selbst.“ Was ist das Ich, das ein Selbst hat? Ist es ein Gefühl? Ist es eine Sinneswahrnehmung? Ist es ein Gedanke oder ein Strom von Gedanken, den ihr „Selbst“ nennt? Ist es eine emotionale oder mentale Reaktion, die ihr „Ich“ nennt? Oder ist es etwas, das mit der Vergangenheit verbunden ist? Haltet ihr euch für all das, was euch in der Vergangenheit widerfahren ist?

      Normalerweise definieren wir uns durch Erinnerungen: „Ich bin dann und dann geboren worden, mit diesen Eltern, unter diesem Sternzeichen und so weiter. Meine Mutter ließ mich im Stich; meine Mutter hat mich geliebt. Ich bin zur Schule gegangen, konnte sie nicht leiden und bekam trotzdem lauter Einsen. Ich habe erst mit 21 mit jemandem geschlafen, deshalb war ich frustriert. Ich wurde schwanger und hatte eine Abtreibung. Ich war verheiratet, aber das hat nicht gehalten – und so weiter.“ Stimmt’s? So definiert ihr euch. Könnt ihr euch euch selbst vorstellen, euch beschreiben, ohne solche Erinnerungen zu gebrauchen?

      All die Dinge, die geschehen sind, die ganze Sammlung, ist nicht von dem getrennt, wofür ihr euch haltet. Das mentale Gefühl von Identität und das emotionale Gefühl eines Selbst sind von all dem, was ihr erlebt habt, nicht zu unterscheiden. Es ist, als wäre alles, was ihr in eurem Leben erlebt habt - alle Ereignisse, Gefühle, Emotionen, Reaktionen, gute und schlechte Erfahrungen, eure ganze Geschichte -, von dem untrennbar, wofür ihr euch jetzt haltet. Eigentlich ist es das, wodurch ihr euch gewöhnlich kennt.

      Aber was hat das, wer und was ihr seid, mit eurer Geschichte zu tun? Eure persönliche Geschichte ist die eures Körpers. Wenn ihr sagt: „Ein Auto hat mich angefahren“ - wer wurde von einem Auto angefahren? Wenn ihr sagt: „Man hat mich im Stich gelassen“ – was ist für euch das, was eure Mutter im Stich gelassen hat? „Ich wurde geboren“ – was wurde geboren? Ihr bezieht all diese Ereignisse, all diese Erinnerungen auf euren Körper. Dieser Körper bewegt sich durch Raum und Zeit, und all diese Dinge sind ihm passiert. Entweder haltet ihr also den Körper für euch selbst, oder ihr nehmt das, was ihm passiert ist, und bildet ein amorphes Konstrukt, eine Art psychologische Identität, die euer gegenwärtiges Identitätsgefühl bestimmt. Und irgendwie habt