und scheinbar voraussetzungslosen Frische ihrer Vorgänger eine komplizierte Dialektik des Gefühls und eine Sprache in dunklen und sonderbaren Bildern bevorzugten. Auch die Dichtung des italienischen Neuen Stils ist dunkel; ihre Dunkelheit scheint weniger launenhaft, systematischer und in engerer Beziehung zu den Methoden der zeitgenössischen scholastischen PhilosophieScholastik; aber trotzdem sind die meisten und gerade die augenscheinlich schönsten dieser Gedichte so schwer zu deuten, daß manche Gelehrten auf die Idee verfallen sind, es handle sich um eine dechiffrierbare Geheimsprache, durch die gefährliche Gedanken den kirchlichen und politischen Mächten verborgen werden sollten. Auch DantesDante Jugendgedichte sind schwer verständlich; selbst einige der berühmtesten, die fast jeder kennt und in rein gefühlsmäßiger Weise deutet, scheinen weniger bequem zu interpretieren, wenn man sie neben einige andere hält, die etwas augenscheinlich ganz Ähnliches auf eine höchst sonderbare Weise ausdrücken. Immerhin unterscheidet sich DanteDante von vornhinein ziemlich stark von seinen Genossen. Wenn er vermutlich ebenso wie sie außer dem wörtlichen Sinn seiner Gedichte einen allegorischen SinnSensuslehre oder sogar mehrere Arten allegorischer Sinne meint, so ist doch der wörtliche Sinn oder die Anschauung nicht so oft in absurder Weise vernachlässigt wie bei den andern; der wörtliche Sinn gibt fast überall eine poetische Anschauung, und das etwa darunter Verborgene scheint weniger rational darunter verborgen als darin enthalten, so daß man es im wörtlichen Sinne bereits aufgenommen hat und es im Aufnehmenden zu wirken beginnt, bevor oder ohne daß man es exakt deutete. Darin offenbart sich die dichterische Kraft des Danteschen Genies, und ich wünschte nicht in der Weise mißverstanden zu werden, als wollte ich dem Einfluß VergilsVergil zuschreiben, was der natürlichen Anlage DantesDante verdankt wird. Allein diese wunderbare und alle Zeitgenossen überstrahlende Anlage zeigt sich auch in der Art, wie er die zu Gebote stehenden Bildungskräfte der Vergangenheit aufnimmt und sich nutzbar macht. Den anderen Dichtern des Neuen Stils bedeutete die Antike nichts, und den zeitgenössischen Gelehrten war sie nur ein durch mangelhafte Überlieferung getrübter Wissensstoff. Dies letztere war sie zunächst auch für DanteDante, der ausgeprägter und systematischer als die anderen Genossen des Neuen Stils sich zu einem Gelehrten entwickelte, und seine Gelehrsamkeit zeigt alle Merkmale des Bildungswesens seiner Zeit: Aufnahme der vorhandenen getrübten und zufälligen Überlieferung ohne Prüfung auf Echtheit und Wert, Unfähigkeit, sich die Voraussetzungen und die historische Lage der Antike vorzustellen, mittelalterlicheMittelalter Methode, jeden Text auf allegorische Weise zu deuten. Aber außerdem bedeuteten die antiken Dichter, und besonders VergilVergil, für DanteDante auch etwas anderes, nämlich eine Kunstlehre, und diese Bedeutung hatten sie damals für ihn allein. Die unablässige VergilVergil-Lektüre hatte in seiner für Sprache und Vers unvergleichlich empfänglichen Seele zum ersten Male nach langer Zeit die poetische Stimme VergilsVergil erweckt, und es war für ihn unmöglich geworden zu dichten, ohne diese Stimme zu hören. Sie gab ihm etwas, was dem Neuen Stil fehlte und dessen er doch sehr bedurfte, nämlich die Einfachheit. Seine ursprüngliche naive Reinheit des Ausdrucks hatte der Minnesang schon in der Provence verloren, er war längst zu einer traditionsbeladenen und gleichsam gelehrten Dichtung geworden, die äußerst subtile Vorgänge und Empfindungen in einer sehr kunstvollen und dabei durchaus konventionellen Terminologie darstellte. Im Neuen Stil Italiens hatte sich die Neigung zur Künstlichkeit und Dunkelheit noch gesteigert; die aristokratische Gesinnung der italienischen Dichter, die teils auf ihrer sozialen Stellung – sie stammten alle aus den führenden Kreisen ihrer Städte –, teils auf ihrer besonderen und nur wenigen zugänglichen Geistesform beruhte, dokumentierte sich in antithetischAntithese zugespitzten Formulierungen, in der Liebe zu dunklen Bildern und in der Bemühung, die Hauptbegriffe des Liebesdienstes fast scholastischScholastik zu definieren. DanteDante lernte von VergilVergil die Kunst des eigentlich dichterischen Gedankenausdrucks, in dem das Gedachte und poetisch zu Lehrende nicht mehr als ein sonderbares, die Dichtung störendes und lähmendes Fremdgebilde auftritt, sondern in das Mythisch-Dichterische eingeschmolzen und in der dichterischen Substanz selbst enthalten ist. Gegenüber einer viel verbreiteten modernen Anschauung, die vielleicht schon nicht mehr sehr modern ist, nach welcher das lehrende Element der Göttlichen Komödie als undichterisch auszuscheiden und die eigentlich poetischen Stellen davon loszulösen und als solche zu genießen wären, muß eindringlich betont werden, daß es solche im modernen Sinne unabhängig poetischen Stellen in der Komödie nicht gibt, daß für DanteDante die poetische Schönheit identisch ist mit der Erschauung göttlicher Wahrheit und daß darum das legitime Wissen schön, die legitime Schönheit wahr ist; und jeder Vers seines großen Gedichts ist von dieser Ästhetik getragen. Sie ist in der besonderen Danteschen Ausprägung aus der HochscholastikScholastik erwachsen, aber ihre Praxis, die aktuelle Durchdringung des Wissens mit dichterischer Form, verdankt er VergilVergil. Für ihn war VergilVergil ebensosehr ein Weisheitslehrer wie ein Dichter; wie weit er sich darin täuschte, ist hier gleichgültig, im einzelnen irrt er oft, im ganzen seiner Anschauung vielleicht nicht so sehr, wie wir zu glauben uns gewöhnthaben. Das im vergilischen Werk enthaltene Lehrgebilde – Zusammenhang der providentiellen Weltgeschichte in ihren Ursprüngen und Zielen, Lehre von der irdischen Mission Roms, Prophezeiung Christi – war aber in seinen Gedichten nicht dogmatisch oder allegorisch vorgetragen, sondern in die Anschauung erzählter Ereignisse verflochten; die Weisheit der Götter durchdrang die Bilder des Lebens, sie bedurfte keiner dogmatischen Mühe, um deutlich zu werden; und die hohe Kunst der Sprache, obwohl sie festen und aus der Überlieferung entsprungenen Gesetzen gehorchte, war in ihrer Wirkung einfach, sie gab keine Rätsel auf und bot sich dem ungelehrten, ja kindlichen Verständnis zwar auf andere Weise, aber in sich ebenso vollkommen wie der meditierenden Erkenntnis ihres tieferen Gehalts. Die Einfachheit im Erhabenen, das Fehlen alles nur spielerischen Tiefsinns, die vollendete Aufsaugung der Lehre im bedeutenden Geschehen erschienen DanteDante als Muster des Hohen Stils, den er erstrebte; unter vergilischem Einfluß befreite er die PoetikPoetik des Neuen Stils von der pedantischen und snobistischen Dunkelheit; wenn die Komödie bei aller Schwierigkeit der inhaltlichen Deutung und Bedeutung selten formal dunkel ist, wenn ihre Sätze und Satzverbindungen eindeutig und fest, ihre Metaphern fast überall konkret und anschaulich sind – so ist das zwar zunächst seinem Auge und seinem Griff zu danken –, doch daß diese Anlage ihren Weg fand und nicht wie die seines genialen Freundes Guido CavalcantiCavalcanti, G. im Abstrakten, Launenhaften und Fragmentarischen steckenblieb, ist das Verdienst der Stimme VergilsVergil. DantesDante Gegenstand und die Verschiedenheit des Temperaments haben ihm nicht gestattet, die leichte und durchsichtige Reinheit seines Meisters zu erreichen, den er an leidenschaftlicher Größe weit hinter sich läßt; aber die echte Hingabe an das Wirkliche und jene natürliche Ordnung, die den Sätzen das Gepräge des Notwendigen, Unveränderlichen, einfürallemal Gefügten gibt, ist beiden gemeinsam.
Es gab noch eine andere Seite des vergilischen Werkes, die eine natürliche Verwandtschaft mit dem MinnesangMinnesang, und gerade zu seinen späteren, stärker reflektierenden Formen begründete: das ist der Roman der DidoDidoroman. Das Altertum hat den sentimentalischen und ans Übersinnliche streifenden Liebesbegriff, den der Minnesang schuf, nicht gekannt; es ist in der Darstellung der Liebe, die ihm der mächtigste der Triebe, aber doch nichts als ein Trieb war, natürlicher, unpersönlicher und kälter – selbst der Liebeswahnsinn ist in der Antike nicht gefühlvoll. Die Geschichte Didos in der Aeneis macht eine Ausnahme, oder vielmehr sie bereitet die spätere Wandlung vor. Das Persönliche, Sentimentalische und Romanhafte ihrer Liebestragik stand der hohen Minne weit näher als etwa die Liebesdichtung OvidsOvid – zugleich aber wendet die Wirkung der Geschichte Didos den Minnesang zurück zum Konkreten und Persönlichen. Im Neuen Stil war von dem eigentlichen Gegenstand, der Liebe, kaum noch etwas Wirkliches übrig geblieben, sie verbarg sich vollkommen unter Abstraktionen und war so stark sublimiert, daß ihre Substanz sich verflüchtigte; die Episode von Francesca da RiminiFrancesca da Rimini konnte nur ein Dichter schreiben, dem das vierte Buch der Aeneis den Schlüssel solcher Kunst gegeben hatte.
Doch VergilVergil ist nicht nur DantesDante Lehrer und Meister in der Dichtung, er ist auch sein Führer durch die Unterwelt und auf dem Berg der Buße und damit eine der drei Hauptfiguren des großen Gedichts. Er ist es, der dem verirrten und bedrängten DanteDante erscheint, um ihn auf dem Wege durch die Unterwelt ans Licht zu führen; ihn hat Beatrice aus dem Limbo, dem Sitz der heidnischen Helden und Weisen, zu dieser Rettungstat gerufen. Welch sonderbare Vorstellung für unser Gefühl! Um einen Christen, der den rechten Weg verloren hat, zurückzuführen und ihn für die ewige