Erich Auerbach

Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe


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Dichter: die ganz einzigartige Stellung VergilsVergil im MittelalterMittelalter, von der wir oben gesprochen haben, wird in dieser Mission deutlich, und in der Rolle, die ihm DanteDante in der Komödie zuweist, geschieht eine Synthesis und ein Ausgleich all der Sagen und Überlieferungen, mit denen dreizehn Jahrhunderte seine Person umgeben und gleichsam zugedeckt hatten; die Person selbst wird wieder eine konkrete Einheit, zwar unleugbar sehr verschieden von dem historischen Urbild, aber doch aus ihm erwachsen, eine historische Wandlung jenes Urbilds, in der es deutlicherhalten bleibt.

      In der Komödie ist VergilVergil zunächst ein Weiser: sogar der Nimbus des magischen Zauberers, der populäre Volksglaube, ist geblieben, denn VergilVergil weiß den Weg in die Unterwelt, er kennt die Geister der Tiefe und hat Macht über sie. Aber solche Macht ist ihm nun vom Christengott anvertraut, damit er die christliche Mission der Rettung einer Seele vorbereiten kann. Was die Sibylle seinem Helden an geheimer Weisheit überlieferte, in seinem sechsten Buch der Aeneis, aus dem DanteDante viele mythische Motive übernahm, das wirkt nun in der Ordnung Gottes; obgleich er nicht zu den Erlösten gehört, denn ihm fehlte auf Erden der Glaube, wird er doch der hohen Aufgabe würdig befunden, ja er ist der einzig dazu Prädestinierte, weil er als einziger Heide mit der Einsicht in die rechte irdische Ordnung die Vorausahnung der Wiedergeburt durch Christi Erscheinen verband – selbst im Dunklen, aber die Nachfolgenden erleuchtend. Darum repräsentiert er besser und vollkommener als irgendwer sonst die ewige Weisheit Gottes, wie sie sich im Gange der Weltgeschichte dokumentiert. Von Anbeginn an, so sagten wir schon oben, ist nach DantesDante Lehre Rom auserwählt zum Haupt der Welt und der Kaiser zum Weltherrscher; Christus war erschienen, als die römisch-kaiserliche Weltherrschaft fest gegründet war; diese politische Form, die römische Universalmonarchie, verwirklicht die irdische Gerechtigkeit, den Frieden auf Erden, sie ist also gleichsam Voraussetzung und Vorbedingung des himmlischen Reiches. Was irdische Weisheit und Gerechtigkeit vermögen, ist in ihr aktualisiert; wenn zu ihr der Glaube an den Erlöser, die christliche Liebe und die Hoffnung auf die ewige Seligkeit hinzutreten, wie sie durch die Offenbarung und die Menschwerdung Christi gegeben sind, so ist der ideale Zustand der Erdenwelt erreicht, und die Menschen leben in der wahren, gottgewollten Ordnung, die ihren ewigen Heilszustand vorbereitet – während der Abfall von der kaiserlichen Friedenseinheit der Welt die Menschheit in rechtswidrigem Zustand, in Ungerechtigkeit leben läßt, bis in alle Klassen und Lebenskreise die Ordnung stört und also auch das Seelenheil des einzelnen in Gefahr bringt. In diesem politischen System, das sich aus der damaligen Lage erklärt und das seine Spitze gegen die Weltherrschaftsgelüste des PapsttumsPapsttum und gegen den Partikularismus der Fürsten und Städte richtet, hat VergilVergil einen wichtigen Platz; als Dichter des ImperiumsImperium Romanum und der kaiserlich-römischen Mission, als Prophet von Christi Welterneuerung ist er das Symbol der Weisheit als Einsicht in die rechte irdische Ordnung und Ahnung der überirdischen – und damit der gegebene Führer auf dem Wege nach oben, dem Wege der Vorbereitung, bis an die Grenze des himmlischen Reiches, das nur die Offenbarung und der Glaube zu erschließen vermögen.

      Damit ist seine Rolle in der Komödie im wesentlichen umschrieben – freilich das System der vielfachen miteinander verknüpften Bedeutungen kaum angedeutet –, das würde eingehende Interpretationen verlangen und sehr schnell in das Dickicht der Fachpolemik führen. Aber VergilVergil ist ja nicht nur Träger einer Bedeutung, nicht nur Symbol eines erhabenen und weitreichenden Gedankens – er ist in der Komödie ein lebendiger Mensch, obgleich de iure der Schatten eines Verstorbenen; das Bild seines persönlichen Wesens, wie es DanteDante erschien, wird überaus deutlich.

      DanteDante besaß in einem sehr hohen Grade das Gefühl der Dankbarkeit, ja sogar das Bedürfnis, dankbar zu sein – besonders gerade denen gegenüber, denen er etwas Geistiges verdankte; es ist dies eine Form jener romanischen Traditionsehrfurcht, der vergilischen pietaspietasvergilische. Davon zeugen in der Komödie die Szene mit Brunetto LatiniLatini, B. und die Begegnung mit den Dichtern Guido GuinizelliGuinizelli, G. und Arnaut DanielDaniel, A.; auch viele andere Stellen und vor allem die Worte, mit denen er im Anfang des Gedichts den Retter VergilVergil begrüßt. Aber vielleicht ist von allen diesen Dingen am zartesten und schönsten die Liebe, mit der er sich hier den Gegenstand seiner Dankbarkeit aus dem Dunkel der Zeiten zu rekonstruieren versucht. O anima cortese mantovana, so redet ihn Beatrice an, und diese cortesiacortesia, die große Tugend der Genossen des Neuen Stils, erfährt in VergilsVergil Person eine Ausdeutung weit über die Grenzen dessen, was sie in der Terminologie der Liebesdichter gewesen war. Sie bedeutet die innere Würde, die stets bereit ist zum Guten, obgleich ihr verwehrt ist, seine Früchte zu genießen – denn VergilVergil ist ausgeschlossen vom Reich Gottes. Was er für DanteDante und damit für das Reich Gottes tut, das geschieht aus der von Einsicht und Bescheidenheit genährten cortesia, einer selbstlosen und ganz autonomen Größe des Herzens, die keinen Lohn erhofft als das eigene Bewußtsein und die Billigung der Guten. Mehr als irgendwer sonst in der Komödie verdankt er seine Einsicht und Tugend sich selbst; Mut und Milde des Herzens, Maß und Festigkeit des Urteils, königliche und zugleich demütige Weisheit bilden in ihm eine in jedem Wort und jeder Geste neu sich offenbarende väterliche Humanität; die Einfachheit eines Menschen, der die höchste Stufe menschlicher Bildung erreicht hat, dieselbe vollendete Einfachheit, die im vergilischen Werk uns bezaubert, hat DanteDante seinem Bilde VergilsVergil gegeben, und darum ist es, trotz aller sonderbaren Züge mittelalterlichen Irrtums, im Innersten wahr. Es hat DanteDante nicht genügt, die gegenseitige Liebe, die ihn mit seinem Meister verband, an vielen Stellen unmittelbar zum Ausdruck zu bringen; er hat noch eine Gestalt geschaffen, die in einem ähnlichen Verhältnis zu VergilVergil steht wie er selbst, um in der Begegnung der beiden die Charaktere und die Beziehung zwischen ihnen gleichsam in einem Spiegel aufleuchten zu lassen. Die Gestalt ist StatiusStatius, der Dichter der Thebais, aus der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Er trifft die beiden Jenseitswanderer im fünften Kreis des Purgatorio; er kennt sie nicht und weiß also nicht, daß der Schatten VergilsVergil vor ihm steht. Auf die Frage nach seinem Geschick antwortet er mit dem Lobe VergilsVergil, dem er seinen Ruhm als Dichter und seine (von DanteDante erdachte) heimliche Bekehrung zum Christentum verdanke. VergilVergil winkt DanteDante zu schweigen; doch eine unwillkürliche Bewegung DantesDante hat StatiusStatius die Wahrheit offenbart, und er kniet vor VergilVergil nieder. Bruder, sagt VergilVergil, tu das nicht; du bist ein Schatten, und einen Schatten siehst du. Und StatiusStatius antwortet, indem er sich erhebt: Mögest du das Maß meiner Liebe zu dir daran erkennen, daß ich unsere Nichtigkeit vergesse, und vor einem Schatten niederknie wie vor dem lebenden Menschen.

      Dante’s prayer to the Virgin [Paradiso, XXXIII]Lobrede and earlier eulogies (1949/50)1

      In memoriam Eduard NordenNorden, E.

      I

      The structure of DanteDante’s famous text is very similar to a classical form of prayerLobrede, described by Eduard Norden in his book Agnostos Theos2 as der Du-Stil der Prädikation.3 DanteDante’s text begins with an invocation composed of several members:

      Vergine madre, figlia del tuo figlio,

      umile ed alta più che creatura

      termine fisso d’eterno consiglio;

      it continues with an enumeration of Mary’s accomplishments and virtues; this enumeration was called in Greek tradition aretalogyAretalogie or eulogy, in Christian usage doxologyDoxologie. It is constructed in an anaphoricalAnapher form with ‘thou’:

      Tu sei colei che l’umana natura

      nobilitasti sì, che il suo fattore

      non disdegnò di farsi sua fattura.

      Nel ventre tuo si raccese l’amore

      per lo cui caldo nell’eterna pace

      così è germinato questo fiore.

      Qui sei per noi meridiana face

      di caritade, e giuso intra i mortali

      sei di speranza fontana vivace.

      Donna, sei tanto grande e tanto vali,

      che