Landsitz bietet, geistert durch Žižeks Plädoyer für einen neuen Krisenkommunismus (2020: 77). Defoe (1995) schildert, wie im Pestjahr 1665 „the richer sort of people“ eilig London verlässt, ungeachtet der „unhappy condition of those that would be left in it“; zugleich meditiert sein Erzähler über die egalitäre Dimension der Seuche, die „poor and rich“ Seite an Seite „into the common grave of mankind“ schickt.
„… the plague is timeless“? Pandemieliteratur zwischen Mythos und Medizin
„Yes the plague is timeless […]“ (Salcedo 2020: 147): Historisch deckt eine generische „PLAGUE“ (Shelley 2006) ein breites epidemisches Spektrum ab. Weder bei der Pest von Athen, die Thukydides im zweiten Buch seines zu Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. verfassten Peloponnesischen Krieges schildert, noch bei der Antoninischen Pest, die das Römische Reich in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. heimsucht, dürfte es sich um die Pest stricto sensu gehandelt haben; auch die mittelalterliche „pestilenza“ umfasst wahrscheinlich sehr unterschiedliche Krankheiten (Eco 1975: 282). Über diesen polyvalenten Begriff wird eine lange Tradition aktualisiert, die die Funktion von Literatur als Archiv auch der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte illustriert.
Seit der Antike entfalten sich Epidemieliteratur und Erudition in Interaktion: Dies gilt für Lukrez, der Thukydides’ Beschreibung der Athener Pseudo-Pest im sechsten Buch seines Lehrgedichts De rerum natura (1. Jh. v. Chr.) aufgreift; Girolamo Fracastoro, der mit seinem Konzept des contagium vivum die moderne Epidemiologie begründet (De contagione et contagiosis morbis et eorum curatione, 1546), versifiziert in Syphilis sive Morbus Gallicus (1530) seine medizinischen Erkenntnisse (Fabre 1998: 15, 118f.). Auf wissenschaftliche Expertise setzt auch die Populärliteratur der Gegenwart; so berät das Lilloiser Pasteur-Team Franck Thilliez bei der Kreation jener Influenzamutation, die in Pandemia (2015) das Terrain für den ultimativen bioterroristischen Coup bereitet: den versuchten Re-Start einer Pestpandemie, ausgehend von einem Pariser Kostümfest, das der Attentäter in der Maskerade eines langgeschnäbelten Pestdoktors besucht.
Über die Jahrhunderte liefert die Belletristik so manchen gesellschaftskritischen Kommentar. Alessandro Manzoni integriert in den zweiten Band seiner Promessi sposi eine Digression zur Mailänder Pestepidemie 1630, die – vom „verstockte[n] Leugnen“ über sabotiertes Contact-Tracing bis zum Konspirationsnarrativ – frappierend aktuell anmutet. Manzoni kritisiert die inadäquate Reaktion der Autoritäten, aber auch das „Benehmen der Bevölkerung“ in ihrer „stumpfsinnigen, tödlichen Zuversicht“; pointiert seine Analyse der heute digital multiplizierten „Masse allgemeinen Aberwitzes“, die „Erdichtungen der ungelehrten Menge“ und „der gebildeten Leute“ amalgamiert. Klassische Literatur scheint allerlei Irrglauben zu authentifizieren: „[…] man führte den Livius, Tacitus, Dio, was sage ich? Homer und Ovid und viele andere Alte an […].“ Mit ironischem Blick auf das vorhandene Corpus skizziert der Autor das Projekt einer konsequent aufbereiteten „Geschichte der Pest“: „[…] die Berühmtheit der Bücher hängt doch eben von so vielen Dingen ab!“
Zwischen wissenschaftlicher Dokumentation und kreativer Emanzipation entsteht die moderne Epidemieklassik: Wie Manzoni greift Camus mittlerweile etablierte Topoi auf (so das anfängliche Versagen der Behörden, die Scheu vor dem Wort ‚Pest‘, die ambivalente Rolle der Ärzteschaft); im Rahmen seiner Recherchen konsultiert er u. a. die Werke des Epidemiologen Adrien Proust, Vater des Autors der Recherche du temps perdu. Unter pittoresker Ausschmückung historischen Materials schildert Jean Gionos Le Hussard sur le toit (1951) die Choleraepidemie in der Provence 1832; mit seiner Filmversion (1995) setzt Jean-Paul Rappeneau Gionos z. T. fiktives Krankheitsbild auf der Leinwand um. Die Große Pest von Marseille 1722 evoziert Marcel Pagnols posthum publizierte Novelle Les Pestiférés, 2019 als Comic adaptiert; zu einer Zeit, da die Kontroverse zwischen Miasmatikern und Kontagionisten in vollem Gange ist (Fabre 1998: 117–123), setzt Maître Pancrace auf die antike Autorität: War nicht schon der „historien grec Thucydide“ der Meinung, gegen die Pest seien „la flamme et la fuite“ die einzigen „vrais préservatifs“?
An Schrecken verliert die Pest mit der Entdeckung Alexandre Yersins, der 1894 das nach ihm benannte Bakterium Yersinia pestis identifiziert. Als wissenschaftlichen Abenteuerroman erzählt Yersins Parcours Patrick Deville in Peste & choléra (2012): Aus der „bataille scientifique“ (2013: 118) mit seinem Konkurrenten Kitasato Shibasaburō, Schüler Robert Kochs, geht Yersin ironischerweise dank mangelhafter Ausstattung als Sieger hervor. Seine anlässlich der Hongkonger Pestepidemie 1894 angestellten Studien dokumentiert er in einem knappen Artikel für die Annales de l’Institut Pasteur; „fantôme du futur“ (17), begleitet der Erzähler Yersin bis zum Zweiten Weltkrieg, da eine metaphorische „peste brune“ die Welt bedroht (11).
Für eine heutige Leserschaft hält eine historisch fokussierte Epi-/Pandemiebelletristik eine optimistische Botschaft bereit: Im Zuge einer literarisch verarbeiteten Erfolgsgeschichte werden Medikamente und Vakzine entwickelt, Krankheiten besiegt. Zugleich reflektiert das Genre archaische weltanschauliche Relikte, deren Reaktivierung die Krisensituation favorisiert; diese Spannung illustriert Philip Roths Nemesis aus dem Jahr 2010.
Wider die „tyranny of contingency“? Philip Roths Nemesis
„Polio is polio – nobody knows how it spreads“: Rund um eine weitere „mysterious disease“ dokumentiert Philip Roths letzter Roman Nemesis (2010: 31, 103) ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Die älteren Figuren erinnern sich angesichts der Polioepidemie im Newark des Jahres 1944 an „its frightening precursors“, an eine Ära, da „whooping cough victims“ eigene stigmatisierende „armbands“ zu tragen hatten, da in Ermangelung eines Vakzins Diphtherie „the most dreaded disease in the city“ war (89); Anlass zur Sorge gibt auch Malaria, ebenfalls noch „an unstoppable disease“ (4). Mit Malariaimpfungen wird ab 1948 experimentiert; dank der Entwicklung zweier Poliomyelitisvakzine 1955 und 1960 kann die Krankheit global zurückgedrängt werden.
Zu spät für Roths Helden Bucky Cantor, der als Jugendsporttrainer zum noch asymptomatischen „healthy infected carrier“ (236) wird und sich im Nachhinein als neue „Typhoid Mary“ anklagt (248); dies mit Bezug auf die unter diesem Spitznamen in die Medizingeschichte eingegangene Mary Mallon, die als selbst nie erkrankte Typhusträgerin – und von Beruf ausgerechnet Köchin – in New York 1900–1915 Dutzende von Menschen infiziert. Als einer der Schützlinge Cantors war auch Erzähler Arnie Mesnikoff „unfortunate enough to get polio eleven years too soon for the vaccine“ (249). Mit seinem sportlichen Engagement partizipiert der Protagonist, der unter seiner Wehrdienstuntauglichkeit und erzwungenen Nichtteilnahme am Zweiten Weltkrieg leidet, an einer Mission der Kontersozialisation jüdischer Kinder – d. h. v. a. jüdischer Jungen, Nemesis bleibt ein männlich fokussierter Roman – zu auch körperlicher Courage und Kraft. Die vom „Board of Health“ zunächst geleugnete „epidemic of poliomyelitis“ (1f.) provoziert freilich eine massive antisemitische Reaktion (192f.); der Stadtteil verwandelt sich in ein neues Ghetto, während die Community in Gestalt der „colored cleaning women“ ihre eigenen Sündenböcke identifiziert (82).
Wie bei Camus erscheint die Epidemie als Zuspitzung der conditio humana in ihrer Absurdität: „There is none“, antwortet Bucky dem Vater des ersten toten Jungen, als jener verzweifelt nach der „fairness in that“ fragt (47). Schon beim Begräbnis richtet sich sein Zorn „against God, who made the virus“ (127), und dessen mit „the very existence of polio“ inkompatible Glorifikation (75). Nach seiner Erkrankung und rekonstruierten Rolle als fataler ‚Pfeil‘ aus dem Köcher der Rachegöttin Nemesis rebelliert er gegen jene „tyranny of contingency“ (243); als Zweifaltigkeit eines „a sick fuck and an evil genius“ in sich vereinenden Gottes resümiert der Erzähler Buckys Lösung des Theodizeeproblems (265). „There is an epidemic and he needs a reason for it. He has to ask why. Why? Why?“ – so die Schlüsselfrage selbstdestruktiver Sinnstiftung, die der Atheist Arnie als „stupid hubris […] the hubris of fantastical, childish religious interpretation“ verwirft (265), bevor er die eigene Argumentation