Meinhard Saremba

"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!"


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Tannhäuser (die Liszt in seiner Eröffnungsspielzeit in Weimar ins Programm nahm). Zudem hatte Moritz von Schwind 1854/55 eine Reihe neuer Fresken im Palas der Wartburg geschaffen, die Momente aus der thüringischen Geschichte zeigen, insbesondere ikonische Szenen aus dem Leben der Heiligen Elisabeth sowie den »Sängerkrieg«. Auf Initiative des Deutschritterordens war Elisabeth von Thüringen kanonisiert worden und schon bald sollte Liszt beginnen, mit seiner Legende von der Heiligen Elisabeth eine verklärende Kantate über sie zu schreiben. Der Ungar streckte – wie der Orden und die katholische Kirche – seine Fühler überallhin aus. Kurz vor seinem Amtsantritt versicherte er, »bescheiden meine Bestrebungen an Weymars ruhmreiche Überlieferung anzuknüpfen«.58 Damit reihte er sich – ein willkommener Nebeneffekt – in eine glorreiche Tradition ein: Zwei Jahrzehnte nach Goethes Ableben sah man es als dringend erforderlich an, sein Wirken sowie jenes von Schiller, Herder und Wieland weiterzuführen. Eine geplante Nationalstiftung der Künste sollte die finanziellen und konzeptionellen Grundlagen liefern. Dass ein ungarischer Komponist, eine in der Ukraine geborene Fürstin und die russische Zarentochter Maria Pawlowna Romanowa als Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach sich für die deutsche Kultur einsetzten, erklärt sich durch die gewaltige Wertschätzung, die diese genoss. Deutschland »liegt in der Mitte Europas«, hieß es in einer 1851 in der ostthüringischen Residenzstadt Altenburg erschienenen Enzyklopädie. »Macht man für Europa als Charakter die Mäßigung, Vermittlung u. Vielseitigkeit geltend, so erscheint D. in allen Verhältnissen als der eigentliche Repräsentant Europas.«59 Der Mitherausgeber Heinrich August Pierer war 1813 an der Völkerschlacht bei Leipzig und 1815 an der Schlacht bei Waterloo beteiligt, um Europa von dem napoleonischen Terror zu befreien. Seine Generation beschwor die Idee eines geeinten Deutschlands, lange bevor es ein solches Staatsgebilde wurde. Dies waren Ideale, die auch die Schumanns und Brahms teilten.

      An sich wären sie zusammen mit Joachim für Liszt die geeigneten Gesinnungsgenossen gewesen. Doch ästhetisch trennten diese so unterschiedlichen Künstlertemperamente letzten Endes Welten. Ermuntert von Carolyne zu Sayn-Wittgenstein begann Franz Liszt in Weimar damit, vage Ideen zu großen sinfonischen und geistlichen Werken auszuarbeiten. Dabei erschien ihm die »sinfonische Dichtung« am ehesten geeignet. Seine caesarische Sinfonik, die sich mit monolithischen Werkungetümen in Themenkompositionen wie einer Faust- und einer Dante-Sinfonie sowie Prometheus, Mazeppa und Orpheus manifestierte, inspirierte einen Komponisten wie Felix Draeseke 1860 sogar zu einer gewaltigen Tondichtung mit dem Titel Julius Cäsar. Brahms stellte Werken dieser Art im Laufe seines Lebens eine von der Philosophie und Literatur der Antike inspirierte »panta rhei«-Dramaturgie gegenüber: Alles fließt, oder wie Platon es in dem Dialog Kratylos (402a) umriss, »alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln«. Im achten Lied seines Opus 57 vertonte Brahms die für ihn programmatischen Zeilen »in den Adern quillt / Leben und verlangt nach Leben« – auch in seiner Musik pulsiert alles und wird mit unablässigen Bewegungsimpulsen lebendig erhalten. Nach diesen Prinzipien gestaltete er die Themenwahl und -verarbeitung in allen seinen Werken, in denen es nur die Dinge an sich gibt – Variationen aller Art, Ouvertüren zu den Themen Fest und Tragik, Vokalwerke über Liebe, Schicksal, Triumph und Tod –, dazu viel Humor und Drama, aber nie hohles Pathos. Brahms bevorzugte eine Kunst, die Clara Schumann einmal als »hübsche, fließende Musik« charakterisierte.60 In einem Brief an Joachim beschrieb er in seiner Stellungnahme zu dessen neuer Konzertouvertüre einmal seine Vorstellungen damit, dass Musik nicht »schwerfällig« sein dürfe, sondern man »so Schlankes, schön Gegliedertes« schreiben solle, denn: »Muß man nicht dahin kommen, auch das Tiefsinnigste schön und dem künstlerischen Ohr angenehm auszusprechen?«61

      Auch Joseph Joachim, am Beginn seiner Laufbahn noch Konzertmeister in Liszts Weimarer Orchester und mit dem Maestro per Du, spürte eine zunehmende Entfremdung und überwarf sich mit dem selbstverliebten Virtuosen. Joachim vermochte zwar der Musik von Berlioz und Wagner noch etwas abzugewinnen, allerdings brachte er den »sinfonischen Dichtungen« von Liszt eher Skepsis entgegen. Aufgrund seiner führenden Rolle im Orchester hatte Liszt Joachim aktuelle Kompositionen gezeigt und vorgespielt, um seine Meinung zu hören. »Trotz oftmaligen Hörens konnte er ihnen nicht nur keine Sympathien abgewinnen, sondern die Abneigung vor denselben steigerte sich im Laufe der Zeit bis zum Widerwillen«, schilderte der Joachim-Vertraute Andreas Moser die Einstellung seines Lehrmeisters. »Über Liszts musikalische Impotenz, die Armut seiner Erfindung und den gänzlichen Mangel an schöpferischer Kraft würde er schliesslich noch weggesehen haben, denn Gedankenreichtum, musikalische Erfindung und schöpferische Gestaltungskraft müssen angeboren sein; sie können durch Studium, Erziehung und Ausbildung nur weiter entwickelt, zu künstlerischer Reife gebracht werden. Dass aber das Nichtvorhandensein dieser notwendigen Eigenschaften durch den raffiniertesten Aufwand von blendenden Orchestereffekten verdeckt werden, eine unerhört prätenziöse mise en scene den Hörer anweisen sollte, innere Hohlheit und Gedankenlehre für höhere künstlerische Offenbarungen zu nehmen, das war es, was Joachim so heftig von den Lisztschen Kompositionen zurückstiess.«62 Man darf davon ausgehen, dass diese drastischen Ausdrücke auch bei den persönlichen Gesprächen über andere Musiker verwendet wurden. Joseph Joachim, Clara Schumann und Johannes Brahms waren im privaten Kreis in ihrer Wortwahl nie zimperlich. Die drei hatten es mit Musikerkreisen zu tun, die ihre Sache mit einem beinahe sektenhaften Eiferertum vorantrieben. Brahms’ Bezeichnung von Liszt »mit all seinen Aposteln (auch Reményi)«63 brachte die Sache auf den Punkt. Nach außen wahrte man zumeist eine Fassade des gesitteten Betragens, doch wie es im Inneren aussah, das offenbarte sich erst, wenn die angestauten Emotionen sich wie in den Klaviertrios von Johannes Brahms und Clara Schumann oder Joseph Joachims Konzertouvertüre zu Hamlet entluden. Als Brahms Joachim kennenlernte, feilte dieser gerade an der Fertigstellung dieses Werks, das die Schumanns durch ihren »tiefen Kompositionsernst« beeindruckte.64 Den Freunden dürfte in den kommenden Jahren sicherlich aufgefallen sein, dass Liszt mit zunehmender Entfremdung kompositorisch aufrüstete: Bei der Themenwahl konterte er fünf Jahre nach Robert Schumanns Uraufführung von Joachims Opus 4 in Düsseldorf mit seiner eigenen »Sinfonischen Dichtung« Hamlet und auch Brahms’ Œuvre sollte der Katholik Liszt nicht unwidersprochen hinnehmen. In einem Bericht über ein Konzerterlebnis in Berlin, den Joseph Joachim an Gisela von Arnim schickte, fand er deutliche Worte: »Noch neulich empfand ich in ganzer Stärke, was das heisst, als mir der Schmerz ward (ich besuchte das Liszt-Concert), einen Menschen, den ich oft Freund genannt hatte, dem ich kolossale Irrthümer gerne in Ehrfurcht vor seiner Kraft, vor seinem Genie verziehen hätte, in niedrigster Kriecherei vor dem Publikum, in ekler Heuchelei vor sich selbst zu erkennen. Pfui über den, der sich bessern will und’s nicht lassen kann, sein Stöhnen, sein kriechend Weh vor der Gottheit im Bewusstsein missbrauchter Gewalt wieder eitel zum Effekt auszufeilschen.«65 Liszt blieb stets gelassen und süffisant. »Na, lieber Freund, ich sehe schon, dass Ihnen meine Sachen keine Freude machen«, soll er bei einer Besprechung geäußert haben.66 Sein späterer Schwiegersohn Richard Wagner nahm es ihm ab, den Höflichen zu mimen und lästerte in der Neuen Zeitschrift für Musik über Joachim, »das Komponieren scheint ihn mehr verbittert, als Andere erfreut zu haben«.67

      Der Verlauf der Fronten zwischen Progressiven und Klassizisten, Modernisten und Stilbewussten, Revolutionären und Traditionalisten, Zerstörern und Bewahrern, jenen, für die Musik ein Mittel zum Zweck war und jenen, die ihre Schönheit wertschätzten, war in den kommenden Jahrzehnten nie eindeutig. Jedoch blieb die Hochachtung oder Ablehnung im Hinblick auf Mendelssohn ein – oft unausgesprochener – Gradmesser. Der Leiter des Leipziger Konservatoriums, Conrad Schleinitz, dem ein wesentlicher Anteil an der Entstehung des Instituts zukam und der dem Direktorium bis zu seinem Tod 1881 insgesamt 47 Jahre lang angehörte, hielt die Werke seines Freundes in Ehren. »Brahms, Berlioz und nun gar erst Wagner und Liszt verabscheute er und unterließ es nie«, so ein Lehrer des Instituts, »bei der alljährlichen Prämienverteilung die prämiierten Schüler, die halbwegs im Verdacht fortschrittlicher Gesinnung standen, zu ermahnen, sich nicht vom Verführer umgarnen zu lassen, sondern immer nur der ›reinen‹, das heißt der in seinem Sinne reinen Sache zu dienen«.68 Clara Schumann hätte ihm entgegengehalten, dass Johannes Brahms sich ganz gewiss der großen Traditionslinie bewusst sei. Aber das Lager von Clara und Johannes war weniger geschlossen und raffiniert als die Gruppierung der Wölfe in Schafspelzen.