König von Hannover, Georg V. – ein Cousin ersten Grades der britischen Königin Victoria –, hatte von seinem prachtvollen Schloss aus alle Weichen gestellt, um sein Reich zu einem kulturellen Zentrum auszugestalten. Er musizierte, komponierte vor allem Lieder nebst Klavierwerken und besaß dadurch reichlich Sachverstand, um die Oper sowie das Konzertwesen zu hegen und zu pflegen. Als Johannes Brahms erstmals in die Hauptstadt an der Leine kam, war gerade das neue Hoftheater auf dem Windmühlenberg eingeweiht worden. Der Bau war nicht nur doppelt so groß, sondern auch akustisch erheblich besser als das frühere Schlosstheater an der Leinstraße.
Als Reményi und Brahms durch die Vermittlung von Joachim bei Hofe musizierten, dürften sie auch mitbekommen haben, was man in der Öffentlichkeit zu verbergen suchte: König Georg selbst, der Erleuchtung durch Bildung und Kultur in sein Land bringen wollte, war blind. Als Zehnjähriger hatte der 1819 geborene Monarch sein linkes Augenlicht durch eine Krankheit und sein rechtes vier Jahre später durch einen Unfall verloren, der zu einer Starkapsel führte. Sein Vater bildete ihn dennoch zu einem fähigen Nachfolger heran und fegte Bedenken beiseite, indem er 1842 verfügte, dass bei der Unterzeichnung von Regierungsakten einfach nur vereidigte Zeugen zugegen sein müssen. Als Georg V. nach dem Tod seines Vaters im November 1851 selbst über die weiteren Entwicklungen bestimmen konnte, sorgte Seine Majestät dafür, dass allein der ansehnliche Etat des Orchesters in den folgenden 15 Jahren mehr als verdoppelt wurde. Die Anzahl der Orchestermitglieder stieg zunehmend von 48 (1850), 67 (1858), 71 (1861) auf 75 (1866) und weitere fünf Akzessisten. Zudem hatte eine Frau die Position an der Harfe inne, was seinerzeit selbst bei diesem Instrument ungewöhnlich war. Clara Schumann zeigte sich begeistert von der hohen Qualität der Hofkapelle und schrieb Joachim, »ein solches Orchester, das finden Sie doch in ganz Deutschland nicht mehr«.36 Sie kannte den zwölf Jahre jüngeren Joseph Joachim, seit er als Zwölfjähriger in einem von Pauline Viardot-García im Leipziger Gewandhaus organisierten Konzert aufgetreten war. Am Abend des 19. August 1843 begleitete Felix Mendelssohn Bartholdy den jungen Geiger, der an dem vom Gewandhauskapellmeister gegründeten Konservatorium ausgebildet wurde, am Klavier. Mendelssohn musizierte regelmäßig mit dem kleinen »Teufelsbraten«, wie er ihn scherzhaft bei besonders guten Leistungen nannte. Joseph Joachim besaß ein eher zurückhaltendes Temperament, denn obwohl er aus Kittsee bei Pressburg stammte – dem heutigen Köpcsény bei Bratislava – hatte er, so Brahms’ Freund Max Kalbeck, eine Art, dass er »eher für einen Schwaben oder Sachsen als für einen Magyaren gelten konnte«.37 Letztendlich wurde Joachim derjenige, mit dem Clara Schumann am meisten öffentlich und wahrscheinlich auch im privaten Kreis gemeinsam musizierte.38 Auch ihr Mann Robert arbeitete gerne mit ihm zusammen und im November 1845 sprang Joachim bei einem von ihm geleiteten Dresdner Abonnementkonzert ein, weil Clara erkrankt war.
Kurz bevor Reményi und Brahms bei Joseph Joachim ihre Aufwartung machten, hatten die Schumanns im Mai 1853 beim 31. Niederrheinischen Musikfest mit ihm zusammengearbeitet. Es wurde in diesem Jahr in Düsseldorf ausgerichtet, wo Robert Schumann noch städtischer Musikdirektor war. Clara hatte mit dem Klavierkonzert ihres Gatten brilliert und Joseph Joachim glänzte mit Beethovens Violinkonzert, das bis dahin wenig Liebhaber gefunden hatte. Es handelte sich nicht nur um eines der umfangreichsten Werke dieser Gattung, sondern auch um eines, in dem die Virtuosität klassischer Konzepte allmählich der Ausdrucksvielfalt gefühlsreicher Empfindungstiefe wich, so als ob es sich um eine Sinfonie für Orchester und Geigen-Improvisationen handele. Die gemeinsame ästhetische Grundhaltung trug zu einer überzeugenden Interpretation bei. Hatte Clara an dem jungenhaften Joachim noch gezweifelt, so gestand sie ihm nun zu, »er spielte aber auch mit einer Vollendung und einer so tiefen Poesie, so ganz Seele in jedem Tönchen, wirklich idealisch, daß ich nie solch Violinspiel gehört, und ich kann wohl sagen, nie von einem Virtuosen solch einen unvergeßlichen Eindruck empfangen habe«.39
Joseph Joachim hatte mittlerweile einen ganz anderen Anspruch an seine Kunst entwickelt als der einstige Kamerad Eduard Reményi. Von diesem Temperamentbündel, das gern und gekonnt mit virtuosen ungarischen Zigeunerweisen verblüffte, wurde zu seinem Interpretationsansatz bei Beethoven der Ausspruch überliefert: »Werd’ ich spillen heut Nocht Kraitzer-Sonate, dass sich Horre flieg’n!«40 Jahre später bezeichnete Joachim die auf Gastspielreise befindlichen Reményi und Brahms als »die ungleichen Kunstgenossen«.41 Dass er ihnen eine Auftrittsmöglichkeit bei Hofe vermittelte, hing gewiss mehr mit den Fähigkeiten des Pianisten zusammen. »Nie in meinem Künstlerleben war ich von freudigerem Staunen übermannt worden, als da mir der fast schüchtern aussehende blonde Begleiter meines Landsmannes mit edlem, verklärtem Antlitz seine Sonatensätze von ganz ungeahnter Originalität und Kraft vorspielte«, erzählte Joachim über Brahms und dessen Klavierspiel, denn es war »so zart, so phantasievoll, so frei, so feurig, daß es mich ganz in seinem Banne hielt«.42 Unmittelbar nachdem er Brahms gehört hatte, wie er seine frühen Kompositionen – etwa die fis-Moll-Sonate oder das Scherzo in es-Moll – vortrug, schwärmte Joachim in einem Empfehlungsschreiben an eine einflussreiche Hofdame, Gräfin Bernstorff, wie aufgewühlt er sei durch das »intensive Feuer, jene, ich möchte sagen fatalistische Energie und Präzision des Rhythmus, welche den Künstler prophezeien«. Nicht nur der Interpret beeindruckte ihn. Er war überzeugt, auch »seine Kompositionen zeigen jetzt schon so viel Bedeutendes, wie ich es bis jetzt noch bei keinem Kunstjünger seines Alters getroffen«. Für ein solches Talent legte Joachim gerne ein gutes Wort ein. Er ließ Brahms wissen, er habe »an Dr. Liszt geschrieben, gegen den Sie unbefangen sein können, wie man großen Naturen immer am besten begegnet«.43
In der damaligen Zeit waren Empfehlungsschreiben für Künstler der entscheidende Türöffner für das Vorankommen. Allerdings wiesen die Ratschläge von Joseph Joachim in eine andere Richtung als jene, die Brahms mit Reményi an seiner Seite einschlagen konnte. Natürlich wollte Reményi sich bei seinem Landsmann Liszt vorstellen, der als Weimarer Hofmusikdirektor in einem Haus auf der Altenburg residierte. Joachim unterstützte das Vorhaben, indem er beide mit einem Schreiben ankündigte. Brahms empfahl er indes, falls er und Reményi ihren Weg nicht gemeinsam fortsetzen sollten, dann könne er bei ihm in Göttingen vorbeischauen, wo Joachim die Sommer verbrachte.
Zwischen Effekt und Sinngebung
Erst schemenhaft deutete sich eine Entwicklung an, die sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte durch die immer stärkere Bedeutung des Musikjournalismus und die vermehrte Professionalisierung des Konzertwesens zu aggressiv geführten Lagerkämpfen auswachsen sollte. Was zunächst vornehmlich Fragen der Interpretation betraf, berührte im weiteren Verlauf auch zunehmend Facetten des Komponierens. Der Liszt-Bewunderer Eduard Reményi gehörte zu einem Typus von Instrumentalisten, die nicht vor effektheischenden Übertreibungen zurückscheuten wie etwa der Uraufführungssolist des Beethovenschen Violinkonzerts, Franz Clement. Dieser hatte seinerzeit das Opus 61 lässig vom Blatt gespielt und bereits auf dem Anschlagzettel der Uraufführung im Theater an der Wien zusätzlich ankündigen lassen, er werde in diesem Konzert »auf der Violine phantasiren und auch eine Sonate auf einer einzigen Saite mit umgekehrter Violin spielen«. Was bei den einen die »Horre fliegen« ließ, ließ sie den anderen zu Berge stehen. Es muss nicht verwundern, wenn es in Berichten von der Premiere des Beethoven-Konzerts hieß, dass »der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheine, und die unendlichen Wiederholungen einiger gemeinen Stellen leicht ermüden könnten«.44 Erst Joseph Joachim verstand es, dem Rhapsodischen des Werks einen Sinn zu verleihen. Er hatte Beethovens Violinkonzert zunächst als Dreizehnjähriger unter Mendelssohns Leitung in London gespielt und konnte mit Hilfe des Stardirigenten und Komponisten sowie zunehmender Erfahrung sich das schwer in allen Facetten auszulotende Opus immer mehr zu eigen machen. Liszt hegte großen Respekt vor Joachim, während er Reményis Auftreten eher »possenhaft« fand. In seiner Publikation Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn charakterisierte er Reményi als einen »gegen alle Monotonie sich auflehnenden« Künstler. »Reményis Ideal ist das des Zigeuners mit seinem ganzen Stolz, seiner tiefen Bitterkeit, seiner vielfarbigen und vielgestaltigen Träumerei, seinem lebhaften, zierdereichen Schwung«, meinte Liszt,45 wobei zwischen den Zeilen auch die Haltung mitschwang: Ganz anders als die steife und staubtrockene Clara Schumann mit ihren Traditionalistenfreunden.
Der junge Brahms musste zwischen den