Kurt E. Becker

Die entkoppelte Kommunikation


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Lebten zum Beispiel zur Zeit von Johann Wolfgang von Goethes Geburt Mitte des 18. Jahrhunderts weltweit circa 780 Millionen Menschen auf unserem Planeten, so waren es 1950 schon 2,8 Milliarden und in der zweiten Dekade des dritten Jahrtausends nahezu 8 Milliarden. Was für eine Entwicklung. Was für ein Markt. Die „User“ des Internet auf diesem Planeten zählen in Milliarden. Tendenz täglich steigend. Innerhalb der Economy of Scale wird das Geschäft mit der Information dadurch zu einem, wie es scheinen will, unendlichen Wachstumsmarkt mit unstillbarem Appetit der Nachfrager nach Information, die seitens der Anbieter in angemessener Art und Weise bedient wird, verbunden unter anderem mit den bereits geschilderten Sensationsdynamiken und immer neuen Erfindungen wie etwa die Block-Chain-Technologie und ihr Mining mit Bitcoin, etc. Der Kommunikationsmarkt bietet exakt das, was seine Konsumenten nachfragen und ihm abnehmen, beeinflusst nicht zuletzt von Dimensionen der geheimen Verführung, von denen ein Vance Packard in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts noch nicht einmal albträumen konnte. Die totale Verführung schafft einen totalen Markt. „Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf“, hatte ein Sokrates noch für sein eigenes Leben reklamieren können. Heute gilt: Je zahlreicher das Angebot, desto besser für den Konsumenten. Auch im Blick auf den mehr oder weniger gebildeten Kommunikationskonsumenten, genannt „User“.

      Was ist Kommunikation?

      Der erste Beitrag dieses Buches fragt ganz grundsätzlich nach dem Wesen der Kommunikation: „Was ist Kommunikation?“ nimmt wesentlich Bezug auf Theorien aus psychoanalytischem Blickwinkel und erläutert deren Relevanz in unserem alltäglichen Kommunikationsverhalten. Mehr noch: Es wird deutlich, wie komplex in unserer Psyche die zwischenmenschliche Kommunikation an sich schon angelegt ist und wie oft es schon durch scheinbar kleine Missverständnisse zu großen Komplikationen im täglichen Miteinander von Mensch zu Mensch kommen kann, ja, wie schnell sich aus einem Miteinander ein Gegeneinander entwickelt. Denn generell zeigt sich Kommunikation in jeder sozialen Konstellation immer auch in zweifacher Hinsicht als Funktion der miteinander kommunizierenden menschlichen Selbsts. Beiden geht es um die Befriedigung der Bedürfnisse Sicherheit und Macht. Vergewisserung des eigenen Selbst und Einflussnahme auf das andere Selbst sind insofern nur zwei Seiten derselben Kommunikationsmedaille. Davon wussten auch die alten griechischen Philosophen schon ein Lied zu singen. Die Topik als Mittel der Rhetorik war nichts anderes als ein Kampf um das bessere Argument zum rechten Zeitpunkt. Auch damals blieb das, was als Wahrheit gelten konnte, nicht selten auf der Strecke. Denn jeweils herrschender Zeitgeist und Ideologiegebundenheit trugen und tragen ihr Scherflein zur Relativierung von Wahrheit bei.

      Das Ressentiment –

      Initial von Verschwörungstheorien

      Der „Kunst der charismatischen Kommunikation in einer offenen Gesellschaft“ widmet sich der zweite Essay, wesentlich den sokratischen Dialog mit dem eigenen Selbst thematisierend, dabei stets die Communio im Blick – mit mir selbst und mit anderen. Die Tatsache, dass es in einer offenen Gesellschaft quasi unbegrenzte Möglichkeiten zur Verlebendigung des persönlichen Charisma-Faktors gibt, birgt Chancen und Risiken in gleichen Maßen. Die Chance kann begriffen werden als Einladung an jede Frau und jeden Mann zur Selbstverwirklichung im individuellen Charisma. Das Risiko besteht in der Etablierung einer geschlossenen Gesellschaft durch selbsternannte, herbeigeredete oder angenommene „charismatische“ Heilande, die jedwede Kommunikation durch „alternativlose“, finale Antworten beenden. Dauerhafte Kommunikation: unerwünscht. Die arrogante Unvernunft siegt über den respektvollen Kommunikationsanspruch auf Augenhöhe, der in Rechnung stellt, dass es Wahrheit nur zu zweit geben kann (Hannah Arendt). Das erfüllt auch die diskursive Kommunikationserwartung der Vernünftigen.

      Das Ressentiment kann sich äußerstenfalls zum Initial gefährlicher Verschwörungstheorien verhärten, die jede offene Gesellschaft in ihren Fundamenten bedroht. In der Regel basiert diese Destabilisierung der Vernunft allerdings auf einem Versagen der etablierten Institutionen in einer offenen Gesellschaft, wie es sich leider in vielen Teilen der demokratisch verfassten Gesellschaften in unserer Welt andeutet oder schon Realität geworden ist.

      Visibilitätsverantwortung

      Das psychoanalytische Besteck findet wiederum Anwendung in dem Vortragsmitschnitt „Corporate Visibility“, in dem er zum Beispiel verdeutlicht, dass niemand gefragt wird, ob er geboren werden und damit sichtbar werden möchte. Der Text adressiert auch die visuelle Wirkung von Unternehmen und deren Auftritte. Letztlich aber geht es nicht zuletzt um die Frage: Wer bin ich, der ich so und nicht anders wahrgenommen werden will? „Wahr“ steckt dabei in „Wahr-Nehmung“ genauso wie in „Wahrheit“, verbunden wiederum mit der Frage nach unserer Perzeptionskapazität und einer daraus resultierenden Visibilitätsverantwortung, die immer auch eine Antwort gibt auf die Frage, wie viel Wahrheit in unserem konkreten Auftritt geliefert wird, respektive geliefert werden kann und darf. Und unser Auftritt wiederum ist Teil einer Visibilitätskultur, zu der der Einzelne genauso einen Beitrag leistet wie zum Beispiel ein Wirtschaftsunternehmen. Ich verantworte vor mir selbst und vor anderen, wie ich mich optisch präsentiere – als der, der ich bin, oder als einer, der sich hinter einer Maskerade versteckt.

      Visibilitätskultur meint das ganz offensichtlich Wahrzunehmende genauso wie das verschwommen Durchscheinende in einer optischen Präsentation und nicht zuletzt das bewusst oder unbewusst Versteckte. „Kleider machen Leute“ ist sicherlich die trivialste, aber gleichzeitig auch markanteste Maxime unserer Visibilität.

      Und der geläufige Watzlawick-Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren“ gilt in entsprechender Abwandlung auch in der Visibilitätskultur: „Man kann nicht nicht wahrgenommen werden“. Unser visueller Auftritt ist Teil unserer individuellen Kommunikation. Ob uns das gefällt oder nicht.

      Die Anfälligkeit zum Selbstbetrug

      Explizit von der Wahrheit handelt der dritte Essay. Schon vor mehr als 100 Jahren hatte Friedrich Nietzsche schonungslos analysiert, was wir Wahrheit nennen: „Die Wahrheit sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind ...“. Vergessen dürfen wir in diesem Zusammenhang auch nicht die gesellschaftliche Disposition in der Demokratie zu Mehrheitsentscheidungen einerseits, zur Bereitschaft und Aufgeschlossenheit für Moden und Zeitgeist andererseits. Es gilt halt auch, dass wir uns gerne in Illusionen wiegen oder wiegen lassen, denn die menschliche Anfälligkeit zum Selbstbetrug gehört zur Wahrheitssuche wie das Salz zur Suppe. Der Frage der Kommunikation in der Politik und deren oft behaupteter Alternativlosigkeit, vulgo nichts anderes als der kollektive Selbstbetrug in einem Parteiprogramm oder der individuelle bei einer konkreten Entscheidung zur Lebensgestaltung genauso wie im Business, nimmt sich der nächste Text an und kommt zu dem Ergebnis: Sage mir, wie du kommunizierst, und ich sage dir, wie du regierst.

      Authentisch sein

      Politische Kommunikation aus dem Blickwinkel des Individuums und dessen Verantwortung in Allzeit-Jetzt und Augenblicks-Ökonomie und einer daraus resultierenden Simultan-Kultur der wahrnehmenden Gleichzeitigkeit und Parallelität von Ereignissen, verbunden mit einer Jederzeit-Verfügbarkeit von Informationen ist Thema des folgenden Aufsatzes. Die erkenntnisleitende Frage des Aufsatzes lautet: „Wie gelingt es, unter dem Joch der Medien und des Augenblicks authentisch zu sein, ein wahrhaft menschliches Leben zu leben, eine ‚natürliche’ Kommunikation von Mensch zu Mensch zu pflegen, eine Kultur der Verantwortung unter ethischen Maximen zu entwickeln und urteilssicher im Sinne eines großen Ganzen Entscheidungen zu treffen?“ Vielleicht die essenzielle Frage par excellence in der zwischenmenschlichen Kommunikation, ja, im Miteinander generell in unserer so und nichts anders gewordenen Wirklichkeit unserer Zeit.

      Medienkompetenz

      „Der Geist des Internet“ greift die Frage in anderem Kontext auf und knüpft an Friedrich A. Kittlers Analyse der Entwicklung der Aufschreibsysteme und deren Transformation ins digitale Zeitalter an. Mit dieser Transformation verbunden ist die jederzeitige Abrufbarkeit von Wissen durch einschlägige Suchdienste im Internet. Die daraus resultierende „Endlosschleife des absoluten Wissens“ (F. A. Kittler) birgt Gefahren auch im Blick auf die Entwicklung unseres Denkvermögens. Wurde im Recherchieren und in der damit verbundenen Lektüre von ganzen Bibliotheken im vordigitalen Zeitalter nämlich das systematische Denken durch die disziplinierte und disziplinierende Methodologie des Forschens geschult, braucht es heute keiner tiefschürfenden Systematik