stellvertretender Chefredaktor und dann Mitglied der Chefredaktion war, mit der Genehmigung der Geschäftsleitung einen Demokratisierungsprozess ein. Die Geschäftsleitung war damals in den Händen von Dr. Otto Coninx, dem Chef der Familie dieses Namens. Ich vergleiche ihn gern mit dem französischen König Ludwig XVI.: ein wenig liberal, ein wenig absolutistisch. Seine liberale Seite erlaubte es der Redaktion, ein fortschrittliches, wenn auch begrenztes Mitbestimmungsmodell zu erarbeiten und in einem Redaktionsstatut festzuschreiben. Um beim Vergleich mit der französischen Geschichte zu bleiben: Es war die revolutionäre Ära der Konstituante und der Legislative. Die absolutistische Seite des Dr. Coninx offenbarte sich aber im statutwidrigen Schreibverbot für den Journalisten N.M. Die Redaktion reagierte nicht gerade mit einer Revolution, es gab auch keine Diktatur der Kommune wie im revolutionären Frankreich. Dr. Coninx wurde nicht enthauptet, aber er nahm bald einmal seinen Rücktritt und überliess die Regierung einer zuerst fünf-, dann vierköpfigen Geschäftsleitung. Diesen Vorgang kann man mit dem Revolutionsstopp des 9. Thermidor in Frankreich vergleichen, der die Bildung eines fünfköpfigen Direktoriums und vier Jahre später eines Konsulats mit beinah diktatorialer Machtfülle zur Folge hatte.
Im ‹Tages-Anzeiger› schwang sich einer der ‹Konsuln›, Rico Hächler, dank seinen Führungsqualitäten geradezu napoleonischen Zuschnitts, zum Ersten Konsul und zum ungekrönten Kaiser des Unternehmens auf. Einer seiner Generale verstand sich nicht mit dem Kaiser: Wie Jean-Baptiste Bernadotte, der sich von Napoleon trennte und zum König von Schweden wurde, trat Peter Studer aus der Geschäftsleitung aus und wurde Chefredaktor beim Fernsehen drs.»
Diesen letzten Artikel seines Lebens hat er als Vorwort für ein Buch konzipiert, das eine Kollektion seiner ausgewählten Arbeiten einleiten soll. Am Schluss des Vorworts nimmt er die Anekdote von den schwimmenden politischen Gipsköpfen im Halensee wieder auf, die ich anfangs zitiert habe. Nochmals P.F.:
«Gamma due: Im Zivilschutz signalisiert dieser griechisch-italienische Ausdruck das Ende eines Alarms. Für mich ist Ende Alarm, deshalb gab ich diesem Buch den Titel Gamma due. Ich bin aus dem Bannkreis der Macht getreten. Die Texte, die hier versammelt sind, verweisen auf eine Welt, die von Macht durchdrungen ist. Sie wurden geschrieben zu einer Zeit, da ich Macht erduldete und (widerwillig) ausübte. Diese Zeit ist vorüber. Ich bringe die hohlen Gipsköpfe meines Lebens zur Explosion.»
Von unserem Pariser Korrespondenten
(statt eines Vorworts)
Wer in Frankreich lebt und liest, was Frankreich-Korrespondenten der deutschsprachigen Zeitungen über Frankreich schreiben, der staunt. Der fragt sich, wie so viele Korrespondenten so regelmässig so gouvernemental über ein Land schreiben können, das so unablässig so subversive Themen anbietet. Und er fragt sich: Wie kommt das?
So kommt das:
Der Korrespondent erwacht knapp vor sieben Uhr. Mit täglich neuer Zielstrebigkeit treibt es ihn zum nächsten Kiosk, wo die Zeitungsfrau ihm schon alle Morgenzeitungen entgegenstreckt (oder fast alle, denn auf «Libération» und «Humanité» verzichten viele). Das macht also immerhin drei Morgenzeitungen, welche der Korrespondent nun in seiner Gewissenhaftigkeit studiert. Mit einem Ohr hört er dabei die Morgennachrichten. Nachdem er die frischen Zeitungen ausgeweidet hat, welche ideologisch alle ungefähr zwischen dem «Bayernkurier» und der «Frankfurter Allgemeinen» liegen, wenn nicht sogar rechts vom «Bayernkurier», konsultiert er noch die Abendzeitungen vom Vortag: «Le Monde», «La Croix» und «France-Soir». Nun hat er also sein beruhigend breites Meinungsspektrum vor sich: vom rassistisch geifernden «Parisien libéré» über den neokolonialistischen «Aurore», den stockkonservativen «Figaro», den gaullistischen «France-Soir», die katholische «La Croix» bis hin zum linksbürgerlichen «Le Monde» sind alle Schattierungen innerhalb des bürgerlichen Schattens vorhanden. Da unser Korrespondent der Objektivität verpflichtet ist, berücksichtigt er in seiner Bouillabaisse alle Ingredienzen, an manchen Tagen sogar die «Humanité». Unter kräftigem Umrühren mischt er die Zutaten zu einem völlig neuen Brei, so dass die ursprünglichen Brocken nicht mehr erkennbar sind und sein Eintopfgericht riecht, als ob es eine originale Schöpfung wäre.
Dieser Originaleffekt wird mit geheimnisvollen Andeutungen erzielt, im Stil von «Aus Regierungskreisen verlautet», oder «Aus Oppositionskreisen verlautet», oder «Im Elysée denkt man», oder «In Gewerkschaftskreisen ist man der Ansicht». So dass der Leser daheim sich über den direkten Draht freut, welcher den tüchtigen Korrespondenten mit Giscards braintrust oder mit Mitterrands Politdenkern verbindet.
Um zehn oder halb zehn Uhr hat unser Mixer dann seine Mixtur parat, die paar Schreibmaschinenseiten, welche ausschliesslich aus schon Geschriebenem zusammengestoppelt sind (wobei in den meisten Fällen die Quellen nicht zitiert werden), zusammengestoppelt aus Tageszeitungen, die in ihrer Mehrheit gouvernemental sind oder noch reaktionärer als die Gaullisten, zusammengebraut aus Nachrichten des reaktionären Radios und Fernsehens und des «freien» Kommerzradios («Luxembourg» und «Europe 1»). Etwa um halb elf also ist der Prozess des Wiederkäuens abgeschlossen, der Artikel kann nach Hause telefoniert oder telexiert werden. So geht das jeden zweiten oder dritten Tag, manchmal auch täglich, je nach «Aktualität». Nun kann der Korrespondent sich ausruhen, manche allerdings erst, nachdem sie denselben Artikel noch zwei oder drei anderen Zeitungen durchgegeben haben (es gibt einige, die bis zu sieben Zeitungen mit demselben Artikel beliefern: Im Gegensatz zu den Krämern kaufen die Korrespondenten «en détail» ein und verkaufen «en gros»). Bestenfalls ein Halbtags-Job, wenn einer mal ein bisschen Routine hat. Dazu sehr flott honoriert: unter viertausend Francs verdient keiner. Damit gehören sie in Frankreich zu den Privilegierten.
Die Korrespondenten der deutschsprachigen Tageszeitungen könnten sich zu einem «pool» zusammenschliessen, und zwar so, dass einer von ihnen periodisch alle Zeitungen mit den Routineberichten beliefert, damit die andern frei werden für Recherchen und Reportagen, Erlebnisberichte, Analysen, Glossen, Interviews. Oder die Redaktionen könnten Agenturberichte abdrucken und damit ihre Korrespondenten für kreativen Journalismus freimachen. Denn was die Haupt- und Staatsaktionen betrifft, die sogenannte grosse Politik, auf die sich unsere Korrespondenten fast immer beschränken, so orientieren die Agenturen ja doch umfassender, schneller und besser als so ein Korrespondent-Kopist, dem nicht ein Viertel der Quellen eines Agence-France-Presse-Mitarbeiters offensteht. Aber die meisten Tageszeitungen wollen auf «unseren Pariser Korrespondenten» nicht verzichten, jedes rechte Blatt ist sich diesen Mythos schuldig, auch wenn es seinen Korrespondenten mit vier andern Blättern teilen muss. Der Mythos überlebt nur deshalb, weil der Durchschnittsleser in der Heimat keine französischen Zeitungen liest und also nicht weiss, welch abgeschmackter Aufguss oder Absud ihm serviert wird. Die Korrespondenten in ihrer unermüdlichen Faulheit (faul hinsichtlich des Denkens, unermüdlich in bezug auf ihre ständig ratternden Kopiermaschinen) sind einfach zu bequem oder zu schüchtern, um in die Fabriken, zu den Bauern, in die Provinz zu gehen, in die politischen Versammlungen, in die Gerichtssäle, wo ihnen jeden Tag Anschauungsunterricht geboten wird; zu bequem sogar, sich in den Ministerien selbst zu erkundigen. (Bei den Veranstaltungen der grotesken Ausländerkolonien in Paris hingegen, da sind sie, bei den teuren Banketten und Ministervisiten.) Manche sind schon jahrelang in Paris und haben noch nie mit einem Arbeiter gesprochen. Ihre Kontaktschwierigkeiten sind allerdings begreiflich, wenn man weiss, wie schlecht sie französisch sprechen: sie wollen sich nicht blamieren und lernen die Sprache also lieber überhaupt nicht. Wenigstens nicht so, dass sie ein Interview oder Gespräch ohne Hemmungen führen könnten. Ihr Wortschatz datiert noch aus der Schulzeit. Ihr Verhältnis zu Frankreich ist gespannt, falls überhaupt von einem Verhältnis gesprochen werden kann. Sie leben weder in Frankreich noch in der Heimat, sondern in einem geheimnisvollen Zwischenbereich, im Ausguck der neutralen Beobachter, weit oben, wo sie nichts mehr erschüttern kann ausser der Erhöhung des Hypothekenzinses ihres Häusleins. Ihre politischen Oberflächenkenntnisse stossen nicht zu einer kohärenten Analyse vor. Alles wird aufgefasert in Tagesneuigkeiten, ohne geschichtliche Tiefe. Zum Herz der Dinge, zur Ökonomie, zur Arbeitswelt, haben sie keinen Zugang. Darüber schreiben die Wirtschaftskorrespondenten, die spezialisierten Volkswirte, welche dafür von der Politik abstrahieren. Die kulturelle Dimension der Politik entgeht ihnen, ebenso die politische Dimension der Kultur. Denn für Kultur, oder was man sich so unter Pariser Kultur auf den Redaktionen vorstellt, sind die Kulturkorrespondenten