Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2


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Probleme der leibhaftigen Franzosen? Wer schreibt Berichte über das trostlose Leben in der Pariser Agglomeration? Nicht jene Korrespondenten, die bequem im Grünen wohnen und dort ihr Gärtchen pflegen. Wer produziert einen Artikel über Willkür und Allmacht der französischen Polizei, dazu einen politischen Erklärungsversuch der Polizeistaatlichkeit? Nicht jene gepflegten Herren, welche noch nie erlebten, wie man nach einer friedlichen Demonstration zusammengedroschen wurde und wie man auf den Kommissariaten behandelt wird. Polizeiwillkür gibt es für unsere Korrespondenten erst, wenn auch die grossen Zeitungen wie «Figaro» die Methoden etwas zu brutal finden. Wer hat, in Ermangelung eigener Erlebnisse, wenigstens das Buch von Denis Langlois über die Foltermethoden der Polizei besprochen? Wer von den wackeren Greisen liest überhaupt Bücher, einen Bruchteil wenigstens aus der historischen, politwissenschaftlichen und soziologischen Jahresproduktion? Dabei haben sie die Bücher gratis, mit ihrem Presseausweis. Wer liest die sogenannt linksextremen Zeitungen, Zeitschriften und Revuen, von «Politique Hebdo» bis zu «Partisans»? Oder doch hin und wieder «Esprit»? Wer ist auf die verlässliche, wenn auch linke «Libération» abonniert, die immer wieder vom Los der Fremdarbeiter, von der Misere auf dem Land, von unbekannten Streiks und aus den Bidonvilles berichtet? Sicher nicht jene selbstzufriedenen Idylliker, die noch nicht bemerkt haben, dass ihr Koordinatensystem die wichtigsten Fakten eliminiert, die auch nicht spüren, wie sehr das etablierte Informationssystem sich selbst reproduziert, wie schlecht es unmittelbar bevorstehende Erdbeben vorausspüren kann (ein berühmter Artikel von Viansson-Ponté in «Le Monde», unmittelbar vor dem Mai 1968, unter dem Titel: «La France s'ennuie»).

      Es geht ihnen einfach zu gut, unsern dickhäutigen Schreibkräften, sie haben ein für allemal ihren objektiven und gepolsterten Standpunkt, oberhalb aller Standpunkte (meinen sie), und betrachten von hoher Warte die hohe Politik, freuen sich über den atlantisch gesinnten Giscard, welch ein Aufschnaufen nach de Gaulle, haben Mitleid mit Jean-Paul Sartre, der wie Sokrates die Jugend verführt, kennen ihn und seine Schriften aber nicht, finden die Sozialpolitik des Chirac eine fortschrittliche Sache, haben aber nicht darunter zu leiden, bei ihrem beinahe diplomatischen Status, bewundern die neuen Quartiere rund um Paris und die lebhafte Bautätigkeit allenthalben und die Renovierung der alten Quartiere, Sanierung überall: entzückend die neuen Fassaden, Notre-Dame im neuen Kleid. Gewiss, von der dynamischen Modeschnüfflerin, die das Büro eines grossen Verlages am Quai Voltaire leitet, kann man eine kritische Berichterstattung nicht erwarten, die beschäftigt sich mit Mireille Mathieu und Johnny Halliday, zu diesem Zweck wurde das Mädchen nach Paris geschickt; aber von den seriösen Korrespondenten könnte man doch hoffen, dass sie nicht nur über die Johnny Hallidays der Politik berichten, dass sie ihre Augen öffnen, ihre Ohren, eventuell mal ihren Kopf zu einer persönlichen Reflexion benützen, bevor ihnen die bürgerliche Presse den Artikel vorgedacht hat. Oder man erwartet, dass sie mal in die unterentwickelte und kolonisierte Provinz reisen oder in die französischen Kolonien, die zum Schein selbständig geworden sind. Man hofft auf einen Bericht über das Leben in den Kohlebergwerken, über die Verhältnisse bei Citroën, einen Blick auf die Pariser Stadtplanung, auf die unerhörte diktatorische Machtkonzentration in den Händen Giscards, auf die Beschreibung eines Regionalpräfekten, der seine Provinz wie ein Vogt regiert.

      Vielleicht, wenn die Korrespondenten wirklich mit dem Volk korrespondierten und ins Leben tauchten, würde ihnen der Zusammenhang zwischen Alltag und Agitation aufgehen. Sie würden bemerken, dass Millionen von Franzosen nur die Wahl haben zwischen Lethargie und Revolte, zwischen Spiessbürgerlichkeit und Barrikade und dass der radikale Zynismus der Besitzenden die radikale Wut der Unterdrückten ständig neu produziert.

      Aber ach, von all dem werden die Korrespondenten unserer Tageszeitungen nichts schreiben. Es wird auch nicht von ihnen verlangt. Die Redaktionen wollen Artikel über den letzten Brandt-Besuch, über die Pressekonferenz des Präsidenten – welche der Korrespondent am Fernsehen verfolgt. Warum sollten Zeitungen, die einen Helmut Kohl im Inlandteil mit Samthandschuhen anfassen, im Ausland einen Bericht über die wahre Natur des Giscard d'Estaing abdrucken, das heisst über die Natur seines Herrschaftssystems? Oder etwa eine Aufklärung über die Machenschaften der «Compagnie Général Electrique (CGE)» oder der «Banque de Paris et des Pays-Bas», da sie ja auch über die Deutsche Bank oder Siemens nicht allgemeinverständlich orientieren, sondern nur im Latein ihrer undeutlich murmelnden Volkswirte? Ausserdem fühlen sich die Korrespondenten in Frankreich zu Gast, allzu deutlich darf man sich gegenüber dem Gastgeber nicht räuspern (sind sie bei der Regierung oder beim Volk zu Gast?). Und schliesslich, so jammern unsere Korrespondenten, haben unsere Artikel ja doch keine Konsequenzen; in Frankreich werden sie nicht gelesen und in der Heimat fast nicht (kein Wunder, bei dem Stil).

      Man sieht also, dass die Pariser Korrespondenten in ihrer jetzigen Form abgeschafft werden können. Am besten beruft man sie in die Heimat zurück, welche sie mental nie verlassen haben. Dort reserviert man ihnen auf den entsprechenden Redaktionen einen gemütlichen Raum, darin ein Fernsehgerät mit Spezialantenne, ein gutes Radio und ein Abonnement auf alle Pariser Zeitungen, mit Express-Luftpost-Zustellung. Also präzis dieselbe Umwelt wie in Paris. Ausserdem eine Sekretärin, deren Parfum ihnen Pariser Atmosphäre garantiert. Nun dürfen sie in Zürich, Frankfurt oder Hamburg ihre Kopistenarbeit verrichten anstatt in Paris, das sie bei dieser Arbeit nur stören kann. Auch können sie an ihren freien Nachmittagen noch für redaktionelle Arbeiten herangezogen werden, Umbruch und so. Das bedeutet eine gewisse Ersparnis für die meisten Zeitungen, weil ja die Spesen und Auslandsentschädigungen wegfallen.

      Eine andere Möglichkeit: Die Korrespondenten verlassen, turnusgemäss, ihre feinen Wohnungen, lassen sich eine ganz andere Luft um die Nasen streichen.

      Der Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung» arbeitet einen Monat bei Renault als «O. S.» (ouvrier spécialisé), der Mann vom «Echo der Zeit» geht als Landarbeiter in die Bretagne, der FAZ-Berichterstatter geht auf den Bau und wohnt mit Portugiesen im Bidonville, der von der «Welt» verdingt sich auf der Werft von Dünkirchen.

      Die Überlebenden schreiben einen Erlebnisbericht.

      NB: Herr W. I., Korrespondent einer grossen Zürcher Zeitung, der diesen kleinen Aufsatz hatte, rief mich an; er beglückwünschte mich (zu meinem Erstaunen) und sagte, im wesentlichen sei die Lage richtig analysiert, auch er leide unter den sterilen Bedingungen des Journalistendaseins in Paris. Was hatte ich falsch gemacht, dachte ich, dass mich ein Vertreter der konservativen Presse beglückwünschte.

      Auf einem fremden STERN, 1983

      «Ich persönlich gestehe, dass ich schwer über solche Zusammenstösse mit dem landläufig Menschlichen, dem naiven Missbrauch der Macht, der Ungerechtigkeit, der kriecherischen Korruption hinwegkomme.»

      Thomas Mann, «Mario und der Zauberer»

      Man kann die 206 Seiten von Erich Kuby – «Der Fall STERN und seine Folgen» –, der 15 Jahre lang beim STERN tätig gewesen ist, nicht ohne Emotion lesen, auch wenn man nur neun Monate bei der Illustrierten als Pariser Korrespondent angestellt war. Alle paar Seiten denkt man, mit einem Gefühl der Befreiung: «Genau so!» – zum Beispiel, wenn Kuby über den weiland Chefredakteur Peter Koch, der das Hitler-Tagebuch-Schlamassel mit angerichtet hat und dann mit drei Millionen Mark Abfindung (Schweigegeld?) gefeuert worden ist, schreibt: «Peter Koch, der mit dem Auftreten eines Kompaniefeldwebels aus Journalisten Befehlsempfänger machen wollte, was ihm zum Teil auch gelungen ist.» Kann man wohl sagen; kann wohl jeder sagen, der Koch und die Redaktionskonferenzen und die demütigenden Abbürstungen erlebt hat, die sich kein Primarschüler von seinem Lehrer, aber fast alle STERN-Leute von ihrem Koch haben bieten lassen, oder auch von Felix Schmidt, dem anderen Chefredakteur und Drei-Millionen-Empfänger. Man fragt sich nur: Warum hat es Kuby in diesem Betrieb so lange ausgehalten? Da war also eine Redaktion mit zahlreichen brillanten (aber auch einigen andern) Köpfen, die oft für Demokratie, gegen Militarismus, Folter, Rüstungswahnsinn kämpfte – nach aussen, das heisst im Blatt sichtbar; und die innerlich-unsichtbar organisiert war wie eine Kaserne, eine luxuriöse allerdings, mit prima Psycho-Folter.

      Das Hitler-Tagebuch-Schlamassel ist von diesem Organisationsmodell des STERN nicht zu trennen. Eine halbwegs demokratisch funktionierende Journalistengruppe wäre trotz allen Abschottungsmechanismen von Chefredaktion und Verlag den kriminellen Tagebuch-Veröffentlichungsplänen