Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2


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oben kam, war richtig. Unterdessen habe er Zweifel bekommen. Als praktizierender Freimaurer und Humanist hat er eine 23seitige Denkschrift über das Erlebnis aus dem Aktivdienst verfasst, die so anfängt: «Am Mittwoch, dem 11. November, wurde Hauptmann Rupp vom rasselnden Wecker jäh aus dem Schlaf gerissen … Es war noch dunkel, kalt, und aus einem schweren, tiefen Nebel rieselte es leise.» Die unveröffentlichte Denkschrift hat er kürzlich an einer Sitzung seiner Freimaurerloge vorgelesen, aber nur mässigen Erfolg damit gehabt. Rupp war im Zivil Restaurateur in einem sehr renommierten Gasthof, wo auch Frölicher verkehrte (Schweizer Gesandter in Berlin während des Aktivdienstes), der für eine radikale Anpassung der Schweiz an Nazi-Deutschland eintrat. Er hat öfter für das leibliche Wohl Frölichers gesorgt, wenn dieser Diplomat wieder einen Schweizer Aufenthalt einschaltete. Die Situation der Schweiz sei damals mit einer belagerten Festung zu vergleichen gewesen, sagt Rupp, und Landesverräter seien ihm vorgekommen wie Leute, die den Festungsschlüssel dem Feind auslieferten. In seiner Verpflegungsabteilung hatte er 50 Metzger unter sich, die für die ganze Division schlachteten, 3000 bis 4000 Stück Vieh im Aktivdienst. Insubordination und Meuterei seien im Aktivdienst kaum vorgekommen, nur einmal hätten seine Mannen gegen den Feldwebel gemurrt, darauf habe er einen bäumigen Strafmarsch organisiert, und die Ruhe sei wieder eingekehrt.

      Am Abend vor der Hinrichtung, einige Stunden nach Ablehnung des Gnadengesuchs durch die Vereinigte Bundesversammlung, habe er seine Kompanie feldmarschmässig heraustreten lassen und ihr die «kleine Morgenübung» vom nächsten Tag erklärt. 40 Mann für die Absperrung des Richtplatzes, 40 Mann für die Erschiessungspelotons, fast lauter Metzger. «Es ist dies eine Aufgabe, vor der sich keiner der Anwesenden drücken kann. Es gibt keine Freiwilligen, aber es gibt auch keine Dispensierten», sagte Rupp der Mannschaft. «Leider sind zwei Angehörige unserer Einheit, zwei Unteroffiziere, das Opfer der nazistischen Propaganda geworden, und unserer Einheit ist der Befehl erteilt worden, das Todesurteil innerhalb von 24 Stunden zu vollstrecken. Einzelheiten ihrer Verfehlungen kennen wir nicht, denn aus Sicherheitsgründen muss der Tatbestand geheimgehalten werden.»* * Laut Militärstrafrecht muss die Einheit, zu der die Delinquenten gehören, diese erschiessen.

      Im nahen städtischen Schlachthaus «wurden anschliessend die Befehlstechnik und die Schussabgabe einexerziert». Hauptmann Rupp und ein Oberleutnant Meinhold hatten sich als Zielobjekte zur Verfügung gestellt, denn die Mannschaften hatten nicht die Gewohnheit, auf lebende Objekte anzulegen. Es wurde ohne Munition geprobt. Die Offiziere stellten sich einfach vor die Mannschaft und befahlen, auf Kopf und Brust anzulegen, je zehn Mann auf Brust, je zehn auf Kopf.

      Dank dem gründlichen Training am Vorabend habe dann am nächsten Morgen auch alles geklappt, der Oberst und Grossrichter Santschi habe das Urteil verlesen, das Kommando sei vom Obersten an den Hauptmann und vom Hauptmann an einen Leutnant übergeben worden, der mit scharfer Stimme befahl: «Rechts um, kehrt», «zum Schuss fertig», «ein Schuss Feuer». Der Bataillonsarzt stellte den sofortigen Tod der beiden fest, so dass sich ein Gnadenschuss erübrigte.

      Beim Entladen allerdings ergab sich, dass von einem Peloton drei Mann, vom andern vier Mann nicht geschossen hatten. Rupp überlegte sich, ob diese Befehlsverweigerung bestraft werden sollte. Aber «die Aufgabe der Truppe war einwandfrei erfüllt worden, warum jetzt noch einen Fall aufziehen», überlegte Rupp «instinktiv», und statt einer hochnotpeinlichen Untersuchung dankte er den Soldaten für ihre schwere Pflichterfüllung mit einigen Worten und einem Handschlag. Er habe dann die nicht abgefeuerten Patronen zu sich genommen und im Hosensack verschwinden lassen. Plötzlich, als die Aufgabe der Truppe auf diese einwandfreie Art erledigt war, «hörte man wieder einen Schuss fallen, und ein Wachtmeister der Kantonspolizei sank zusammen. Er hatte eine geladene und entsicherte Maschinenpistole, die er zur Sicherung der Eskortierung mitnahm, auf den Führersitz des Transportautos gelegt und wollte sie nun entladen. Diese sehr sensible Waffe löste bei dieser Manipulation einen Schuss aus, der den Polizisten im Bauch schwer verletzte. Ein dreimonatiger Spitalaufenthalt war die Folge.» Am meisten Eindruck hätten ihm die Schnelligkeit der Exekution und die absolute Ruhe der Beteiligten gemacht, abgesehen vielleicht vom Grossrichter, der in seiner aufgeregten Stimmung vergessen hatte, die Gamaschen anzuziehen. Die Leichen hätten vorne bleistiftgrosse Einschusslöcher aufgewiesen, hinten hätten sie aber wüst ausgesehen. Allerhand Weichteile seien im Gras gelegen, Blut und andere Überreste, so dass ihm der Oberförster, übrigens ein Freund von ihm, am nächsten Tag sagte: Ihr hetted au no chönne suuber uufputze. Die Exekutionsbäumchen seien dann vom Oberförster gefällt worden. Im Tagebuch des Bataillons hat dieser Tag (es wurde sofort die normale Routine wieder aufgenommen) folgende Spur hinterlassen: «07.12 Uhr Füsilierung der Fouriere Zaugg und Schläpfer durch ein Detachement von 40 Mann der Nachschubkompanie 9.09.00 Uhr Übergabe der Pferde und Fuhrwerke der Geb Tf Ko V/4 an die Kol III/3. Durchmarschfassung für das komb Inf Rgt 21 (4. Division) ab Magazin Luzern 11.00–13.00 Uhr und für das Rgt 22 ab 16.00–18.00 Uhr.»

      Rupp interessiert sich heute für Geschichte und Poesie, auf dem Schreibtisch ein Buch von Rilke, dann auch einige kommerzielle Aktivitäten, er arbeitet noch halbtags. An die Gesichter und Namen der kommandierten Füsiliere kann er sich nicht erinnern. «Ich habe vieles vergessen, das kommt von der Arterienverkalkung, darum habe ich auch aufgeschrieben, was ich noch wusste.» Er fährt mit mir zum Richtplatz, der sehr idyllisch in einem Tälchen liegt, sehr ruhig in der Morgensonne. Er heisst mich stillstehen, nimmt sieben Schritt Abstand, grosse ausgreifende Schritte, macht rechts um, kehrt, sagt: Hier sind die Füsiliere gestanden, dort der Grossrichter; wo Sie jetzt stehen, waren die Delinquenten angebunden. «Das Kommando war noch nicht verklungen, als ein einziger Knall die bedrückende Stille durchschnitt und die Körper von Zaugg und Schläpfer in die haltenden Stricke sackten», heisst es in Rupps Denkschrift. An diesem Sonntagmorgen ist die Stille gar nicht drückend. In weiter Ferne hört man Schüsse, aber sie kommen aus einem Schiessstand.

      *

      «Schüssed Si los», sagte Oberst Koller, der ehemalige Vorgesetzte Rupps, damals Sekundarlehrer im Zivil, der in seiner Wohnung in L. sitzt und Auskunft gibt.* * Vgl. auch «Sprechstunde bei Dr. Hansweh Kopp», in «Der wissenschaftliche Spazierstock». Koller ist ein bekannter Politiker im Ruhestand, alt Stadtpräsident, Vorsitzender eines Kulturvereins, hat sich um die Förderung der schweizerischen Bühnenkunst verdient gemacht. Er hat alle Exekutionsakten in einem Ordner aufgehoben. Unaufgefordert übergibt er mir die Kopien einiger Vollzugsakten, auch einen Originalzettel mit dem Exekutionsprogramm, den er an jenem Morgen in der Hand hielt. Stolz erklärt Oberst Koller die «minuziöse Vorbereitung» und die «reibungslose Abwicklung». Auch er sagt: Es war eine saubere Exekution. Er habe sich noch lange mit dem Sanitätsoffizier darüber unterhalten, wo gegebenenfalls der Fangschuss erfolgen müsse: in den Mund, in die Schläfe, den Nacken oder die Stirn. Man habe die Frage offengelassen, und es sei dann auch alles gutgegangen. Koller befürwortet auch im Zivilleben die Todesstrafe: Wohin kommen wir sonst mit unserer Humanitätsduselei? Nach der Exekution von Zaugg und Schläpfer, als alles gutgegangen war, die Mannschaften den Platz schon verlassen hatten und er mit einigen Offizieren zurückgeblieben war, hat er aufgeschnauft und eine Zigarette geraucht. Die beste Zigarette meines Lebens, sagt er. Während er rauchte, hörte er gedämpften Soldatengesang, es war das Lied «Eine Kompanie Soldaten, wieviel Freud und Leid ist das». Oberst Koller muss man keine Fragen stellen, es sprudelt freiwillig hervor.

      Im Ordner die Protokollakten: Der Regierungsrat X. von Zauggs Heimatkanton und der Regierungsrat Y. des Erschiessungskantons, welche protokollarisch das Recht zur Anwesenheit auf dem Richtplatz haben, verzichteten auf diese Anwesenheit. Auch die Verteidiger wollten nicht beiwohnen. Dann die pathologisch-anatomische Diagnose (die Leichen wurden sofort seziert): Hinrichtung durch Erschiessen. 17 Treffer. 6 Kopfschüsse, 11 Brustschüsse, Sprengung der Schädelkapsel, Schädelbasisfrakturen, weitgehende Zertrümmerung des Gehirns, Schädelschwartenriss, Abriss des linken Ohrläppchens, Zertrümmerung der Brustwirbelsäule, Paravertebrale Frakturen der 2. bis 6. Rippe, 3 Herzdurch- und -streifschüsse, Zerreissung des Herzbeutels, beider Lungenoberlappen und des linken Lungenunterlappens, mehrfache Durchtrennung der Brustschlagader. Hämothorax duplex, zwei Rachenwanddurchschüsse, Zertrümmerung des rechten Humeruskopfes, vacuoläre Depression der Leber.» Signiert: Professor K., eine Kapazität auf dem Gebiet der Pathologie. Dann ein Brief vom protestantischen Pfarrer der Heimatgemeinde Zauggs (eines Dorfes im Emmental): «… dass verschiedene Geschwister nicht einverstanden sind, dass