Während in Pontresina der erste Schnee fiel, traf aus São Paulo ein Brief von Gian ein, der beschrieb, wie er sich auf dem Dach in Badehosen in den Sommerregen stellte, um sich abzukühlen.296 Liebevoll wandte er sich an das Ungeborene im Bauch seiner Ehekameradin. Gell Du liebes Kleines machst es ihr nicht allzu schwer, weisst, sie ist lieb gewesen mit Dir und tapfer. Du wirst einmal viel Freude haben an Deiner Mutter, die mit Dir allein übers weite Meer gefahren ist und mit Dir zusammen Examen machte. Schläfst Du am Abend schon früh? Kannst Du Mami auch ein wenig streicheln, so tue es am Morgen, wenn sie aufwacht, oder am Tage, wenn sie an Dich denkt, und sage ihr auch, dass ich sie sehr, sehr lieb hätte.297 Greti mochte nicht mehr warten. Sie, die es gewohnt war, ihr Leben zu planen, hielt die Ungewissheit kaum aus. Düstere Gedanken suchten sie heim, Vorahnungen, die sie nur ihrem Tagebuch anvertrauen mochte. «Es» ist unterdessen sehr gross geworden und wird nun bald, bald von mir weggehen.
Brüderlein, wenn ich dann sterbe, dann sind diese Zeilen für Dich. Ich habe Dich sehr lieb gehabt. (…) Unsere Liebe ist mir greifbarer, wirklich gewordenes Bild für Gottes Liebe. (…) Dann denke ich aber auch, dass Du sehr lieb und grosszügig warest mit mir, dass Du nie versucht hast, mir irgendwie meine Freiheit einzuschränken und dass Du sehr gut verstanden hast, dass es schwer für uns ist, Frau zu sein und auch schwer, Theologin zu sein. Du hast mich als Theologin, als Frau und als liebendes Weib verstanden. Dies muss oft sehr schwer gewesen sein für Dich, da für alle drei Fragegebiete Deine Familie und Deine Umgebung Dir das Verständnis in dieser meiner Richtung nicht gegeben hat. Du hattest gar nichts anderes als das Einfühlungsvermögen Deiner feinen Seele. Brüderlein, Du musst nun nicht traurig sein. Sieh, wenn ich am Leben geblieben wäre, wäre ich vielleicht in allen drei Richtungen gescheitert. Vielleicht wäre298 ich an meinem Beruf verzweifelt, ich wäre im Kampf für die Frauenbewegung verbittert und ich hätte unsere Ehe gebrochen, indem wir uns nicht mehr verstanden.299
Mit 24 Jahren sorgte Greti Caprez-Roffler peinlich genau vor, was bei ihrem Ableben geschehen sollte.300
Testament
Gültig für den Fall, dass ich an der Geburt des ersten Kindes, also im Januar 1931, sterbe.
I. Wenn das Kind auch stirbt.
1. Wäsche, Kleider, Strümpfe und Schuhe an meine Schwestern. Wobei Gianin das Recht hat, sich etwas z. B. den Hochzeitsrock zum Andenken auszuwählen, falls er dies will. Dazu hat er Anspruch auf siebzig Franken für Strümpfe und Schuhe, die vor Kurzem aus seinem Geld gekauft wurden. Auch die Schuhe, die er gerne tragen will, soll er behalten.
2. Tagebücher und alle andern Bücher, die Gianin wünscht, an Gianin.
3. Die übrigen Bücher an Christa oder Papa.
4. Verlobungs- und Hochzeitsgeschenke an Gianin.
5. Patensilber an Mami.
II. Wenn das Kind lebt
1. Wäsche, Kleider, Strümpfe und Schuhe an meine Schwestern, aber zu billigem Preis auszulösen und der Erlös dem Kinde ins Sparheft zu legen.
2. Tagebücher an Gianin.
3. Alle Bücher an das Kind.
4. Verlobungs- und Hochzeitsgeschenke an Gianin, mit ausschliesslichem Erbrecht meines Kindes.
5. Patensilber an das Kind.
Auch in Bezug auf die Trauerfeier hatte Greti klare Vorstellungen. Trübsal blasen sollte die Gesellschaft nicht.
Es soll weder jemand aus meiner noch jemand aus Gianins Familie in Trauerkleidern gehen.
Igis,
Anfang der 1920er-Jahre
Die Pfarrfamilie im Sonntagsstaat. Legende: Familie Roffler-Luk (Josias ∞ Elsbeth) • Greti, Käti, Christa (Elsi fehlt) und deutsches Ferienkind Traudel.301 Vermutlich hatten Gretis Eltern in jenen Nachkriegsjahren einem Kind aus Deutschland sorgenfreie Ferien ermöglichen wollen. Links der Kirche liegt das Pfarrhaus, dahinter blitzt weiss die Landquarter Industrie. Warum Elsi, das dritte Kind in der Geschwisterfolge, nicht auf dem Bild ist? Ob sie wie so oft mit den Nachbarsbuben spielt?
Die Mutter wirkt entspannt im Herz der Familie. Der Vater scheint dem Hochzeitsbild entsprungen, gleiche Frisur, Schnurrbart, dunkler Anzug und weisses Hemd. Von oben blickt er auf seine älteste Tochter, an Frau und Sohn vorbei. Er und Greti hatten eine enge Beziehung, die spätere Pflegetochter meint gar: zu eng. Greti, mit locker zusammengebundenem Haar, schaut in die Ferne, vielleicht zum Tritt, dem halsbrecherischen Fussweg, der hinter Igis die Felswand hinauf nach Valzeina und Furna, dem Dorf der Grosseltern, führt. Furna, Gretis Sehnsuchtsort, von dem sie nicht ahnt, dass er wenige Jahre später ihr Schicksal werden wird.
Pfarrerstochter
Am 17. Januar 1931, um sechs Uhr abends platzte die Fruchtblase.302 Fast gleichzeitig begann es zu schneien. Wegen der Kälte schlief Greti nicht mehr im unbeheizten Hochzeitszimmer, sondern richtete sich stattdessen im holzgetäfelten Ofenzimmer ein.303 Nach dem Abendessen legte sie sich erwartungsvoll ins Bett. Brüderlein, werden wir «es» morgen haben. Die ganze Familie planget darauf.304 Es war Samstag, und die Nacht hindurch fielen dicke Flocken vom Himmel. Der Kachelofen verbreitete eine wohlige Wärme. Nachts um halb drei spürte sie ein leises Weh, doch am Morgen waren die Schmerzen wieder verklungen.305
Um die Zeit zu vertreiben, liess sich Greti von ihrer Schwester Elsi die Skis anschnallen. Zusammen mit der Hebamme Anny, die zur Geburt angereist war, zogen sie los,306 pflügten im Pfarrhausgarten mühselig eine Spur durch das unberührte Weiss, zwischen den Zwetschgen- und Kirschbäumen hindurch, über den Kartoffelacker, vorbei am Hühnerhaus. Im Sommer watschelten hier Enten herum, Hühner scharrten und Schweine gruben ihre Rüssel in die Erde.307 Es war schön, durch das Gestöber über den vielen, weichen Schnee hinauszuschleifen, aber jetzt bin ich reichlich müde.308 Früher hatte sie sich hier tagelang mit den Nachbarskindern herumgetrieben. Im Winter kraxelten sie mit dem Schlitten auf die Hügel und sausten johlend hinunter. Im Sommer boten der Garten und der verwinkelte alte Dorfkern Verstecke.309
Als sie mit neunzehn vor der Matura vom Deutschlehrer die Aufgabe erhielt, ein Curriculum Vitae zu verfassen, füllte sie zwei Schulhefte mit Kindheitserinnerungen und dachte darüber nach, wie sie zu der jungen Frau geworden war, die sie war. Die Puppen langweilten mich. Es gefiel mir viel besser, über die Dorfkinder zu herrschen, denn als Pfarrerskind hielten sie mich für etwas Besseres. Dazu war ich von einer wahren Herrschsucht beseelt und jedes, das nicht gehorchen wollte, wurde unbarmherzig aus unserm Kreise verbannt.310
Wie Greti mit den Dorfkindern umsprang, so behandelte der Vater sie zu Hause. Später erinnerte sie sich an eine Familienkultur voll Streit und Strafen. Ich fürchtete mich entsetzlich vor Schlägen. Obgleich wir wussten, dass unser Vater den Zank nicht leiden konnte, stritten wir Geschwister oft und hartnäckig.311 Hörte der Vater Geschrei aus dem Kinderzimmer, befahl er den Töchtern, den Stecken zu bringen, der im Korridor auf dem Spiegeltisch lag. Manchmal versuchte Greti, ihn mit Argumenten von der Prügelstrafe abzubringen, in seltenen Fällen gelang ihr das auch. Eines Morgens stritt ich mit meiner Schwester. Erbost versetzte ich ihr einen Hieb. Da rief uns der Vater aus dem Nebenzimmer. In den Hemdchen traten wir an sein Bett und erwarteten voll Angst eine Strafe. Er fragte nach der Ursache des Streits, und ich erzählte ihm alles und fügte hinzu: «Ich konnte nicht anders, es zuckte mir in der Hand, und ich musste sie schlagen. Es ist dasselbe, das Du in Dir hast, und von dir erbte ich es.» Wortlos schickte er uns weg.312 Eine Gegenwelt zur strengen Herrschaft des Vaters fand Greti in der Fantasie. Ich lebte in jenen Jahren überhaupt in einer eigenen Geschichten- und Märchenwelt. Wenn meine Mutter mich irgendwohin schickte, ging ich gerne allein, kümmerte mich nie darum, was auf der Strasse vorging, sondern ging träumend und Geschichten aussinnend dahin. Es kam öfters vor, dass ich laut vor mich hinsprach. Ich konnte auch lange Zeit am selben Fleck sitzen und an meinen nie endenwollenden Geschichten weiterspinnen.313
Mit neunzehn Jahren zog Greti Bilanz: Der Vater habe mit seiner strengen Erziehung