Christina Caprez

Die illegale Pfarrerin


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«Warte Du nur, bis ich einmal gross sein werde.» Ich glaube, kluge Überredung hätte bei mir weit mehr ausgerichtet, denn ich fragte von jeher nach dem «Warum» und werde jetzt noch von vielen ausgelacht, weil ich immer frage: «Warum?» Diese Strafen mögen auch schuld sein an dem Mangel an Selbstvertrauen, unter dem ich leide.314

      Der strenge Pfarrer versagte der Tochter auch die Vergnügungen der Dorfjugend.315 Verzweifelt schaute Greti vom Fenster aus den Paaren zu, die beschwingten Schrittes zum Gasthaus zogen. War ich denn nicht jung und fröhlich! Wozu hatte ich denn heile Glieder, wenn ich sie nicht brauchen durfte? Sollte meine Jugend denn nur aus Lernen und Streben bestehen, und sollte ich das Beste, das ihr gegeben ist, die Fröhlichkeit, die Lebenslust und Lebensgier unterdrücken, nur weil ich in der menschlichen Gesellschaft den Rang einer Pfarrerstochter einnahm, den ich mir ja nicht einmal selbst gewählt. War ich denn «besser» als andere?316 Heimlich zog sie los und mischte sich unter die Tanzenden. Im Säli drehte sie einige Runden in den Armen der jungen Burschen, mit denen sie noch wenige Jahre zuvor Verstecken gespielt hatte. Lange traute sie sich nicht wegzubleiben. Nach einer Dreiviertelstunde schlich sie zurück ins Pfarrhaus, doch ihr Ausflug blieb nicht unentdeckt. Das erwartete Donnerwetter ertrug sie geduldig. Nach einer Woche eisigen Schweigens bat sie den Vater, ihr nicht mehr böse zu sein. Mit keinem Worte bat ich ihn um Verzeihung oder sprach von Reue, denn ich fühlte keine, und Reue heucheln konnte ich nicht. Ich wusste nur, dass ich es um des lieben Friedens und der Reputation meines Vaters willen nicht mehr tun würde.317

      Tina Münger, 1925–2017, Pflegekind bei Gretis Eltern

      vom ersten Lebensjahr bis zur Konfirmation

      Ich durfte nie ins Dorf, nicht mal im Winter schlitteln mit andern Kindern. Sie hatten Angst, ich könnte etwas erzählen, das nicht zum Pfarrhaus hinaus darf. Ein Kind erzählt halt schnell mal etwas. Es hiess immer: Du gehörst nicht zu uns. Das tat unheimlich weh, das glaubt man gar nicht. Und doch – wenn es ums Helfen ging, da war ich ihnen recht. Ich musste es mir verdienen, dass ich dort sein durfte. Im Garten, das Pfarrhaus sauber halten, Fenster putzen, Böden putzen, Kästen rausputzen. Furchtbar! Weisst Du, man lebte ganz anders als heute. Nur allein ein Waschtag, da bist Du ja fast draufgegangen. Heute schmeisst Du das Zeug in die Maschine. Damals musstest Du reiben und raspeln und machen.

      Papa Roffler konnte mich plagen bis aufs Blut, wenn er kontrol­lierte, ob ich in meinem Zimmer Ordnung halte. Er war so rechthaberisch. Er hat einem alles vergönnt, irgendwie. Man ist nicht drausgekommen, ist es der Beruf, der ihm nicht passt – was passt ihm nicht? Ich hatte einfach das Gefühl, das ganze Leben passt ihm nicht.

      Nach dem väterlichen Machtwort war klar: Als Pfarrerstochter würde Greti in Igis immer eine Aussenseiterin bleiben.318 Immer ­öfter sehnte sie sich nach Furna. In dem Zweihundertseelendorf hoch über dem Prättigau lebten ihre Grosseltern, bei denen sie fast alle Schulferien verbrachte. Wenn sie im Tal aus dem Zug stieg und die stündige Wanderung zum Dorf hoch unter die Füsse nahm, freute sie sich, von den Entgegenkommenden das vertraute Furnerdeutsch zu hören. Schon beim Aufstieg wurde aus dem «Grüazi», das auf der zweiten Silbe betont kurz und fremd tönt und bei vornehmen Churerdamen zu einem bauchartigen «zi» wird, das vertraute, ein wenig naive «Grü-azi», das auf der ersten Silbe betont ist.319 Unbewusst glich ich meine Sprache der ihren an.320 Während der Ferien ging Greti ganz im Bauernleben auf. Ich machte meinem Grossvater jeden Abend den Stallknecht. Ich mistete den Stall aus, brachte den ­Tieren Wasser und Heu und melkte die Ziegen. Ich tauchte unter in dem Leben, dem Denken und Fühlen meiner Landsleute.321

      In Furna fühlte sie sich frei und wiegte sich in der Illusion, endlich nicht mehr aussergewöhnlich zu sein. Fern der väterlichen Argusaugen ging sie mit den Bauernkindern zum Tanz. Es wurde auf einem Bretterboden, in einem kleinen, nur von einer Pet­roleumlampe erhellten Raume getanzt, und es war sehr gemütlich. Doch sie spürte bald, dass sie auch hier nicht dazu gehörte. Ich denke und empfinde anders als sie, obwohl ich von ihnen abstamme und vom selben Holz bin wie sie.322 Greti war überall fremd: als Pfarrerstocher an ihrem Wohnort Igis, als Auswärtige in ihrem Heimat­dorf Furna. Wo ich daheim bin und wo ich wurzle, werde ich als eine Fremde empfunden, und wo ich meinesgleichen finde, bin ich nicht daheim.323

      Elsi Aliesch-Nett, geb. 1925, Gretis Cousine

      zweiten Grades, aufgewachsen in Furna324

      Gretis Grosseltern waren Bauern im Bodenhaus in Furna, Joos war ein Einzelkind. Mir hat man erzählt, dass der Pfarrer und der Lehrer einmal ins Bodenhaus kamen und den Vater bearbeiteten, Joos nach Chur ins Gymnasium zu schicken, der sei doch so intelligent. Später war dann die Frage: Was jetzt? Eigentlich wollten die Eltern, dass der einzige Sohn den Bauernhof übernimmt, und sie hatten keinen Rappen, um ihn studieren und auswärts wohnen lassen. Wenn man Theologie studierte, bekam man Stipendien. Man musste dafür nach Abschluss des Studiums fünf Jahre im Kanton als Pfarrer arbeiten. Und der Christa, der Vater von Joos, war sehr, sehr fromm. Der freute sich, dass der Sohn Pfarrer studierte. Der Joos hätte eigentlich lieber Geschichte und Mathematik studiert. Das ging aber wegen des Geldes nicht.

      Anna Bühler, geb. 1919, Hausangestellte

      bei Gretis Eltern als 16- bis 20-Jährige325

      Ob er ein guter Pfarrer war? Ach, darüber möchte ich eigentlich nichts sagen. Man kann wohl kein guter Pfarrer sein, wenn man muss. Pfarrer Roffler musste ja Theologie studieren. Er hat mir mal gesagt, er habe eigentlich Jurist werden wollen, durfte aber nicht. Jurist wäre das Rechte gewesen für ihn, hatte ich den Eindruck. Aber das gab es halt früher, dass die Kinder das machen mussten, was die Eltern wollten.

      Sein Talent für Zahlen und Gesetze lebte Joos Roffler im Nebenamt aus, als Präsident326 der Stiftung Für das Alter, einer Vorläuferin der AHV, seinem Interesse für Geschichte und Politik ging er als Chefredaktor der Wochenzeitung Graubündner General-Anzeiger nach. Darüber lehrte er Bienenzucht an der kantonalen Landwirtschaftsschule Plantahof.327

      Maria Metz, geb. 1935,

      Tochter von Gretis Schwester Käti328

      Der «Graubündner General-Anzeiger» war zu jener Zeit, vor allem im Ersten Weltkrieg, eine wichtige Informationsquelle. Mein Grossvater trug dazu Nachrichten aus der ganzen Schweiz und auch von sonstwo zusammen. Dieser General-Anzeiger beschäftigte die ganze Familie! Joos verlangte von seiner Frau Rezepte, um sie in der Zeitung abzudrucken, aber Betty war keine gute Köchin. Eine Leserin reklamierte darum, das könne man gar nicht kochen. Da setzte es ein Donnerwetter von Joos, doch Betty nahm alles leicht. Die Töchter mussten die Zeitung im Dorf austragen, was meine Mutter hasste.

      Warum es Joos Roffler angesichts der eigenen unglücklichen Berufswahl wohl so wichtig war, eines seiner Kinder dereinst in seinen Fussstapfen zu sehen? Und woher er den Mut und den Horizont nahm, die Erstgeborene trotz ihres Geschlechts zu seiner Nachfolgerin zu bestimmen? Klar ist: Als Betty Roffler drei Töchter in Folge gebar und sich die älteste durch Wissbegierde und gute Schulleistungen auszeichnete, legte er all seine Hoffnungen in sie. Daran änderte auch die Geburt des Sohnes, als Greti zehn Jahre alt war, nichts mehr. Zwar sah der Vater auch ihn als Pfarrer, doch er wehrte sich erfolgreich gegen die väterlichen Pläne und studierte an der ETH Elektroingenieur.329 Greti hatte das Theologiestudium zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen.

      Als Kind sträubte sich die Älteste jedoch immer wieder gegen Vaters Willen. Im ersten Sekundarschuljahr fragte er sie, ob sie später die Kantonsschule besuchen wolle, doch sie wies diese Möglichkeit weit von sich. Ein Mädchen ging doch nicht auf die Kantonsschule!330 Tatsächlich waren Schülerinnen seit acht Jahren zur Kantonsschule Chur zugelassen, die erste hatte vor drei Jahren die Matur gemacht.331 Der Vater liess nicht locker und zerstreute Gretis Zweifel mit dem Argument, sie müsse ja nicht auf eine Kanzel steigen, es gebe genügend soziale Arbeit für weibliche Kräfte, vorderhand hätte sie nichts zu tun, als sich von ihm in Latein un­ter­richten zu lassen.332 Joos Roffler versteckte seine Ambi­tionen hinter einem bescheidenen vorderhand und verschleierte damit ihre Sprengkraft. Er übte sich in Zurückhaltung und überzeugte so seine Tochter. Zu Hause sitzen mochte sie nicht, und für ein Haushaltslehrjahr war es noch zu früh.333 Ich zählte sowieso erst volle zwölf Jahre und musste irgendwohin an eine andere Schule; warum sollte es da nicht die Kantonsschule sein? Als Maturandin bilanzierte sie: Jetzt wollte ich nicht, ich hätte die Kantonsschule nicht