(Vielleicht hat Bavaud auch mit den Göring- und Bormann-Kindern die französische Grammatik geübt.)
Nur ganz zum Schluss sei ein unangenehmer Zwischenfall zu verzeichnen gewesen. Eine fanatische Lehrerin, die nicht merkte, dass sich das Blatt wendete, habe sich im Frühjahr 1945 auf die Strasse gestellt und einen amerikanischen Panzer mit dem Hitler-Gruss begrüsst, worauf der Panzer mit einer Maschinengewehr-Garbe geantwortet habe und die Lehrerin tot umgefallen sei. Sonst habe die Politik im Lehrkörper keine Opfer gefordert, nur im Krieg seien einige Lehrer, und natürlich auch Schüler, umgekommen.
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Auf dem Friedhof von Berchtesgaden sind innen an der Umfassungsmauer zahlreiche Grabplatten eingelassen. Es handelt sich nicht um eigentliche Gräber, die entsprechenden Gebeine sind abwesend. Jede Platte zeigt ein wetterbeständiges Foto, meist junge Gesichter. «Zum Andenken an den tapferen Krieger Anton Stangassinger vom Gebirgsjägerregiment 137. Teilnehmer am französischen, russischen und Afrika-Feldzug», heisst eine Inschrift. «Er ruht in russischer Erde». Andere ruhen in kretischer, rumänischer, ungarischer Erde. Die Fotos schauen in Richtung Berghof, die Blicke der Toten fixieren starr den Hang, wo der andere wohnte, der ihnen die Feldzüge samt Tapferkeit eingebrockt hat.
Auf manchen Platten sind auch die Orden erwähnt, Ritterkreuz etc., usw.
Alles ganz normal.
1938 waren die hier Verewigten noch fröhliche Soldaten gewesen.
«In den letzten Tagen», schrieb das Lokalblatt zu Bavauds Zeiten, am 27. Oktober 1938, «hielt ein Bataillon des Gebirgs-Jäger-Regiments 137 seinen Einzug in Saalfelden. Am Samstag trat es zur Vereidigung an. Auf dem festlich geschmückten Hauptplatz hatten sich zur Begrüssung viele Saalfelder eingefunden. Der Führer des Bataillons, Major Heller, machte die angetretenen Rekruten auf die Mannes- und Soldatenpflichten aufmerksam und nahm ihnen den Eid ab. Jedem alten Soldaten lachte das Herz im Leibe angesichts der strammen Soldaten. Eine besondere Weihe erhielt die Feier durch die Teilnahme der Gebirgsjägermusik aus Bad Reichenhall, die nachmittags auf dem Hauptplatz ein Konzert gab.»
An Allerseelen werden die Grabplatten regelmässig mit Blumen geschmückt.
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Man habe sich damals angepasst und ohne Anpassung keine Arbeit kriegen können, sagt Studienrat Schertl. Er sei nach
der Ausbildung arbeitslos gewesen und habe erst nach seinem Beitritt zum Nationalsozialistischen Lehrerbund die Stelle in Berchtesgaden bekommen. Man passe sich an, sagt die junge Referendarin Heike B., die seit kurzem am Berchtesgadener Gymnasium fungiert, und während der Ausbildung dürfe man zwar denken, was man wolle, aber bei der Stellen-Vermittlung spiele die Persönlichkeits-Bewertung, wie sie es nennt, eine Rolle, und einige von ihren Kollegen seien deshalb stellenlos, und sie finde diese Entwicklung beunruhigend, aber am besten verhalte man sich ruhig, machen könne man nichts. Dann zahlt sie und geht mit Studienrat Schertl wieder ins Gymnasium, der nachmittägliche Unterricht beginnt pünktlich wie immer, und wir gehen auch wieder an die Arbeit nach dem gemütlichen Mittagessen im Gasthof, und seine Bodenständigkeit wird uns lange in Erinnerung bleiben und die Knödel lange den Magen beschweren.
Am Obersalzberg gibt es keine deutschen Soldaten mehr, die Amerikaner halten die Gegend besetzt seit 1945, ihre Soldaten erholen sich vom Militärdienst und fahren dort Ski, wo einst die Häuser der prominenten deutschen Politiker gestanden sind. Sie nennen das RECREATION AREA, Erholungsgebiet. Als Villi die Uniformen sieht, wird er ganz verstört, wir müssen ihn beruhigen, er hat prinzipiell etwas gegen Uniformen und bleibt noch lange zapplig, das ist der Arbeit nicht zuträglich. Diese Seckel, sagt Villi, haben vor kurzem noch Krieg geführt in Südostasien und sich dann hier erholt, wo sich schon der andere erholte.
Villi tut, als ob der Vietnamkrieg noch nicht fertig wäre, und als ob, im Winter 1979, nicht ein Präsident regierte, der für die Menschenrechte schwärmt. Des Führers Residenz ist geschleift worden von den Amerikanern, es ist Gras darüber gewachsen. Nur die unterirdischen Gänge sind intakt geblieben, der Unterbau. Man muss 1 Mark einwerfen, das Drehkreuz bewegt sich, es geht in die Tiefe, DAS VERSCHMIEREN DER WÄNDE WIRD VON KONTROLLORGANEN ZUR ANZEIGE GEBRACHT, steht auf den von dieser Inschrift verschmierten Wänden. Es sind aber keine Kontrollorgane zu sehen, wir sind allein hier unten, und es ist kalt. Irgendwo tropft Wasser. HIER BEFINDEN SIE SICH CA. 10 METER UNTER DER ERDE. GERADEAUS SEHEN SIE: 1 MASCHINENGEWEHRSTAND UND 1 SEHSCHLITZ. Bei jeder rechtwinkligen Biegung des Ganges wieder 1 Maschinengewehrstand und 1 Sehschlitz. HINTER DIESER BACKSTEINMAUER BEFANDEN SICH DIE PRIVATEN RÄUME VON ADOLF HITLER UND EVA BRAUN. NICHT BETRETEN. EINSTURZGEFAHR. Wendeltreppen, rostige Türen, verrostete Geschichte, der Widerhall vom Schlurfen unserer Schuhe in den endlosen Gängen, Wendeltreppen und wieder ins Licht, dann Hundegebell. Ein fletschender Wolfshund, ein deutscher Schäfer, ein historischer Hund, wartet am Ausgang des Bunkers, bedroht Villi, der Hunde nicht riechen kann und wegrennt und auf das Autodach flüchtet, wohin ihm der Hund nicht folgen kann.
Hier hat früher ein renommierter Wolfshund gelebt, Blondi, der hat H. auf seinen Spaziergängen begleitet und sei von ihm geliebt worden.
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Bei der Rückkehr in die Pension Watzmann sitzt einer am Tisch, der uns bekannt vorkommt. Irgendwo haben wir den schon gesehen. Der sitzt starr vor seinem Bier und hat eine Haarsträhne in die Stirn gekämmt, schräg. Dann reisst er die Hand hoch und ruft: Wir brauchen wieder einen Führer.
Das meint er nicht ernst, er macht sich einen Jux, und alle finden das lustig, wenn Herr L., der tagsüber in einem Comestible-Laden arbeitet, zur Karnevalszeit den H. mimt, hier, wo der richtige H. gelebt hat. Man klopft sich allgemein auf die Schenkel. Nachdem er sein Schnäuzchen abgeschminkt hat und die Strähne nach oben gekämmt ist, findet L. wieder zurück zu seiner eigenen Stimme und sagt jetzt in ruhigem Ton, er spiele den H. schon lange und mit immer gleichbleibendem Erfolg, zuerst für die amerikanischen Soldaten, dann auch für deutsches Publikum, und ein kleiner H. könne, Spass beiseite, nicht schaden in der deutschen Politik, damit die Situation bereinigt und alles Fremde ausgemerzt werde, das alte Reich werde nicht wieder kommen, aber ein kleines Deutschland, ein echtes Deutschland, und eine Ordnung.
Niemand widerspricht, im Gegenteil; breite Zustimmung am Stammtisch.
Auch die Plaketten auf dem Friedhof finden alle ganz normal. Es war ein Raubkrieg, die halbe Welt wurde verwüstet, die jungen Berchtesgadener in die Armee gepresst, Bauchschüsse, abgefrorene Glieder in Russland, Hunger, Verlassenheit und Krepieren. Vor sich den Feind und hinter sich den General, und auf dem Friedhof sind es tapfere Krieger geworden. Das muss vermutlich so sein, sonst wäre der Nachschub nicht in den Krieg gezogen, wenn die Wahrheit auf den Gräbern ständ.
Von Bavaud weiss man, dass er Pazifist gewesen ist.
Ein deutscher Onkel
Die Waffe, mit welcher der Führer erschossen werden sollte, hatte Bavaud noch in der Schweiz erstanden, am 20. Oktober 1938 in Basel,
wo er in dem Waffengeschäft des Büchsenmachers Bürgin, am Steinentor 13, für einen Preis von etwa 30 Franken eine Pistole Marke «Schmeisser», Kaliber 6.35 mm sowie 10 Patronen kaufte.
Den Büchsenmacher Bürgin gibt es immer noch, das Geschäft floriert, danke, und blieb in der Familie, der heute regierende Prinzipal war damals bei seinem Vater als Lehrling angestellt. «Um eine Person mit dieser Pistole reparaturunfähig zu schiessen», sagt Bürgin, «müsste man sich ihr bis auf ca. drei Meter nähern». Bürgin hat Bavaud nicht in Erinnerung, auch sein Vater habe ihm nie etwas von diesem Pistolenkauf erzählt, für den man, bei dem kleinen Kaliber, seinerzeit keinen Waffenschein gebraucht habe.
Bavaud ist auch hier nicht aufgefallen.
Die Pistole sieht sehr enttäuschend aus, hat auf einer Handfläche Platz. Wir haben uns eine Attentats-Pistole anders vorgestellt. Bürgin nennt sie eine Damenpistole. Warum hat Bavaud nicht eine größere gekauft? Geld hatte er genug.
Andrerseits war die Schmeisser 6.35 praktisch, verursachte keine Ausbuchtungen in der Tasche, beim Kauf wurden keine störenden