Niklaus Meienberg

Es ist kalt in Brandenburg


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in Berlin und München erregte das kleine Kaliber ebenfalls keinen Verdacht. Der Munitionsverkauf an Personen, die das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt hatten, unterlag damals in Deutschland keiner Beschränkung. Alles hing also davon ab, wie nahe der Attentäter an die Person des Führers herankommen konnte. Die Handhabung der Pistole war nicht schwierig, der friedliche Roger Jendly, unser Bavaud-Darsteller, welcher so wenig wie Bavaud etwas von Pistolen verstand, hat es nach einer kurzen Erläuterung kapiert und befriedigende Resultate erzielt im Schiesskeller des Waffenhändlers.

      Man sei damals wie heute einfach zur Verfügung gestanden, sagt Bürgin, vor dem Krieg habe der Waffenverkauf zugenommen, und jetzt auch wieder, was vielleicht aus der Terroristenszene abgeleitet werden könne, und wenn es regne, verkaufe man auch mehr Regenschirme, das sei aber vielleicht ein hinkender Vergleich.

      Viele Institute, resp. Banken, hätten unterdessen ihr eigenes Schiesstraining eingeführt und müssten sich mit Waffen ausrüsten resp. eindecken, das sei ein Gebot der Stunde, aber nicht nur in Basel, sondern gesamtschweizerisch.

      Darauf schiesst Jendly ein paarmal im Schiesskeller, zuckt zuerst, trotz Gehörschutz, ein wenig zusammen, bekommt dann eine ruhige Hand und kontrolliert die Einschläge auf der Zielscheibe, während Hans mit seiner Kamera schiesst, und auf Villis Tonband zuckt die Geräuschanzeigenadel. Die kleine Pistole macht einen völlig unproportionierten, lauten Krach. Es ist noch akkurat dasselbe Modell wie 1938, sagt Bürgin, die hat sich bewährt. Aber ein Attentat mit diesem unscheinbaren Ding –.

      In der Attentatsliteratur kommen Bomben, Gewehre, Maschinenpistolen, Gift, grosskalibrige Pistolen vor, aber keine Schmeisser 6.35. Bavaud hat damals null Erfahrung im Umgang mit Waffen gehabt, war noch nicht in der Rekrutenschule gewesen, welche ihn diesbezüglich einiges gelehrt hätte, als Auslandschweizer hatte er Dispens vom Militärdienst bekommen. Er war kein Spezialist. Und er konnte den Waffenhändler nicht fragen: Würden Sie mir bitte sagen, mit welchem Kaliber ich am besten ein Attentat verübe?

      ***

      Im Sommer 1941 habe er eine erstaunliche Feststellung gemacht, berichtet Kurt Gschwend, der damals fünfzehnjährig war, Auslandschweizer, und in Augsburg lebte. Es sei bekanntgegeben worden, dass H. mit seinem Sonderzug in Augsburg erscheinen werde, auf der Durchreise. Die Notabeln der Gegend, Bürgermeister, Gauleiter etc., hätten sich zu diesem Zweck auf dem Bahnsteig eingefunden. Der Bahnhof ringsherum abgesperrt, grosses Polizei- und Militäraufgebot, Posten an der Bahnhofsperre (Eingang). Damals hatten die deutschen Bahnhöfe Eingangs- und Ausgangssperren, wo die Billette kontrolliert wurden. Er habe sich mit einem Kameraden in der Nähe des Bahnhofs herumgetrieben, nur so zum Plausch, und überrascht festgestellt, dass die andere Sperre (Ausgang) völlig unbewacht gewesen sei. Vermutlich hätten die deutschen Sicherheitsbeamten angenommen, dass kein anständiger Deutscher auf den Gedanken komme, durch einen Ausgang in den Bahnhof hineinzugehen, oder es sei sonst eine Panne gewesen. Item, er sei mit dem Freund hineingeschlüpft in den Bahnhof und habe dort zuerst eine leere Zugskomposition gesehen, welche, gewissermassen als Schild, jenes Perron abgeschirmt habe, auf welchem der Sonderzug erwartet worden sei. Weil vermutlich in keinem Reglement vorgeschrieben war, dass dieser Zug verriegelte Türen haben musste, seien sie ohne weiteres dort eingedrungen, und auf der andern Seite wieder hinaus, ohne von irgendwelcher Polizei behelligt zu werden. Musik, Kommandotöne, der Sonderzug fährt im Schritt-Tempo ein, H. am offenen Fenster, er, Gschwend, ca. zwei Meter entfernt, der andere greifbar nahe – da habe er unwillkürlich gedacht, wie günstig der Augenblick gewesen sei für einen spontanen Schuss. Niemand habe ihn beachtet, die Polizeideckung auf dem Perron sei minim gewesen, keiner habe dort mit einem Attentäter gerechnet, weil die Absperrmassnahmen ringsherum so gründlich waren. Kurt Gschwend, der diese Episode 1980 erzählt, macht keinen exaltierten Eindruck, eher einen handwerklich-soliden (er arbeitet heute als Buchhersteller in Bern).

      Das war 1941, H. wurde viel besser beschützt als 1938. Damals, vor dem Krieg, und vor den ersten seriösen Attentaten, waren die Chancen nicht schlecht. In Berchtesgaden zum Beispiel, so erzählt der Lokalhistoriker Hellmuth Schöner, habe H. auch nach der Einrichtung des Sperrbezirks noch bis zum Krieg seinen Lieblingsspaziergang gemacht, mit wenigen Begleitern, sozusagen in freier Natur, vom Lindenweg zum Hochlenzer hinauf. Das Terrain sei vor den Spaziergängen nicht durchsucht worden.

      Und der Wirt Schwaiger von der Pension Watzmann, ein gestandener Berchtesgadener, erinnert sich, – nein, soweit reicht seine Erinnerung nicht zurück, er war noch zu klein, – erzählt, dass seine Eltern ihm erzählt haben, H. habe ihn, den kleinen Schwaiger, buchstäblich auf den Arm genommen, wie er es oftmals mit Kindern zu tun pflegte, die von den Eltern ihm dargebracht wurden im Berghof oben, wo man noch in den späten dreissiger Jahren in seine Nähe gelangen konnte, gruppenweise, wenn man unauffällig war.

      ***

      Zum Reisen braucht es Geld. Wir haben es vom deutschen Fernsehen, vom deutschschweizerischen Fernsehen und von der Schweizerischen Eidgenossenschaft gekriegt, Abteilung Hürlimann (Kultur). Bavaud hat es der Mutter geklaut.

      Kann man sich vorstellen, was es für einen gut erzogenen, katholischen, mittelständischen Burschen bedeutet, der eigenen Mutter sechshundert Franken zu entwenden? Er musste tief sitzende Hemmungen überwinden. Nach allem, was man weiss, hat er ein gutes Verhältnis zur Mutter gehabt, war keineswegs mit ihr verkracht, die Familie lebte in Harmonie, er war der grosse Bruder, ein Vorbild für die jüngeren Geschwister. Immer tadellos, sagen die Geschwister.

      Die Reise nach Deutschland, die der überzeugte Katholik Bavaud am 9. Oktober 1938 in Neuchâtel angetreten und am 13. November desselben Jahres in Augsburg beendet hat, begann mit einem Verstoss gegen das vierte Gebot (Elternliebe) und gegen das siebte Gebot (Eigentumsgarantie) und setzte sich fort mit massenhaften Verletzungen des achten Gebots (Wahrheitsliebe). Sie gipfelte in der Absicht, das fünfte Gebot zu übertreten (Tötungsverbot). Das hätte Einiges zu beichten gegeben.

      Du sollst, Du sollst nicht, Du sollst. Du sollst Vater und Mutter ehren, Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut. Maurice hat gestohlen, gelogen, gefälscht, getäuscht, geprellt, hintergangen; töten wollte er auch. Strafgesetzbuch und Bibel, die in der wohlbeleumdeten Familie Bavaud hochgehalten wurden, hat er souverän ausser Kraft gesetzt während seiner Deutschlandreise. Was gab ihm die Kraft, den christlich-bürgerlichen Schatten zu überspringen?

      Nichts in seiner Vergangenheit hat ihn für diese Reise prädestiniert. Er wurde nicht jesuitisch erzogen, sondern von den Frères de l’Ecole chrétienne in Neuchâtel und später von den Pères du Saint-Esprit in Saint-Ilan. Und doch hat er später zu Protokoll gegeben:

      Dass er sich die Mittel zu der Reise nach Deutschland durch Diebstahl zum Nachteil seiner Eltern verschafft habe, sei ihm in Hinsicht auf sein Ziel nicht so verwerflich erschienen und werde auch durch sein Vorhaben einigermassen bei ihm moralisch gerechtfertigt. (Urteilsbegründung)

      Geld war nötig für die Reise, und als es ihm ausgegangen war …

      sein Vorhaben habe er schliesslich in Bischofswiesen am 12. November 1938 nur deshalb aufgegeben, weil er kein Geld mehr gehabt habe. Andernfalls hätte er noch weiter abgewartet, bis sich ihm eine günstige Gelegenheit zur Ausführung des geplanten Mordanschlages geboten hätte. (Urteilsbegründung)

      Zum Reisen braucht es auch einen Pass. Dieser war abgelaufen, Bavaud liess seine Gültigkeitsdauer am 4. Oktober 1938 bis zum 4. November verlängern. Dann stahl er das Geld bzw., wie die Akten sagen,

      beschaffte er sich die erforderlichen Geldmittel dadurch, dass er sich auf Grund seiner genauen Ortskenntnis den zweiten Schlüssel zu dem im Geschäft seiner Mutter befindlichen Geldschrank aneignete und dann aus diesem den Betrag von etwa 600 Schweizer Franken entwendete.

      Die Mutter betrieb ein kleines Gemüsegeschäft, der Sohn hatte in den Ferien ein bisschen ausgeholfen, deshalb die genaue Ortskenntnis. Auf diesen Diebstahl kommen die Akten nochmals zurück, sorgenvoll vermerken sie seine Verwerflichkeit – nicht genug, dass einer den Führer erschiessen will, er klaut auch noch bei der eigenen Mutter! Die Richter, die ihn töten werden, sind beleidigt ob soviel Rücksichtslosigkeit, ihr Kummer scheint auf in den korrekt gebauten, sorgfältig gedrechselten Richtersätzen mit den vielen Relativpronomen.

      Am