scheinen ihr alle etwas zu eng. Endlich findet sie etwas, ein auffälliges gelbes Exemplar, das an Hässlichkeit kaum zu überbieten ist. Sie schlüpft hinein, das Ding passt, dann wühlt sie sich durch einen Stapel Kopftücher, die wohl kaum jemand mit gesundem Farbempfinden kaufen würde, fischt sich ein giftgrünes quadratisches Exemplar heraus, packt noch eine grosse Sonnenbrille dazu und geht zur Kasse.
Auch hier herrscht ein unglaubliches Gedränge, und so reagiert Margrittli kaum, als sie angerempelt wird. Erst als der Mann neben ihr seinen Kopf hinunterneigt und zu flüstern beginnt, zuckt sie zusammen.
«Ich muss dringend mit Ihnen sprechen, schauen Sie bitte geradeaus, es muss niemand merken, dass wir uns kennen.»
Auch Margrittlis Stimme ist kaum hörbar: «Meine Mutter hat mir verboten, mit fremden Männern zu sprechen, gerade im Ausverkauf sei das sehr gefährlich.»
«Wir kennen uns, Frau Durrer.»
Margrittli dreht den Kopf zur Seite, starrt dann wieder geradeaus. «Hallo! Sie sind der nette Hundebesitzer von gestern Abend. Haben Sie Ihren Lucky inzwischen gefunden?»
«Das erzähle ich Ihnen später. Bezahlen Sie Ihre Waren, dann treffen wir uns in der Multimediaabteilung, es ist wichtig.»
«Und wenn ich nicht komme?»
«Denken Sie an Marguerite Duval.»
Doch bevor Margrittli etwas antworten kann, ist der Fremde bereits in der Menge verschwunden.
FÜNF
Marguerite Duval erwacht. Ihr Kopf ist angenehm leer. Von diesem Zustand kann sie nicht genug bekommen. So schwebend und leicht. Die Augen, die sie fast geschlossen hält, lassen nur schmale Lichtstreifen eindringen, nur Licht, keine Bilder. Sie weiss, dass sie nichts muss, dass man sie in Ruhe lassen wird.
Es ist wie früher, sie ist krank, die Rollläden sind heruntergelassen, im Kinderzimmer ist es dämmrig, gemütlich, ab und zu kommt die Mutter herein, wechselt die Essigumschläge an den Beinen oder bringt ihr etwas zu trinken ans Bett, ohne viel zu fragen, ohne etwas von ihr zu wollen. Am Abend tritt der Vater ins Zimmer, sie spürt seine rissige Hand auf ihrer Stirn, hört seine warme Stimme, hinter ihm die Schwester, die ungeduldig wartet, bis sie wider mit ihr spielen kann.
Die Mutter ist tot, der Vater auch, nur die Schwester lebt irgendwo da draussen in dieser lauten Welt. Früher sind sie zusammen in den Himmel hinaufgeschaukelt, bis ganz hinauf zu den Wolken und wieder zurück. Dann sind sie auseinander gegangen, sie hat begonnen zu schreiben, erst Gedichte, dann Kurzgeschichten und jetzt diese grossen Reportagen in Buchform. Sie hat Preise gewonnen, neue Freunde gefunden, sich Feinde geschaffen. Damit hat sie sich immer mehr vom Dorf und ihrer alten Welt entfernt.
Mit jeder Seite, die sie schrieb, wurde sie besser. Jede neue Geschichte wurde noch mehr gelobt, die Zeitschriften überboten sich, um etwas von ihr abdrucken zu können. Nächtelang sass sie träumend an ihrer Schreibmaschine und flog durch Geschichten, die am nächsten Morgen sauber getippt auf dem Schreibtisch lagen.
Die Schwester, die im Dorf geblieben war, hatte immer mal wieder angerufen, kam zu den Lesungen in der Stadt. Sie erzählte von den Eltern und bat Marguerite, doch bei ihnen vorbeizuschauen. Irgendwie ist die Zeit im Rausch vorbeigezogen, erst starb Mutter, dann der Vater. Nie hat sie sich im Dorf blicken lassen, auch nicht an der Beerdigung. Sie hat sich zu sehr geschämt. Nach dem Tod der Eltern und vor allem seit sie mit Jean-Pierre zusammen ist, hat Marguerite nichts mehr von der kleinen Schwester gehört.
Sie lächelt leise, wenn sie an damals denkt. Jean-Pierre wollte sie gross machen, ihren Namen über alle Grenzen hinaustragen, nur – sie müsse angriffiger werden, dürfe keinen Skandal auslassen. So hatte sie begonnen, den Leuten mit ihren Reportagen auf den Zehen herumzutreten, Jean-Pierre recherchierte die Geschichten und sie verpackte diese in ihrem unverwechselbaren Stil. Pressekonferenzen jagten sich, erste Anklagen wurden eingereicht, Prozesse gewonnen, sie galt als Verfechterin der Meinungsfreiheit, und die Verkaufszahlen ihrer Bücher schnellten in die Höhe. Der Name Marguerite Duval prangte in grossen Buchstaben auf der Frontseite der grossen Zeitschriften.
Doch als sie keine Ruhe mehr finden konnte, brauchte sie etwas, um weiterzuarbeiten, sie trank, damit sie schlafen konnte, nahm irgendwelche Mittel, um sich am Laptop konzentrieren zu können. Kaffee reichte schon lange nicht mehr. «Meine Apotheke» nannte sie ihre Begleitung in den schweren Stunden, die sie immer wieder mit neuen Mitteln versorgte, die sie aus den Löchern ihrer Seele holten und sie schweben liessen so wie jetzt im Wagen kurz vor Zürich.
Zuerst schaut sich Margrittli bei der italienischen Musik um, wählt eine CD aus und schlendert dann hinüber zum deutschen Schlager. Wahllos greift sie sich einen Tonträger heraus und geht damit zur Theke.
«Können Sie mir diese hier abspielen?»
Die Verkäuferin öffnet die Verpackung, legt die CD auf und gibt Margrittli die Hülle.
Sie stülpt sich den Kopfhörer über die Ohren und blättert im weissen Textbuch auf der Suche nach dem ersten Lied.
«Sie wollten mit mir über Marguerite Duval sprechen?»
Der Mann neben ihr dreht sich langsam um, schiebt den Kopfhörer leicht zur Seite und dreht die Musik leiser. «Marguerite Duval ist in Gefahr.»
Margrittli summt ein paar Takte mit. «Ich habe die Zeitung auch gelesen. Irgendwelchen Spinnern gefällt nicht, was sie schreibt. Sie wird bedroht. Ein gefundenes Fressen für die Journalisten, oder nicht?»
Der Mann dreht sich um, sein Blick wandert über die Regale. «Diesmal ist es mehr, glauben Sie mir, diesmal ist es viel mehr. Denn diesmal wird man versuchen, sie umzubringen.»
Das weisse Textbuch fällt auf den Boden. Margrittli erstarrt für einen Moment. Da bückt sich der Fremde und hebt es für sie auf.
«Warum erzählen Sie mir das alles? Was wollen Sie von mir?»
«Ich will Sie warnen.»
Margrittli nimmt das Textbuch. «Warnen?»
«Sie lassen sich mit den falschen Leuten ein. Sie sind daran, ein sehr einsames Spiel zu spielen. Sie brauchen Freunde, wenn es gefährlich wird, ich wollte …»
«Sie ein Freund? Jemand, der in der Nacht um mein Haus schleicht, mich anlügt mit einer halbschlauen Hundegeschichte, jemand, der mich im Ausverkauf belästigt …»
Margrittli ist laut geworden, der Fremde legt seinen Kopfhörer auf die Theke und wendet sich zum Gehen. «Seien Sie ruhig», zischt er wütend, «es ist vielleicht jemand hier, der uns beobachtet! Nehmen Sie die Rolltreppe ins Erdgeschoss, gehen Sie zum Kiosk und kaufen Sie die hinterste ‹Glücks-Fee›. Meine Karte wird dort drin sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen …»
Wie gelähmt steht Margrittli an der Theke. Was hat der Fremde gesagt? Dass sie jemand beobachten könnte? Langsam dreht sie sich um. Ausser ein paar Schülern steht niemand zwischen den Verkaufsregalen. Eben verschwindet der Mann von vorhin bei den Fernsehern. Aber da – folgt ihm nicht jemand? Dieser kräftig gebaute Kerl mit den kurz geschnittenen Haaren?
Margrittli schüttelt den Kopf. Sieht sie schon Gespenster? Dankend legt sie den Kopfhörer auf die Theke und fährt mit der Rolltreppe ins Erdgeschoss hinunter.
Dort wendet sie sich nach rechts zum Kiosk.
«Wo finde ich die ‹Glücks-Fee›?»
«Tut mir leid.» Die Verkäuferin schüttelt den Kopf. «Eben war ein Herr hier, der hat alle vorhandenen Exemplare gekauft.»
Manuel Maier steht an der Rezeption im Hotel Chlosterhof in Stein am Rhein und blättert in den herumliegenden Papieren. Der Portier hatte sich an einem Brötchen eine Plombe herausgebissen und war auf dem Weg zum Zahnarzt, um sich ein Provisorium einsetzen zu lassen. Manuel hatte beteuert, über genug Hotelerfahrung zu verfügen, um in der Zwischenzeit die Stellung zu halten.
Als Pietro Soldini das Hotel betritt und auf die Rezeption zugeht, beginnt das Telefon zu läuten.
«Hotel Chlosterhof, Maier … Guten Tag,