Soldini geht hinüber zu einem Ständer mit Prospekten und nimmt einen heraus.
«Das ist in Ordnung, dann wünsche ich Ihnen viel Spass, auf Wiederhören, Herr Murat.»
Manuel schaut sich kurz in der Halle um, geht dann zu den Toiletten, vergewissert sich, dass sie leer sind, schliesst sich in einer Kabine ein und zieht das Handy aus der Tasche.
«Hier Manuel, hallo Steff. Sie sind unterwegs. Eben hat Murat angerufen. Er wird am Abend hier eintreffen, will aber vorher noch den Rheinfall besuchen und …» Manuel stockt der Atem. Was ist das? Sind da nicht Schritte zu hören? Dazu dieses leise Knirschen von teuren Schuhen …
Er steckt das Handy in die Tasche, entriegelt die Tür seiner wc-Kabine, im gleichen Augenblick geht das Licht aus. Manuel horcht in die Dunkelheit, seine Augen suchen im Schwarz, das ihn umhüllt, einen Anhaltspunkt. Da, drüben bei den Lavabos ist wieder dieses Geräusch von Lederschuhen zu hören. Langsam bewegt sich Manuel vorwärts.
Zu seiner Linken hört er, wie ein Wasserhahn aufgedreht wird, er ballt die Fäuste, springt auf das Geräusch zu und schlägt ins Leere, unsanft wird er von der Seite gepackt und gegen die Wand gestossen. Als er sich benommen aufrappelt, hört er die Türe der Toiletten ins Schloss fallen.
Dann ist er alleine. Erleichtert atmet er aus, steht auf und macht Licht. Er nimmt das Handy aus der Tasche.
«Bist du noch dran? Nein, es war nichts, ein Witzbold hat das Licht im wc gelöscht. Hör zu: Sie sind jetzt in Zürich, mach dich auf den Weg.»
Manuel wäscht sich die Hände und wischt sich den Schweiss von der Stirn.
Freddy steckt eben sein Handy weg, Felix zündet sich eine nächste Zigarette an und Giancarlo leert demonstrativ ein weiteres Mal den Aschenbecher, da betritt Margrittli die Bar Adria.
«Endlich, wir haben schon gedacht …»
«Einen Tee bitte, Giancarlo.»
Der Kellner macht sich an seiner Maschine zu schaffen. Zischend fliesst das dampfende Wasser ins Teeglas.
«Wann und wo?»
«Zwischen vier und fünf. Auf dem Rheinfallfelsen. Wir haben einen sicheren Plan, Freddy meint, du solltest …»
Giancarlo stellt den Tee auf die Theke, wischt mit seinem Lappen über die Maschine und schaut interessiert zu seinen Gästen hinüber. «Na, Margrittli, willst du mir deine Freunde nicht vorstellen?»
Sie schaut den Kellner grimmig an. «Ich glaube, wir sollten uns mal kurz unterhalten, ja?» Dann zerrt sie den erstaunten Giancarlo nach hinten.
«Was ist los mit dir?»
«Entschuldige, ich wollte mich nicht einmischen, aber deine neuen Freunde gefallen mir wirklich nicht!»
«Mir auch nicht.» Margrittli lacht. «Kannst du mir einen Gefallen tun?»
Der Kellner nickt.
Sie drückt Giancarlo den Schlüssel ihres Randenhauses in die Hand.
«Kann ich mich auf dich verlassen?»
Wenig später sitzt sie wieder an der Theke, nippt an ihrem Tee und lässt sich von Freddy den Plan erklären.
«Noch Fragen?»
Sie schüttelt den Kopf.
«Gehen wir!» Felix legt das Geld auf die Theke.
Giancarlo hält Margrittli am Handgelenk fest. «Wenn du jetzt gehst, kannst du nicht mehr zurück.»
Sie lächelt. «Das will ich auch nicht!»
SECHS
Margrittli, Freddy und Felix schlendern über den Fronwagplatz. Margrittli gönnt sich unterwegs ein Eis. «Wenn ich nervös bin, brauche ich etwas Süsses!»
Zur gleichen Zeit steigt Pietro Soldini in Stein am Rhein in seinen himmelblauen Porsche und braust los. Auf dem Beifahrersitz liegen eine Strassenkarte der Gegend und ein Prospekt des Rheinfalls.
Der grosse weisse Audi mit der schlafenden Marguerite Duval auf dem Rücksitz und einem gutgelaunten Jean-Pierre Murat am Steuer nährt sich langsam Winterthur. Auf dem Beifahrersitz setzt Linda Steiner, die Journalistin der «Glücks-Fee», einen neuen Chip in ihre Kamera ein.
Bei der Tankstelle in Andelfingen steht ein weisser vw Golf, am Steuer wartet der junge Steff Rohrer, der seinen Multitel- Overall gegen ein hellblaues Lacoste-Hemd getauscht hat und eine auffällige Romano-Monti-Sonnenbrille trägt, und beobachtet die vorbeifahrenden Wagen.
Obwohl es erst gegen vier geht, löscht Giancarlo die Lichter in der Bar Adria. «Geschlossen wegen Krankheit!», steht auf einem umgedrehten Tischset, das er von innen an die Tür klebt. Dann geht er zum Bahnhof, holt etwas in der Apotheke und besteigt den Bus nach Neuhausen.
Eine Frau in einem schwarzen Kleid steigt ganz hinten in den gleichen Bus ein, öffnet eine Gratiszeitung, lässt dabei aber den italienischen Kellner nicht aus den Augen.
«Was hast du eigentlich vor?» Linda Steiner packt ihre Kamera in die Tasche. «Du hast mir einen Knüller für die ‹Glücks-Fee› versprochen.»
Jean-Pierre Murat betätigt den Blinker und lenkt den Audi auf die Einspurstrecke in Richtung Schaffhausen. «Du kriegst deinen Knüller. Allerdings musst du mir etwas versprechen. Du musst vorläufig schweigen, der Zustand von Marguerite soll im Moment geheim bleiben.»
«Eine Journalistin kann nicht schweigen! Ich bin meinen Leserinnen verpflichtet.»
«Wenn du schreibst, was ich dir sage, bekommen deine Leserinnen die beste Story des Jahres, exklusiv natürlich.»
Linda lächelt leise. «Und wenn ich nicht schweigen kann?»
Murat tritt hart auf die Bremse, der Audi schlingert, ein Lastwagen hinter ihnen hupt, dann kommt der Wagen auf dem Pannenstreifen zum Stehen. Murat stellt den Motor ab.
«Bist du verrückt geworden?»
«Wenn du nicht schweigen kannst, meine Liebe, gehst du zu Fuss nach Schaffhausen, klar?»
Die Journalistin wischt sich den Schweiss von der Stirn. Dann räuspert sie sich. «Das ist ein Argument. Ich gehe nicht besonders gerne zu Fuss.»
«Versprochen?» Jean-Pierre hält ihr die Hand hin.
«Versprochen!» Die Journalistin nimmt die Hand des Managers der angriffslustigsten Schriftstellerin des Landes, beugt sich zu ihm hinüber und küsst ihn lange und ausgiebig auf den Mund.
Murat dreht zufrieden den Zündschlüssel und fädelt sich wieder in den Verkehr ein.
«Du schreibst Folgendes, liebe Linda. Marguerite Duval hat ihren Urlaub in St. Moritz genossen und kommt voller Tatendrang nach Schaffhausen. Dort besichtigt sie den Rheinfallfelsen und fährt danach nach Stein am Rhein, wo sie im Hotel Chlosterhof logiert. Damit du alles genau beobachten kannst, bekommst du ein Zimmer neben uns und darfst uns auf allen Ausflügen begleiten. Du machst Fotos, die zeigen, wie sich Marguerite Duval amüsiert. Dieser Artikel kommt dann in der ‹Glücks-Fee›.»
«Aber das ist gelogen», die Journalistin zeigt auf den Rücksitz, «ihr geht es doch miserabel!»
«Richtig.» Murat legt ihr die Hand auf den Arm. «Darum wollen wir sie auch eine Weile schonen, Marguerite Duval wird heute auf dem Rheinfallfelsen durch eine Doppelgängerin ersetzt.»
«Und diese Story, ich meine, das ist …»
«Das ist dein Knüller, Linda. Exklusiv für die nächste ‹Glücks-Fee›!»
Die Journalistin zückt ihr Handy und tippt geschickt eine SMS ein. «Dann reserviere ich schon einmal die Seiten für meine Story!»
Eine kalte Hand packt Jean-Pierre an der Schulter. Beinahe hätte er die Beherrschung über das Fahrzeug verloren. «Marguerite, wie geht es dir?»
«Miserabel, wenn ich euch zuhöre! Du kannst doch nicht einfach