Daniela Kuhn

Mit dir, Ima


Скачать книгу

lag, las er mehrere Bücher gleichzeitig, Romane und Sachbücher, auf seinem Nachttisch lagen Philip Roth, Alfred Andersch oder Dostojewski. Vielleicht noch bedeutungsvoller als Literatur war für ihn die klassische Musik. Seine Mutter hatte als junge Frau das Klavier- und Cellodiplom erworben, sein Vater hatte Bratsche gespielt. Als junger Mann spielte mein Vater Cello. Er wollte Berufsmusiker werden, bis ihn eine Entzündung am Handgelenk dazu zwang, das Konservatorium zu verlassen.

      In seiner Liebe zur Musik erkenne ich seine sensible und verletzliche Seite. In Worten drückte er sie kaum aus. Er verbarg seine Unsicherheiten, seine Zweifel und Ängste. Ich glaube, seit seine erste Liebe ihn in jungen Jahren wegen eines anderen Mannes verlassen hatte, und vor allem nachdem später sein bester Freund Ernst im Alter von siebenunddreissig Jahren an einem Hirnschlag gestorben war, wurde mein Vater ein einsamer und verschlossener Mensch. Er wählte Frauen, die weniger gebildet waren als er, die ihn bewunderten, denen er sich überlegen fühlte. Meine Mutter entsprach diesem Bild – wenn sie gesund war. In ihren psychotischen Phasen drehte sich das Blatt. Sie tätigte manische Einkäufe, die meinen Vater beinahe in den Ruin trieben, sie schrie ihn an und warf ihm alles Böse an den Kopf, sie verliess ihn wegen anderen Männern und brach dann irgendwann zusammen. Nach qualvollen Wochen, in denen mein Vater und ich zitternd weitere Katastrophen erwarteten, lag meine Mutter dann nur noch im Bett. Einmal stand sie nicht einmal mehr auf, um auf die Toilette zu gehen.

      In all diesen Jahren erlaubte sich mein Vater nicht, die Hilfe eines Psychologen oder Psychiaters in Anspruch zu nehmen. Fragte er sich nicht, ob die Aggression seiner Frau mit ihm und ihrem Fremdsein in der Schweiz zu tun haben könnte? Er empörte sich über Bekannte, die es wagten, Fragen dieser Art zu stellen. Er betonte, dass meine Mutter bereits in Israel mehrmals in Kliniken ge­­wesen sei.

      Eine unglückliche Ehe und die Entwurzelung von der eigenen Kultur können keine Schizophrenie auslösen. Aber beide Um­­stände haben die Krankheit verstärkt. Dennoch kamen meine Eltern nicht voneinander los. Nach der Klinik war mein Vater der liebevolle Mann, der das Häufchen Elend, das meine Mutter dort jeweils war, wieder bei sich aufnahm, ohne ihr jemals vorzuwerfen, was sie zuvor gesagt oder getan hatte. Dankbar und devot kehrte sie zu ihm zurück.

      Als ich elf Jahre alt war, liessen sich meine Eltern scheiden, aber mein Vater blieb meiner Mutter bis ans Ende seines Lebens verbunden. Er fühlte sich für sie verantwortlich. Sie trafen sich weiterhin, besuchten zusammen Konzerte oder gingen ins Ther­malbad. Einmal sagte mir mein Vater: «Wenn ich Ima zufällig auf der Strasse antreffe, denke ich: Eine entzückende Frau! Keine andere hat mir so gefallen wie sie. Ich würde sie noch einmal heiraten.» Erst sein Tod trennte die beiden.

      *

      Kürzester Tag, in drei Tagen ist Weihnachten. Die Familie, bei der ich wohne, hat an der Fassade des Hauses Glimmergirlanden aufgehängt, gestern hatten die Kinder Weihnachtsmann-Mützen auf. Goa, das bis 1961 eine portugiesische Kolonie war, ist teilweise christlich. Und doch ist alles wenig weihnachtlich, zum Glück. Um neun Uhr schwamm ich im noch ruhigen Meer die Bucht ab und las danach unter einem Sonnenschirm aus Kokosfasern. Gegen Mittag, als es auch im Schatten zu heiss wurde, machte ich mich auf zu Sangeetas mit Plastikplanen impro­vi­sierter Imbissbude, um unter dem rotierenden Ventilator wun­der­bare Dosa Masala, Fischcurry und Gemüse zu essen. Fast im­­mer ist jemand da, den ich kenne. Zurück in meinem kühlen Zimmer lege ich mich zuerst ein wenig hin und setze mich dann an den Laptop.

      Ich bin froh, in der Wärme zu sein, Weihnachten und Neujahr zu entkommen. In meiner Kindheit haben wir bei meinen Grosseltern gefeiert. Meine Grossmutter zauberte das ganze Programm hin, von selbstgemachten Guetzli über Krippe mit Glöcklein bis hin zum grossen Baum. Mit Grosspapas Tod starb auch Weihnachten, ich war elf Jahre alt. Nur bei den Grosseltern war das Fest so, wie es sein musste.

      Auch wir hatten einen Baum. Er war mit glitzernden Kugeln geschmückt, die meine Mutter im ABM gekauft hatte. Ein Baum ohne Seele. Das Fest war meiner Mutter fremd. Die jüdischen Feiertage, die nur in einem grösseren Kreis begangen werden, hat sie nicht gehalten. Aber Pessach und Rosch ha-Schana, der Auszug aus Ägypten und das Neujahr, waren kritische Momente. Sehr oft war meine Mutter an diesen Tagen und noch weit da­­rüber hinaus in einem schlechten Zustand. Nur Chanukka, das achttägige Lichterfest, hat sie mit mir gefeiert. Jeden Abend hat sie eine Kerze mehr angezündet und die entspre­chenden Lieder mit mir gesungen. Mit Religion hatte dieses Ritual nichts zu tun, das Judentum war meiner Mutter damals nicht wichtig. Sie interessierte sich für anderes, etwa für Krishnamurti und die Scientologen, die ihr versicherten, sie sei nicht krank.

      Ihre Mutter war eine fromme Frau. Sie trug ein Kopftuch und zündete am Schabbat Kerzen an. Ich habe noch immer den kleinen goldenen Davidstern, einen Anhänger, den sie mir als Kind geschenkt hat, getragen habe ich ihn nie. In den ersten Jahren, in denen meine Mutter in Zürich war, hatten meine Eltern etliche jüdische Bekannte, aber meine Mutter trat keiner jüdischen Gemeinde bei und ging schon gar nicht in die Synagoge.

      Der säkulare Westen war ihr Ideal, die Bücher, die sie als Studentin der hebräischen Literatur kennengelernt hatte, symbolisierten den Fortschritt, das Gegenteil ihres Elternhauses. In Israel galten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nur europäische Juden als zivilisiert. Einwanderer aus arabischen Ländern, die nicht lesen und schreiben konnten, wurden verachtet. Meine Grossmutter war eine solche Frau. Meine Mutter schämte sich für ihre Herkunft. Als Kind, so erzählte sie mir vor Jahren, habe sie in der Schule einem Mädchen gegenüber behauptet, sie kom­me aus dem polnischen Lodz.

      Sich in die Sonne zu legen, käme ihr nicht in den Sinn. Schon als junge Frau achtete sie darauf, keine dunkle Haut zu haben. Auf einem Schwarz-Weiss-Foto, das sie in einer Reihe mit anderen Frauen an Deck eines Schiffes zeigt, mit dem sie nach Amerika fuhr, liegt sie als Einzige unter einem Schirm. «Bitte», sagte sie am Vorabend meiner Reise nach Goa, «tu mir einen Gefallen und leg dich zwischen zwölf und vier Uhr nicht in die Sonne.» Im Unterschied zu ihr lasse ich mich gerne von der Sonne bräunen, solange ich die Wärme als angenehm empfinde.

      Am Strand sind nun viele neu eingetroffene Westler zu sehen, die ihre weisse Haut von früh bis spät der brütenden Sonne aussetzen. Weiter südlich liegen Russen und reiche, übergewichtige Inder. Wenn die Ebbe es erlaubt, gehe ich kurz vor Sonnenuntergang zu einem längeren Strand, vorbei an einem gigantischen Golfhotel. Einheimische Fischer werfen dort ihre Netze aus. Einer dieser dunkelhäutigen, muskulösen und gertenschlanken Männer trägt einen Turban. Bevor er sein Netz als Kreis aufs Wasser fallen lässt, vollbringt er eine graziöse, kunstvolle Bewegung. Ge­genüber liegt eine Halbinsel, über der die Vögel hoch oben am Himmel kreisen. Die Bässe der Musik aus den Restaurants sind hier nicht mehr zu hören, nur die Wellen des Indischen Ozeans, der sogenannten Arabian Sea. Mein Blick schweift auch ins Hin­terland, in die nahen, erstaunlich hohen und bewaldeten Berge, in ein mir unbekanntes Land.

      So urtümlich die Szenerie ist: Jeder dieser Fischer hat sein Handy dabei. Gestern ging die orangefarbene Kugel erstmals nicht im Dunst, sondern im Meer unter. Ich gehörte zu den wenigen, die das Spektakel nicht mit dem Handy fotografierten, filmten oder sich davor mit einem Selfiestick ablichteten. «Schick mir Fotos», bittet mich meine Freundin. Bis ich hier nicht mit Menschen unterwegs bin, an die ich mich später gerne wieder er­­innern möchte, mag ich keine Bilder machen. Ich fotografiere seit vielen Jahren kaum mehr. Meine Partner und Freundinnen haben uns, haben mich fotografiert. Hätte ich Kinder, wäre das wohl anders.

      Die meisten Fotos entstanden in meinen ersten Lebensjahren; ein grosses rotes, ein gelbes, braunes und blaues Album. «Du warst ein liebes Kind, hast fast nie geweint», erzählten mir meine Eltern. Es gibt nur ein einziges Bild, auf dem ich heulend auf den Oberschenkeln meiner Mutter stehe. «Da warst du krank», erklärt meine Mutter.

      Wenn ich heute irgendwo einen Säugling oder ein kleines Kind stark oder lange weinen höre, halte ich es kaum aus. Der Psychotherapeut, den ich als junge Frau aufsuchte, erklärte mir, ein kleines Kind könne sich in seinem egozentrischen Weltbild den Verlust der Mutter nur damit erklären, dass es nicht genüge. Ich muss meine Mutter vermisst haben, ich erinnere mich, von grösster Nähe und Zärtlichkeit abgeschnitten gewesen zu sein, an einen fast körperlichen Schmerz. Zu funktionieren, vom geliebten Grosspapa und meinem Vater umgeben zu sein und doch weit weg von aller Wärme. Fremd zu sein.

      Mein