Daniela Kuhn

Mit dir, Ima


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fragte mich, was es auf sich hat, dass ausgerechnet der er­­­folgreiche und gut aussehende Yair sie beschäftigt, der ein be­­gnadeter Wissenschaftler und erfolgreicher Mediziner war.

      Drei ihrer vier Schwestern haben Söhne. «Wieder eine Darba» – ein Schlag, pflegte im nordirakischen Kirkuk meine Urgrossmutter zu sagen, wenn ein Mädchen auf die Welt gekommen war. Ihre Mutter war von ihrem Mann verlassen worden, nachdem sie drei Töchter und keinen Sohn zur Welt gebracht hatte. Ihre Tochter, meine Grossmutter, konnte weder schreiben noch lesen. Stattdessen hat sie acht Kinder aufgezogen und ihr Leben mit einem Mann verbracht, den sie nicht liebte.

      Ich war drei Monate alt, als meine Eltern mit mir das erste Mal nach Israel reisten. Meine Grossmutter habe sich sehr über mich gefreut, erzählte mir meine Mutter. «Sie hat immer gedacht, ich sei krank, weil ich kein Kind hatte.» In den folgenden Jahren besuchten wir die Eltern meiner Mutter jedes Jahr.

      An meinen Grossvater erinnere ich mich nicht, er starb, als ich sieben Jahre alt war. Meine Grossmutter sehe ich vor mir als korpulente alte Frau, die über ihrem Kleid immer ein Wolljäckchen trug. Sie hatte ihr Leben lang in der Küche gestanden, und wie bei vielen älteren orientalischen Frauen äusserte sich ihre Zuneigung über das Essen. Mein Vater erzählte mir, als er meine Mutter einst in Haifa besucht habe, habe meine Grossmutter ihm dampfende Suppe aufgetischt. Sie habe sich neben ihn hinge­setzt und zugeschaut, wie er ass, wie ihm der Schweiss hinunter­rann. Ab und zu hätte sie genickt und gesagt: «Ta’im, ta’im!» – köstlich, köstlich!

      Über ihrem weissen Haar, das sie zu einem Zopf flocht, trug meine Grossmutter ein türkisfarbenes Kopftuch. Die Farbe passte zu den Pfefferminzbonbons, die zusammen mit ihrer Handcreme einen süsslichen Geruch verströmten. Ich mochte ihn nicht. Meine Grossmutter schenkte mir Kaugummis und lehrte mich das hebräische Wort dafür. Ich erinnere mich, wie sie die Kirschsteine bei sich zu Hause auf den Steinboden spuckte.

      Ihr Hebräisch hatte einen arabischen Akzent. Sie sprach mit meiner Mutter den jüdisch-arabischen Dialekt, der einst in Kirkuk gesprochen wurde, in ihrer Heimatstadt. Meine Mutter antwortete auf Hebräisch, in der neuen Sprache, die in dem neuen Land gesprochen wurde, in dem sie aufgewachsen war. In meiner Kindheit habe ich das Wort «Irak» aus ihrem Munde nie gehört. Es war mein Vater, der das Land erwähnte, wenn auch nur selten. Einmal sagte er zu mir: «Vielleicht sind es deine irakischen Gene, die dich so arbeitsscheu machen, deine Vorfahren haben be­­stimmt nicht so viel gearbeitet wie die Leute hier.»

      Im Frühling 2003 bombardierten die USA den Irak. Plötzlich stand die Stadt, in der meine Grosseltern gelebt haben, im Schein­­werferlicht der Medien, zum ersten Mal sah ich Fotos von Kirkuk. Auf einem feierten kurdische Frauen in Uniform den Fall der Stadt, ihre Gesichter hätten auch die von israelischen Soldatinnen sein können. Ich legte die Zeitungsseiten in ein Mäppchen, ich hatte bereits die Idee, ein Buch über meine Mutter zu schreiben. Als mir im selben Jahr gekündigt wurde, stürzte ich mich in die Arbeit.

      Als Erstes befragte ich meine Mutter über ihr Leben. «Ich werde dir alles erzählen», sagte sie. Im Januar 2004 kam sie jeweils um neun Uhr morgens zu mir. Im Jahr zuvor war mein Vater gestorben, wir befanden uns in einer neuen Situation. Ich fühlte mich freier, denn ich war und bin mir nicht sicher, was mein Vater zu meinem Vorhaben meinen würde. Zum ersten Mal sprach meine Mutter mit mir über ihr Leben in Israel. Ich staunte, wie viel sie in den zweiunddreissig Jahren erlebt hatte, bevor sie in die Schweiz gekommen war, wie vieles sie angefangen und wieder abgebrochen hatte. Und so verlief nun auch ihre Erzählung. Sie hörte an einem bestimmten Punkt einfach auf, kurz nach meiner Geburt.

      In den Jahren darauf war die Krankheit meiner Mutter heftiger geworden. Über diese akuten Phasen kann sie nicht sprechen, nach einem Klinikaufenthalt sind ihre Wahnvorstellungen tabu. Sie müsste sich und den anderen gegenüber zugeben, krank gewesen zu sein, geisteskrank. Ich glaube, es ist nicht nur Scham, die sie daran hindert, luzide zurückzublicken. Der Blick zurück wäre ein Blick in die Hölle.

      Als unsere morgendlichen Gespräche damals endeten, spürte ich, dass ich mich diesem Stoff behutsam nähern musste. Ich war ganz froh, als Nächstes nach Jerusalem zu reisen, um den ältesten Bruder meiner Mutter und ihren einstigen Freund zu treffen.

      Zurück in Zürich recherchierte ich weiter. Mit dem Einverständnis meiner Mutter bat ich die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich um ihre Krankengeschichte. Zwischen 1967 und 1997 war sie achtunddreissig Mal in diese Klinik eingewiesen worden, oft gegen ihren Willen. Ich erhielt eine gelbe Kartonmappe mit dreihundertsiebenundsechzig, eng mit Schreibma­schine beschriebenen Seiten. Auf den ersten drei sind alle Aufnahmen und Entlassungen minutiös aufgelistet. Unter «Heimatort» steht «Zürich».

      Es wurde Sommer, bis ich die Büchse der Pandora öffnete. Auf der Zinne setzte ich mich mit den Unterlagen an den von der Sonne gebleichten Holztisch. Sogar hier oben, mit Sonnenlicht und Ausblick in die Berge und auf den See, war die Lektüre ein Gang in die Düsternis. Ich hatte das Ausmass der Katastrophe vergessen, ich wusste nicht mehr, wie schrecklich die Abgründe gewesen waren, in die meine Mutter, mein Vater und ich hineingeraten waren, und vor allem, wie oft sich alles wiederholt hat.

      Nachdem ich auch die vielen Briefe gelesen hatte, die sich meine Eltern vor ihrer Heirat geschickt haben, begann ich zu schreiben. Während eines Jahres arbeitete ich an der Biografie meiner Mutter. Und dann gab ich auf. Mir dämmerte, dass ich diese Geschichte nicht journalistisch angehen konnte. Ich konnte nicht über meine Mutter schreiben, ohne auch von mir zu sprechen. Bloss wie und was? Ein Freund von K. erschreckte mich mit der Aussage: «Du musst einen Roman daraus machen. Das, was du erzählen willst, muss Literatur sein!» Das Manuskript, das vor mir lag, war höchstens Rohmaterial.

      Ein paar Jahre später nahm ich es nochmals in die Hand. Ich versuchte, mich mehr in den Text einzubringen, aber es gelang mir nicht wirklich. Ich verschob das Vorhaben ein weiteres Mal, es kam mir vor wie ein zu hoher Berg, den zu erklimmen mir noch immer die Kraft fehlte. Andere Projekte fielen mir leichter. Ich befragte mir unbekannte Menschen über ihr Leben und hielt ihre Erzählungen in Büchern fest.

      Im letzten Sommer beauftragte mich ein Bankier, seine Biografie zu schreiben. Zuvor hatte ich für die Polizei Webseitentexte verfasst. Beide Aufgaben hatten mich in Welten geführt, die mir unbekannt waren, hatten meine finanzielle Situation entspannt. Ich beschloss, für zwei Monate nach Goa zu reisen, und ich dachte: Jetzt, da meine Mutter sich im Altersheim wohlfühlt, da sie so etwas wie ihren Seelenfrieden gefunden hat, ist der Moment gekommen, um den Versuch noch einmal zu wagen.

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