einmal, dann hatten wir genug. Unsere Seelenzergliederung ging ihm auf die Nerven, das spürten wir. So hielten wir schließlich Abstand von ihm, verkehrten mit ihm in leichtem Konversationston und würgten an unsern Konflikten, bis wir sie los waren oder bis sie uns vergiftet hatten. Das letztere war häufiger. Er, der Hott, der Naturgeschichtslehrer, den wir «Pistole» nannten, aus unerfindlichen Gründen, Charly, der Französisch und Griechisch und Latein gab, ein Neuenburger mit melancholischem Schnauz und einer Hitlerfranse, und der Papa, der uns Physik und Mathematik gab, ein dickes Männchen mit einem stoppligen Bart, den wir sehr gern hatten, weil er uns sachlich behandelte und streng und wir bei ihm schuften mussten, diese fünf also bildeten die alte Garde, die Vereinigung der Familienväter. Ihr stand die Fronde gegenüber, die Lehrer, die Junggesellen waren und eigentlich nur kurze Gastspiele gaben.
Da war einmal Borstle, ein Mann von der anziehenden Hässlichkeit einer rassenreinen Bulldogge. Er war klug und gab uns Geschichte, und seine Stunden waren richtige Vorlesungen. Es hieß, er bereite sich fünf Stunden vor, um uns eine Stunde zu geben. Am Abend nahm er uns oft auf sein Zimmer, das in einem kleinen Turme lag, und dann las er uns Maupassant vor, uns wenigen, die gut Französisch konnten, und bei Maupassant findet man allerlei, auch Sachen, die nicht «ad usum Delphini» sind. Wir waren keine Kronprinzen, und für Prüderie hatten wir nichts übrig. Borstle hatte eine Art, die Pointen vorzulesen – ein wenig atemlos, so als müsse er ein Gelächter unterdrücken –, die unwiderstehlich war. Wir lachten, und er kicherte mit. «L’histoire», sagte er, «de ce … de ce cochon de Morin.» Dann erzählte er uns Witze, uralte Jahrgänge, aus den Anekdotenbüchern des französischen siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts – und zu jener Zeit verstand man es, auch das Gröbste so zu sagen, dass es wirkte wie das geschickte und bunte Ballspiel eines Jongleurs. Etwas haben wir von ihm gelernt, von Borstle, nämlich: eine gewisse Vorurteilslosigkeit, eine trockene, unsentimentale Einstellung zum Erotischen. Bei mir hat sich seine Lehre zu dem Satz auskristallisiert: «Erotische Komplikationen sind immer unfruchtbar.» Ob es stimmt, weiß ich nicht. Tatsache ist ja, dass fast alle Romanschriftsteller, so die Mittelmäßigen, immer einen großen Schmu mit der Liebe treiben. Es gibt doch noch andere, interessantere Dinge, oder?
Dann war ein anderer Lehrer da, «Chleb» nannten wir ihn, der aussah wie Gerhart Hauptmann nach einer Verjüngungskur. Der war mit einem aus unserer Klasse befreundet, mit der Zwetschge, einem Burschen, der lang war wie ein Fastentag – und Zwetschge hieß er, weil er beim Sprechen die Worte durch die Nase zu quetschen schien. Dieser Chleb hatte der Zwetschge Sigmund Freuds Traumdeutung geliehen (die war damals gerade modern), und das Buch lasen wir alle, worauf unsere Rede so dunkel wurde und voll Symbolgehalt, dass sie einer Geheimsprache glich.
Ich habe mich oft gefragt, ob ich in diese Zeit nicht Fähigkeiten hineindichte, die gar nicht vorhanden waren. Aber dann scheint mir doch, als sei der sonderbare Instinkt, den wir bei der Beurteilung der Erwachsenen, der Lehrer, entwickelten, doch vorhanden gewesen. Es war wirklich so, als hätten wir das spezifische Gewicht ihres Charakters erfassen können. Unser Ohr muss damals geschärfter gewesen sein für den Ton der Worte, und in diesem Ton klang oft, nur allzu oft, eine gewisse Selbstüberheblichkeit mit, die des notwendigen Unterbaues ermangelte und daher unecht wirkte. Es ist merkwürdig, dass dieses Gefühl für das Unechte im Nebenmenschen später sich abstumpft. Es wird wohl so sein müssen, sonst ginge ja alle Geselligkeit zum Teufel, und es widerstrebt wohl jedem, als der arme Hund dazustehen, der er nun einmal ist.
Wir duldeten das Theaterspiel der Großen stillschweigend. Manchmal, wenn es zu übertrieben war, lachten wir. Ein Beispiel: Der Hott, jener Deutschlehrer, der aussah wie ein britischer Colonel, gab uns auch Englisch. Einmal sollte er verreisen, hatte aber einem von uns mitgeteilt, dass er vorher noch die Stunde geben werde. Wir warteten im Klassenzimmer, zehn Minuten, eine Viertelstunde – er kam nicht. Da gingen wir fort, standen noch schwatzend im Sälchen, das neben dem Speisesaal lag. Da schoss der Hott herein, pflanzte sich vor uns auf und kanzelte uns ab: Er halte immer seine Versprechungen, wenn er etwas gesagt habe, so gelte es, auf ihn könne man sich verlassen. Es sei eine Gemeinheit, dass wir nicht auf ihn gewartet hätten; dann rasselte es von großen Worten, von Pflichtbewusstsein und Verantwortlichkeitsgefühl (seine ausgezeichnete Diktion ermöglichte es ihm, auch solche Worte tadellos auszusprechen), seine Rede trieb einer Steigerung entgegen, wir fürchteten für ihn, dass die Steigerung ihm misslingen könne (Rösel gähnte), aber nein! Mit zwei Sätzen erklomm er die kleine Treppe im Hintergrund des Sälchens (eine Glastür war dort, die in einen Korridor führte), und Hott riss die Glastür auf, über die Achsel spuckte er die Worte über uns: «Ich verachte euch!» Bumm. Die Glastür schmetterte zu. «Vorhang fällt», sagte Rösel trocken. Wir lachten.
Letzthin habe ich die Zwetschge wieder getroffen. Er ist noch immer lang und hager, spricht durch die Nase, was weniger auffällt, da er das Französische mit englischem Akzent spricht. Er ist Ingenieur, hat eine gute Stelle und ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Appartement, eine Garçonnière. Wir wärmten Schulerinnerungen auf. «Ja», sagte er, «der Hott hat es ja weit gebracht, ist Professor, gut. Seine Stunden waren ausgezeichnet, alles was recht ist. Aber er war doch ein Komödiant, weißt du, im Grund ein falscher Charakter!» Ich nickte und wunderte mich. Die Zwetschge hat mit dem Hott nie Anstände gehabt, seine Aufsätze wurden mit Glacéhandschuhen angefasst, während Rösels, Steins und meine zerpflückt wurden, wie Gänseblümchen von einem kleinen Kind, und doch sagte die Zwetschge … Ich glaube wirklich, wir hatten damals ein sicheres Urteil. Nun, Deutsch haben wir beim Hott gelernt, aber es ist ein wenig verschieden von dem, das er schätzte.
Aber noch über einen Lehrer haben wir gesprochen, die Zwetschge und ich: über unsern Mathematiklehrer, den Papa, wie wir ihn nannten. Wir haben beide gelächelt, so als ob eine angewandte Gleichung zweiten Grades wirklich etwas hervorragend Fröhliches gewesen sei. Warum? Er mischte sich nicht in unsere Angelegenheiten, er war streng, ohne zu strafen, er hatte manchmal einen trockenen Humor, den wir schätzten. Es war gut, auf den langen Schulreisen mit ihm zu wandern, er schwieg, aber sein Schweigen hatte Gehalt. Vielleicht liegt es doch an dem, dass einer schweigen kann? Aber es gibt auch leeres Schweigen. Das seine war gehaltvoll; in ihm war: Verständnis, das sich nicht aufdrängen will, innere Ruhe, aber lebendige Ruhe. Die andern waren alle so laut, ihre Ansichten hingen ihnen zum Munde heraus, wie Spruchbänder auf mittelalterlichen Bildern. Der kleine, dicke Mann hatte keine Phrasen zur Verfügung; das war erlösend, er klopfte uns nicht aufmunternd auf die Schulter, wie er überhaupt jegliche Berührung vermied. Er badete auch nicht mit uns. Übrigens kam er vom Handwerk, er war Uhrmacher gewesen. Genug von ihm!
Sport? Ja, wir spielten Tennis, wir hatten eine Fußballmannschaft, Rösel war ein guter Vorwärts links, ich hockte im Goal, weil ich bequem war. Überhaupt hatte unsere Klasse nicht viel für Sport übrig. Wir lasen lieber, lauter komplizierte Sachen, Ibsen und Dostojewski, Strindberg und Wedekind. Nicht alle, aber doch der bestimmende Kern: Rösel, Ted und die Zwetschge. Dann war da noch die Meise, ein nervöser Kerl mit einem Vogelkopf, der die ‹S› nicht aussprechen konnte. Er war Deutscher, musste den Weltkrieg mitmachen und erschoss sich dann in Wien. Er wollte Kunsthistoriker werden.
Wir waren aus allen Weltgegenden zusammengekommen. Aus Russland stammte Rösel, Stein aus Berlin, die Meise aus Darmstadt, nur die Zwetschge war schweizerischer Abstammung. Und wir stammten alle aus dem bessern Bürgertum, wie man damals sagte. Und kennen Sie diese Atmosphäre? Die wenigsten wohl. Die Luft, die über den «bessern Kreisen» lag, in jener schon historischen Zeit, die vor dem großen Kriege webte, war abgestanden, muffig; das Familienleben, das wir genossen hatten, war, vorsichtig gesagt, etwas merkwürdig. Was wunder, wenn wir alle ein wenig neurotisch waren? Wir alle waren aus irgendeinem Grund aus den Staatsschulen entfernt worden – weil es dort nicht mehr ging, weil die Konflikte unserer Eltern auf uns abgefärbt hatten, weil wir müde geworden waren und uns in die Blasiertheit gerettet hatten. Man hatte uns daheim so oft angelogen, wir waren trainiert auf das Erkennen der Lüge, auch wenn sie noch so gut verhüllt war. Sie hatten es schwer mit uns, die Lehrer; als Entschuldigung möge ihnen dienen, dass sie ja schließlich auch zu der Generation unserer Eltern gehörten. Vielleicht steckte uns der große Stumpfsinn in den Knochen, der damals umging. Und wir waren alles eher als sympathisch, das will ich gern zugeben.
Wie wir zum Beispiel mit den Kleinen verfuhren, war wenig anständig (ich spreche vom Großteil unserer Klasse und von den Ältern,