etwa in der Mitte der Versammlung. Ich sah Rösels Hände gut, sie waren sehr weiß, aber sein Gesicht war im Dunkeln. Die Stehlampe vor dem Präsidenten trug einen dunklen Schirm, der das Licht nur auf die Tischplatte warf.
«Soviel ich weiß», sagte Cavaluzz mit neutraler Stimme, «hat Rösel eine Petition zu verlesen, die von einer genügenden Mehrheit unterzeichnet ist; ich habe einzig einen Formfehler zu rügen, dass diese Petition mir erst knapp vor Beginn der heutigen Landsgemeinde übergeben worden ist …» Hier unterbrach die Zwetschge: «Ich verlange zuerst das Wort! Wenn du gestattest?» Die letzten Worte waren an Rösel gerichtet, der schon die Hände auf den Tisch gestützt hatte, um sich hochzustemmen, sich nun aber mit einem gleichgültigen Nicken wieder niederließ.
«Die Petition, die der Landsgemeinde unterbreitet werden soll, ist eine Infamie!» War es das Wort oder der Zwetschge sonderbare Aussprache des Deutschen, kurz, es ging ein Meckern durch die Versammlung. Am lautesten war Corbaz’ Lachen, tief im Bass. Er war der Älteste in unserer Klasse, hatte saloppe Lebemannallüren, war ein guter Kerl und hielt zu unserer Clique. «Ich bitte, nicht zu lachen, die Petition, die ihr unterzeichnet habt, ist eine schmutzige politische Machenschaft …» Rösel hob ein wenig die Hand, ich schoss auf: «Ich verbitte mir diesen Ton, ich habe die Unterschriften gesammelt, und wir alle sind einig, dass …» ich blickte auf Rösel, der schüttelte leicht den Kopf; also hatte ich mich im Ton vergriffen, ruhiger fuhr ich fort: «Ich bitte den Präsidenten ums Wort, damit ich mich gegen diese Insinuationen verteidigen kann.» Cavaluzz schüttelte den Kopf. «Sprich weiter», sagte er zur Zwetschge.
Die Zwetschge entfaltete ein Papier, las vor. Die Vortragsstunden unseres Deutschlehrers hatten ihm wenig genützt, er las stockend und langweilig. Rösel gähnte verhalten, aber es war Theater, man merkte es. Doch schien es eine Art Zeichen zu sein. Denn – Zwischenruf Corbaz: «Neue Panama-Affäre? Untersuchungsausschuss?» Zwetschge kam nicht aus der Fassung. Er las von jüdischen Machenschaften, von moralischer Verantwortung. Das Lachen, das anschwoll, rollte von vorn nach hinten, flutete zurück, überschwemmte den Ausschusstisch. Die Zwetschge stand unbeweglich, Pfumpf grinste unverschämt, sagte dann in breitem Baslerdeutsch, ob hier eigentlich amerikanische Wahlmethoden herrschten? Und zwinkerte mit seinen Schweinsäuglein. Da zeigte sich, dass auch unsere Gegenclique nicht müßig gewesen war, sie hatte kurz vor der Landsgemeinde Anhänger geworben, die Frechsten natürlich unter den Kleinen. Ich wollte reden, Cavaluzz gab mir das Wort, aber es ging ein Gebrüll los und ein Geschrei, ich hätte mich den Juden verkauft, ein ganz merkwürdig sinnloser Pöbelhass sprang auf. Ted saß nicht weit von mir, er lächelte spöttisch. Da erhob sich Rösel, und mit der leichten Bewegung eines Schachspielers, der eine Partie aufgibt, die er nur gewinnen könnte, wenn der andere grobe Fehler machen würde, sagte er ruhig in das plötzliche Schweigen: «Bitte.» Dann nahm er die Petition und riss sie durch, zerriss sie noch einmal, knüllte sie zusammen, stopfte sie in die seitliche Rocktasche. Dann zog er ein verschlossenes Couvert hervor, überreichte es Cavaluzz: «Meine Demission», verbeugte sich leicht, ging in den Saal und setzte sich auf einen freien Stuhl.
«Wir werden jetzt zu einer Neuwahl schreiten», sagte Cavaluzz, nachdem er das Couvert geöffnet hatte. «Vorgeschlagen sind …» Er nannte ein paar Namen, Schüler der vierten Klasse. Ein langweiliger Kerl wurde gewählt mit fünfunddreißig Stimmen gegen fünfundzwanzig Enthaltungen. Auch der Ausschuss hatte nicht mitgestimmt.
Die Sache hatte ein Nachspiel. Wir wurden vom Direktor verhört, wir drei, Rösel, Ted und ich. Die Kleinen hatten wahrscheinlich geklatscht (der Direktor unterrichtete nur in den untern Klassen), und so fühlte sich der Direktor verpflichtet, die Sache zu untersuchen. Chleb, der verjüngte Gerhart Hauptmann, war anwesend als Protokollführer. Ich hatte damals einen richtigen Ehrlichkeitsrappel und erzählte die ganze Geschichte. Es sei doch mein gutes Recht, eine Aktion gegen einen Kameraden zu unternehmen, den ich für unfähig hielte. Ich war aufgeregt, der Direktor, der vielleicht kein ganz ruhiges Gewissen wegen der Ohrfeigen hatte, behandelte mich mit Glacéhandschuhen. Rösel schwieg, Ted war frech. Endlich wollte der Direktor wissen, wer die Petition aufgesetzt habe. «Ich habe sie konzipiert», sagte Rösel ruhig, und die Worte tropften verächtlich von seinen Negerlippen. Ob er nicht wisse, dass das schmutzige Politik sei? wollte der Direktor wissen. «Verzeihen Sie», sagte Rösel, «sollen wir hier fürs Leben vorbereitet werden oder für einen Kindergarten?» Er ließ das Fragezeichen in der Luft hängen, schritt gemessen zur Tür und verschwand. Nach dem Verhör machte mir Chleb Komplimente über meine Ehrlichkeit; aber ich konnte mich nicht lang an ihnen freuen, denn Rösel sagte nachher zu mir: «Du bist ein Schwätzer und wirst ein Schwätzer bleiben!» Ganz unrecht hat er ja nicht gehabt. So musste ich einige Tage an einem Zwiespalt tragen, denn Chleb, der mich bisher nicht beachtet hatte, sprach nun manchmal mit mir, was mich stolz machte. Er war nämlich ein Dichter, und ein Drama von ihm war von der Schillerstiftung mit einem Preis ausgezeichnet worden. Aber die Kehrseite war, dass Rösel mich nicht mehr beachtete. Und das kränkte mich.
Er ging dann bald fort, weil er einmal mit dem Hott einen furchtbaren Krach hatte, bei welchem er ruhig blieb, überlegen (und dies wurde ihm natürlich als Frechheit ausgelegt). Er ging dann in eine Presse. Sehen Sie, aber den Trick, den er damals in der Landsgemeinde angewandt hat, dieses elegante Aufgeben einer scheinbar verlorenen Partie, ein Aufgeben eigentlich nur, um einen sogenannten moralischen Vorteil zu ergattern, diesen Trick hat er später in seinem Beruf ausgebaut. Und er versagt fast nie. Chleb, der auch gern Aphorismen verfasste, tat einmal den apodiktischen Spruch: Ein Apfelbaum hat Äpfel, ein Birnbaum hat Birnen, wer beides hat, ist ein Obsthändler. Vielleicht ist Ted ein Obsthändler geworden. Er hat die Dichtkunst an den Nagel gehängt und ist in die Fußstapfen des Herrn Rathenau getreten. Kommerzienrat ist er auch schon, was kann nicht noch alles aus ihm werden! Aber vielleicht hat ihn die jetzige Regierung abgebaut, obwohl ich es nicht glaube.
Einmal, in der Legion, hatte ich meine Feldflasche aus einem lauen Flüsschen gefüllt. Und als ich dann das Wasser trank, war plötzlich wieder der Badestrand da. Das lange Sprungbrett, das weit in den See hineinführte, und ich stehe am Ende. Mit Schwung schmeißt mich der Direktor hinein, ich sinke unter, der Geschmack des lauen Wassers ist widerlich. Nachher habe ich erbrechen müssen. Die Methode war nicht gut, um das Schwimmen zu erlernen. Ich brauchte ein Jahr, bis ich es konnte, und dann ging es noch schlecht. Warum fällt mir diese Szene immer wieder ein? Sie hat doch irgendwie Symbolgehalt. Schwimmen lernte man im «Heim» schlecht, im wirklichen Sinne besser als im übertragenen. Es war eine Art Treibhaus, ich weiß von vielen meiner Kameraden: sie brauchten Jahre, um sich umzustellen. Es war wohl eine Scheinwelt, in der wir lebten, und es war dann schwierig, sich draußen wieder zurechtzufinden. Es gab auch so viele Sachen dort, über die zu sprechen schwierig ist. Kennen Sie die Verwirrungen des Zöglings Törleß von Musil? Wenn Sie Aufschlüsse über das Leben in Internaten wünschen, rate ich Ihnen, das Buch zu lesen.
Letzthin (das heißt vor zwei Jahren) habe ich das «Heim» wieder besucht. Der See ist schön, wie er immer war, und auch der Sommer hat nichts von seiner Tiefe verloren. Ein Ehemaliger, aber nicht einer von unserer Generation, hielt den Knaben einen Vortrag: Militärdienst, Bau einer Brücke. Die Versammlung lauschte begeistert, wenn man begeistert lauschen kann. Und da musste ich denken, wie wir uns benommen hätten. Unsere Klasse wäre mit Obstruktion vorgegangen, solche Sachen hätten wir uns nicht bieten lassen. Und das ist nicht etwa eine gefälschte Jugenderinnerung, denn zu meiner Zeit passierte das gleiche. Die «Pistole», der Naturgeschichtslehrer, berichtete uns einmal, vorsichtig, vorsichtig, über das Ergebnis der deutschen Reichstagswahlen, die gerade damals einen Sieg der Sozialdemokratie ergeben hatten. Wir hörten zu, höflich, aber unbeteiligt. Und der Lehrer merkte dies, denn obwohl er überzeugter Sozialist war, wagte er es nicht, seinen Vortrag mit einem Panegyrikum auf die Sozialdemokratie zu schließen. Er verherrlichte die Abstinenz, deren Wegbereiter die zielbewusste Arbeiterschaft sei. Nun gut, da konnten wir aus Höflichkeit folgen. Wir waren ihm ja alle in einen abstinenten Jugendbund gefolgt, mit viel geistigem Vorbehalt, aber wir waren ihm gefolgt.
Sie werden fragen, ob wirklich ein so großer Unterschied besteht zwischen der heutigen Generation und der unsern. Gewiss, der Unterschied war da. Für wen wurden damals die Landerziehungsheime gegründet? Für (wie man heute sagen würde) die schwererziehbaren Kinder des wohlhabenden Mittelstandes. Aber ein Trugschluss lief mit unter: Gewiss, wertvolle Menschen sind in der Jugend manchmal die störrischsten,