Gedanken waren schon viel weiter, beim Dröhnen, das nun bald oben im Glockenstuhl losgehen würde. Es musste nun noch der Sechsuhrschlag abgewartet werden. Auf die Minute genau schlug es zuerst vier Mal «bim-bam», dann ertönten von der grossen Glocke die sechs schweren, dumpfen Schläge.
Kaum war der sechste erklungen, sagte der Sigrist: «Also los, es ist Zeit.» Ja, und dann kam meine grosse Stunde: Ich durfte mit der kleinsten Glocke beginnen, aber leider noch nicht ganz alleine. Jeder der drei Männer hatte einen Strick in die Hand genommen, den meinen hielt neben mir auch noch der Sigrist. Und der tat die ersten Züge. Erst als das bimmelnde Glöcklein mein Seil in die Höhe zog und ich es ohne jeden Ruck wieder nach unten ziehen konnte, durfte ich alleine läuten. Dann schaute der Sigrist zu den anderen Glöcknern, die einer nach dem andern ihre Glocke zum Schwingen brachten. Jetzt war über uns ein Dröhnen, das den Kirchturm erbeben liess und jeden anderen Laut erstickte. Es waren auch keine Worte nötig, alle waren auf ihre Arbeit konzentriert und wussten genau, was zu tun war. Nur ich wurde etwas übereifrig; ich wollte doch zeigen, dass ich stark genug sei, um mit den anderen mitzuhalten. Der Sigrist war nach draussen gegangen, kam aber nach einer Weile zurück und schrie mir ins Ohr: «Nicht so fest ziehen, Fritzli, man hört ja fast nur noch dein kleines Glöckchen.»
Als die zwanzig Minuten vorbei waren, kam das Ausläuten. In der umgekehrten Reihenfolge als beim Einläuten wurden die einzelnen Glocken zum Verstummen gebracht. Eine Glocke anzuhalten, das war gar nicht so einfach. Jetzt musste das Seil jedesmal gebremst werden, wenn es nach oben gezogen wurde. Erst wenn das Geläute anfing leiser zu werden, erfolgte das vollständige Anhalten, indem das ganze Körpergewicht eingesetzt wurde. Gerade beim Abbremsen war es streng untersagt, ein Seil um den Körper zu schlingen. Der Schwung und das Gewicht der Glocke hätten einen Mann nach oben reissen und verletzen können.
Als auch meine Glocke ganz verstummte, war im Turm eine seltsame, fast unheimliche Stille. Der Kirchturm bebte zwar noch immer ein wenig, und in unseren Ohren klang es noch lange weiter, aber sonst war nichts mehr zu hören, und niemand sprach auch nur ein Wort. Es schien mir eine Andacht ohne Pfarrer und Gebet zu sein. Das Stampfen der schweren Schuhe auf der Holztreppe war dann wie eine Erlösung und für mich das Wissen, dass es jetzt zum Nachtessen gehen würde. Auch hier hatte die Bäuerin den Tisch bereits gedeckt.
Der Sigrist war im Hauptberuf Bauer und beschäftigte auf seinem Hof einen Knecht und eine Magd. Beide setzten sich zu uns, so dass mit den Männern aus dem Glockenturm eine recht grosse Tafelrunde beisammen war. Für so viele Leute wurde nicht gekocht, dafür gab es Brot, Butter, Wurst und Käse. Nehmen konnte man, soviel man mochte, und das war für mich das Wichtigste. Bis zu unserem Auszug aus Bickwil habe ich jeden Samstag meine kleine Glocke geläutet, und das ist eine der schönsten Erinnerungen an die Kinderjahre auf dem Lande.
1947, Lausanne VD
Anne Cuneo, *1936
—
Es war Anfang Dezember – nichts Besonderes, dass die Bäcker Biscômes anpriesen. Was mich innehalten liess, war das Aushängeschild selber. Ein sorgfältig ausgearbeitetes Schild, von Schülerhand sauber beschriftet und mit Bildern aus der Zeit vor dreissig Jahren verziert. Das Ganze war auf einen ursprünglich weissen, inzwischen aber vergilbten Karton aufgezogen und geschrieben.
Ich blieb trotz scharfer Bise gute fünf Minuten lang am Schaufenster kleben. Dieses Schild … Dieses Schild … Weshalb …?
Und plötzlich sah ich es. Dieses Aushängeschild hatte ich selber gemacht.
Schlagartig kam mir alles in den Sinn.
Ich begriff, weshalb mein Gedächtnis mich im Stich gelassen hatte: um mich zu schützen. Denn augenblicklich stieg in mir eine Mischung aus Leiden und Widersprüchen auf, die mir in der damaligen Zeit sicher schwer zu schaffen gemacht hatte.
Ich erlebte wieder die Hoffnung, Weihnachten würde die täglichen Widrigkeiten meines neuen Lebens zum Verschwinden bringen – als wundersames Geschenk des Himmels. Und gleichzeitig die verzweifelte Gewissheit, dass mein Elend kein Ende nehmen würde.
Ich war kaum einen Monat in der Schweiz. Die französische Sprache kam mir nur stockend und zaghaft über die Lippen. Ich war noch nicht schweizerisch gekleidet, und im kriegsverschonten Lausanne musste meine Ärmlichkeit auffallen. Ich trug einen Mantel, an dem ich ganz besonders hing, weil er meinem Vater gehört hatte. Vor zwei Jahren hatte man ihn für mich verkürzt und zurechtgemacht. Nun war er zu kurz, die Ärmel bedeckten meine Handgelenke nicht mehr. Aber es war Vaters Mantel, und ich legte keinen besonderen Wert darauf, ihn gegen einen anderen zu tauschen. Ich sehe ihn noch, blau mit einem Graustich, dunkler Samtkragen. Getragen vom kleinen Mädchen, das ich damals war, waren die Nähte geplatzt, der Stoff zerrissen und voller Flecken. Trotzdem trug ich ihn während dieses ganzen ersten Winters in Lausanne, weil ich daran hing – und auch, weil mir nie ein anderer angeboten wurde.
Meine Schuhe waren ausgetreten, meine Socken so oft geflickt, dass die gestopften Stellen bis hinauf zu den Knöcheln reichten.
Ich hatte Hunger.
Und eines Tages, auf dem Weg zur Schule, fand ich einen Franken auf dem Trottoir. Im Jahre 1947 und angesichts meines Elends war ein Franken eine hübsche Summe. Ich zögerte keine Sekunde. Das Schlimmste in meinem damaligen Leben war der Hunger: Diesen Franken würde ich verfressen.
Wie ich mich Anfang Dezember eines Nachmittags der Überwachung der Schwestern entzog, weiss ich nicht mehr. Ich beschloss, eine Bäckerei aufzusuchen, so weit entfernt wie möglich, um jede Gefahr zu vermeiden. Während einer guten Stunde irrte ich durch die Oberstadt von Lausanne, bis ich meiner kleinen Bäckerei begegnete. Sie zog mich an wegen der Biscômes im Schaufenster, erhellt von zwei Kerzen, echten Kerzen. Ich trat ein.
Eine junge Frau mit weisser Schürze und kurzem Haar trat aus dem hinteren Teil des Ladens hervor und wischte sich die Hände ab.
«Ja?»
«…»
«Was möchtest du?»
«…»
«Sprichst du Französisch?»
«… ja … ich …»
«Möchtest du etwas essen?»
Es kam mir vor, als wolle sie mir ein Almosen geben. Ich nahm meinen Franken hervor.
«Ich möchte …»
Ich weiss nicht so genau, was für ein Gesicht ich beim Anblick all der Esswaren machte, hungrig wie ich war. Später sagte mir die Bäckerin wiederholt:
«Ich werde das erste Mal, als du hereinkamst, nie vergessen. Ich glaubte, du würdest in Ohnmacht fallen.» Zweifellos machte ich dasselbe Gesicht wie alle andern hungrigen Kinder.
«Da», sagte die Bäckerin und drückte mir einen Bienenstich in die Hand, «es ist Sankt-Niklaus-Tag, und ich schenke allen meinen Kunden etwas. Setz dich dorthin und iss.»
Ich setzte mich. Andere Kunden kamen und gingen, keinem bot sie ein Gebäck an. Als ich mich erhob, meinen Franken immer noch in der Hand, sagte sie mir:
«Weisst du, du solltest dir ein Paar Wollstrümpfe kaufen. Hier ist es nicht wie in Neapel, es ist kalt bei uns.»
«Aber ich möchte noch …»
«Ich will dir sagen, was wir tun werden. Hast du eine schöne Handschrift?»
«Ja.»
«Ich brauche ein Aushängeschild für meine Biscômes und habe keine Zeit, mich darum zu kümmern. Du machst es mir, dafür gebe ich dir zu essen und bezahle deine Arbeit, und mit dem Geld kaufst du dir Strümpfe.»
Das schien mir ehrenhaft, es roch nicht allzusehr nach Almosen. Ich willigte ein. Sie setzte mich in den hinteren Teil des Ladens, ich machte einen Entwurf auf Packpapier, dann schlug ich ihr schüchtern vor, einen schönen Karton zu beschaffen und ihn mit Weihnachtsmännern und anderen Motiven zu schmücken, die an Biscômes erinnern.
«Es lohnt sich