Ich war damals im «Pilgerbrunnen» und etwa drei Jahre alt. Dass sich viele meiner Erinnerungs-«Bilder» mehr am Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn orientieren als am Sehen, liegt nicht nur an der Art kleiner Kinder: Ich sah schon damals fast nichts.
1940er-Jahre, Zürich
Jeannot Bürgi, *1939
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Kindheit ist nicht etwas, woran ich mich als Zeit erinnere. Für mich ist Kindheit Ereignis, eine Folge von Geschichten, einige schön, andere weniger. Hier leicht und luftig, dort schwer und dumpf. Für alles suche ich Wörter, die zur Sache passen, meinem Erlebnis möglichst nahe kommen. Zu meiner Kindheit passt das Wort «Muhheim», es sagt alles aus. In ihm finden sich Gerüche, Töne und Formen. Mein Staunen auch, und wenn man genau hinsieht, findet sich darin sogar meine Angst. Eigentlich finde ich es schade, dass ich diese Kindheit nicht mit meinen ungelenken kindlichen Worten umschreiben kann. Doch die kindlichen Worte habe ich schon lange vergessen, und erzählen kann ich nur das, was mir an Erinnerung geblieben ist.
Vor «Muhheim» gab es noch etwas, für das ich aber kein Wort finde. Es sind hier nur Gerüche, die geblieben sind, Figuren, die aus dem Nebel der Geschichte auftauchen, verschwommene Konturen, Geräusche und Sprachfetzen. Der Duft der würzigen Käseküchlein aus der Küche der Mama Früh oder das Plätschern des Wassers im Brunnen auf dem Bullingerplatz. Ein Drängen, Stossen und Schubsen der Menschen in der Bäckeranlage vor dem Volkshaus. Wars ein Streik, eine 1.-Mai-Feier oder nur ein Volksauflauf, die Sammlung zu einem Demonstrationszug? Überall standen Soldaten herum, Worte schwirrten durch die Luft wie verängstigte Vögel.
1940er-Jahre, Zofingen AG
Ernst Halter, *1938
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Sonnenlicht sintert durch Vorhänge ins Zimmer. Ich liege im weissen Gitterbett an der Hinterwand; die Betten meiner Geschwister stehen, etwas abgerückt von den Fenstern, an den Seitenwänden des Raums. Bald wird die Mutter kommen; ich liege still in meiner pochenden Erwartung und blicke auf die Tür ein paar Schritt vom Fussende des Bettchens. Draussen vor den Fenstern läuten Glocken; Sonne und Kirchengeläut sagen: Heut ist Sonntag.
Die Tür öffnet sich. Die Mutter geht quer durchs Zimmer, zieht die Vorhänge zurück, das Licht im Raum wird warm. Sie kommt auf mich zu, beugt sich lächelnd über die weissgestrichenen Holzstäbe des Gitters: Schnuusserli, itz weimer uuf (Flitzerchen, nun wollen wir aufstehen). Hast du gut geschlafen? Sie streichelt mir über beide Wangen, dann klinkt sie das Gitter aus und kippt es weg. Ganz nahe kommt sie, legt ihre Arme um mich und hebt mich hoch. Wir geben uns Küsse. Setzt sie mich auf den Bettrand? Stellt sie mich auf den Boden? Mich füllt Atem von Glück, Licht, Geläut. Es flimmert und blendet vor den Fenstern und auf dem Zimmerboden. Aufstehen, Gewaschenwerden, Honigbutterbrot, Kakao, alles miteinander möglichst schnell. In den Garten rennen, in die Sonne, zu den Goldfischen.
1931, Bern
Dora Stettler, *1927
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Meine ersten Erinnerungen stammen aus einer Wohnung im Beundenfeldquartier in Bern. Ich war vier Jahre alt, damals im Jahr 1931.
Es muss im späten Frühling gewesen sein. Mama hatte mir eine frische Schürze angezogen, mich zur Türe begleitet und gesagt: «Nun, Kätheli, kannst draussen spielen gehen.»
Ich lief durch den Vorgarten zum Tor. Eine Hauptstrasse führte an unserem Hause vorbei. Nebst den Personenwagen, die an einer Hand abgezählt werden konnten, verkehrten noch der Verkaufswagen der Migros, der Milchwagen sowie der Strassenspritzwagen, dem zur Sommerszeit die Buben in den Badehosen johlend nachsprangen, um sich an einer kühlen Dusche zu erfrischen. Als Verkehrsmittel hatten wir das Tram, das jeweils einen unverkennbar singenden Ton erzeugte, wenn es bei der nahen Haltestelle anhielt oder wegfuhr.
Da stand ich nun am Gartentor und schaute auf die Wiese, die sich uns gegenüber wie ein Teppich ausbreitete. Sie war nicht grün, sondern leuchtete in einem satten Gelb. Der Löwenzahn stand in voller Blüte.
Diese schöne Blumenwiese wollte ich mir näher ansehen. Hüpfend überquerte ich die Strasse und stand am Rande des Feldes. So etwas Strahlendes hatte ich in meinem kleinen Leben noch nie gesehen. Die Wiese kam mir unendlich gross vor.
Voll Begeisterung pflückte ich etliche von diesen gelben Blumen in meine Schürze und brachte sie nach Hause. Mama zeigte sich erfreut darüber, die verfleckte Schürze zog sie mir augenrollend aus und drückte sie in den hölzernen Waschzuber.
1880er-Jahre, Trimmis GR
Paul Thürer, *1878
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Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört die romanische Magd Maria Zarn aus dem Nachbardorfe Ems. Wenn mein Bruder Georg und ich ihr etwa davon liefen, so fluchte sie in ihrem verdorbenen Emser Romanisch hinter uns her: «Schmaladias buobs» und fügte auf Deutsch hinzu: «Ihr kaiben Buben tut doch wüster, als es Gott lieb ist.» Romanisch war also die erste Fremdsprache, die ich hörte.
Ich erinnere mich ferner deutlich, dass mein Bruder und ich eines Tages in die «Löser» an der Grenze von Ems gingen, um dort die «Poppi» auszugraben, denn man hatte uns gesagt, dass man die kleinen Kinder aus den Ameisen Haufen heraus hole. Vergeblich durchwühlten wir diese Haufen und liessen uns von den gestörten Ameisen zerbeissen. Als wir nach Hause kamen, lachten uns alle am Tisch aus und sagten, wir seien zu spät gekommen, andere hätten die «Poppi» geholt.
1910er-Jahre, Val d’Anniviers VS
Adeline Favre, *1908
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Während der ersten Lebensjahre hatte ich das sogenannte «grosse Weh», die Fallsucht, wobei es sich sehr wahrscheinlich um Epilepsie handelte. Zu jener Zeit hiess die Krankheit bei uns groumal. Im Herbst ging man von Saint-Luc aus zur Kapelle des Thel in Guttet-Bratsch, oberhalb Leuk, wo man die heilige Jungfrau gegen dieses grand mal anrief. Ich erinnere mich, dass mich im Alter von fünf Jahren die ganze Familie begleitete: Papa, Mama, Grossmama … Sie trugen mich abwechselnd. Man wollte mich durch Gebete heilen und nicht zu einem Arzt schicken. Bei uns war jedermann gläubig, und man hatte ein absolutes Vertrauen ins Gebet. Ich weiss nicht, bis zu welchem Alter ich unter dieser Krankheit gelitten habe. Ich spürte es jeweils, wenn ein Anfall kam, und sagte in unserem Dialekt: Yo tito, yo tito … je balance, je balance: «Ich schwanke, ich schwanke.» Und wenn mich niemand hielt, fiel ich zu Boden. Ich habe noch heute einige Narben davon.
Mein Leben als Kind war wie das aller Menschen im Val d’Anniviers: ein Leben unterwegs. Das Jahr unterteilte sich nach dem Verlauf der Feldarbeiten. Weil die Anniviards sowohl Reben in Sierre als auch Kühe auf den Alpen oben hatten, wechselten sie ständig von Ort zu Ort. Gewöhnlich wohnten wir in Saint-Luc. Unser Haus dort war recht geräumig und bequem. Das war sozusagen unser Hauptwohnort. Wenn man in den Reben arbeitete, wohnten wir in Muraz bei Sierre. Mehrmals im Jahr fand der grosse Umzug statt, der jeweils nahezu eine Woche dauerte. Das war ein grosses Durcheinander! Es zog nämlich das ganze Dorf gleichzeitig um: alle Familien, der Pfarrer, der Lehrer, das Vieh und die Kinder. Auf den Wagen packte man die Lebensmittel, die Haustiere, einen Teil der Kleider, und bei der Rückkehr nach Saint-Luc lud man auch noch die Kiste mit dem Schwein, das man am Katharinen-Markt in Sierre gekauft hatte, den Kaffee, den Zucker und das Mehl mit auf. Geschirr, Küchenutensilien und Bettwäsche besass man in doppelter Ausführung, sowohl im Haus in Saint-Luc wie in Muraz.
Die Schule in Sierre begann an Allerheiligen, Anfang November. Die Zeit von da an bis zum Katharinentag (25. November) waren die einzigen Tage im Jahr, wo sich wirklich alle zusammen im Tal unten trafen. Nach dem Katharinen-Markt fuhr man wieder nach Saint-Luc hinauf und blieb dort bis zum Februar. An der Fastnacht zog das ganze Dorf mitsamt der Schule wieder hinunter nach Sierre, wo die Rebarbeiten begannen. Man blieb während der Fastenzeit und bis nach Ostern unten. Im April musste man wegen des Korns, der Kartoffeln und der anderen Feldarbeiten wieder nach Saint-Luc