Daniel de Roulet

Wenn die Nacht in Stücke fällt


Скачать книгу

e/>

      Über dieses Buch

      In einem persönlichen Brief an den ­großen Maler Ferdinand Hodler erzählt Daniel de Roulet von der Fas­­zination, die er für die Gemälde dieses Künstlers hat, insbesondere für die berühmten Bilder seiner sterbenden Geliebten ­Va­­len­tine.

      Hodler war bereits ein erfolgreicher Künstler, als er der Pariserin Valentine Godé-Darel begegnete. Sie stand ihm Modell, sie verliebten sich, bekamen ein Kind. Dann erkrankte Valentine an Krebs. In mehreren hundert Bildern, Skizzen und Zeich­nungen hielt der Maler das Leiden und Sterben seiner Geliebten fest. Ein in der Kunstgeschichte einzigartiges Ereignis und ein berührendes Denkmal für Valen­tine.

      Die Begegnung und die leidenschaftliche Liebe zu Valentine wurden entscheidend für Hodler. Sie war es, die ihn inspirierte und beeinflusste, durch sie fand er zu seiner späten ­Freiheit und schuf ein Werk, das uni­verselle Gültigkeit hat. In eleganten Sätzen verteidigt Daniel de Roulet diese ­Liebe ebenso, wie er für den Maler eintritt gegen politische Vereinnahmungen und plakative feministische Kritik.

Daniel de Roulet, Fotografie Yvonne Boehler

      Foto Yvonne Böhler

      Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schrift­steller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit ver­­schiede­nen Preisen aus­gezeichnet wurde. Im Limmat Verlag sind elf Bücher in deutscher Übersetzung erschienen, zuletzt «Zehn un­be­­­küm­merte ­Anarchistinnen». Daniel de Roulet lebt in Genf.

      Daniel de Roulet

      Wenn die Nacht ­in Stücke fällt

      Ein Brief an Ferdinand Hodler

      Aus dem Französischen von Barbara Traber

      Limmat Verlag

      Zürich

      Lieber Monsieur Hodler

      Ich habe beschlossen, Ihnen einen langen Brief zu schreiben, und nehme Ihren hun­dertsten Todestag zum Anlass. Seit einem guten Vierteljahrhundert beschäftige ich mich mit Ihnen. Eine Freundin pflegt zu sagen: «Um kreativ zu sein, muss etwas den Sitz des Denkvermögens einnehmen.» Eines Tages habe ich in Basel das Gemälde entdeckt, das eine Frau, Ihre Geliebte, im Todeskampf zeigt. Valentine richtet ihren flehenden Blick auf Sie. Ihr Gesicht hat schon etwas Leichenhaftes, Sie haben diesem ein grau­sames Grün gegeben. Später habe ich erfahren, dass Sie sie mehrere Hundert Male gemalt und gezeichnet hatten. Sie haben über sie gewacht, sich um sie ge­sorgt, sie geliebt. Sie haben das Fortschreiten ihrer Krankheit auf ihrem Mund, an ihren Händen auf den zerknüllten Leintüchern genau beobachtet. Als das Ende nahte, sind Sie jeden Tag mit Ihrem Malzeug von Genf nach Vevey gefahren. Ich kenne keine ehrlichere Haltung für einen Künstler als diese Hart­nä­ckig­keit, sich einem Leben zu stellen, das aus­ge­löscht wird.

      Indem ich mich an Sie wende, möchte ich anderen erklären, warum Guillaume Apol­linaire Sie als «ei­nen der größten Maler dieser Epoche» gewürdigt hat. Fasziniert von Ihrer Liebe zu Valentine, habe ich einige Fragen. Bisher habe ich gezögert, Ihnen diese öffentlich zu stellen. Ich finde sie zu intim, und Sie sind ohnehin nicht mehr da, darauf einzugehen. Ich werde deshalb die Antworten selber suchen müssen und dabei auch Ihre Bilder zurate ziehen. Ich lege ­zu­dem Wert darauf, Sie gegen gewisse Personen zu verteidigen, die behaupten, Sie hätten Valentine zu einem Objekt, nicht einem Subjekt gemacht.

      Wie Sie liebe ich die Sonnenaufgänge über der Genfer Bucht, wenn der Mont-Blanc aus dem nächtlichen Nebel auftaucht. Auf Ihrem Balkon im zweiten Stock warteten Sie im Sessel, in dem Sie Ihre letzten Nächte verbrachten, auf den ersten Sonnenstrahl.

      Von dort aus, stelle ich mir vor, werden Sie meine Fragen beantworten, nicht durch Reden, sondern mit einigen Pinselstrichen, die die Schönheit der Morgendämmerung und die Pracht der Berge, die sich im See widerspiegeln, einfangen.

      Um meinen Freunden verständlich zu machen, warum meine Gedanken ständig um Sie kreisen, wer­de ich Ihnen Dinge über die Art, wie Sie der Welt durch die Malerei begegnen, schreiben, die Sie be­reits wissen. Wenn man sich sein Leben erzählt, bringt man es in eine Ordnung, auch wenn es in Wirklichkeit un­­ge­ordneter ist als die Biogra­fie. Ich werde also sagen, wie Sie gelebt haben, obwohl Sie nichts mehr berichtigen oder erklären können. Ich werde Ihnen Fragen stellen, die andere rhetorisch finden werden.

      Nein, Monsieur Hodler, ich bin nicht verschroben. Nach so vielen Jahren an Ihrer Seite versuche ich das, was ich Ihnen verdanke, klarzustellen: Warum die Porträts einer Sterbenden mir geholfen haben zu leben. Porträts, die ich so oft angeschaut habe, dass mir meine Augen wehtaten, manchmal auch wegen zu vieler Tränen.

      Sie sind am Pfingstsonntag, 19. Mai 1918, gestorben, als das Ende des Ersten Welt­kriegs noch nicht abzusehen war. Ich habe nachgeschaut, das Wetter war an je­nem Tag heiter. Zu dieser Zeit im Jahr be­­gin­­nen die morgendlichen Schwimmer, die glatte Oberfläche des Sees aufzuwühlen. Manchmal bin ich in der Morgen­dämme­rung der einzige Schwimmer in den Bains des Pâquis. Während ich ans Ufer zurück­kehre, schaue ich zu Ihrem Balkon hinauf. Es kommt mir vor, als seien Sie immer noch dort, in Decken ge­hüllt, aus denen nur Ihre müden Arme und ein Pinsel heraus­ragen.

      Ich habe nicht vor, Sie über alle Maßen zu loben, bin nur ein Bewunderer, weder Kunstkritiker noch Biograf. Viele Einzelheiten in Ihrem Leben und Ihrem Werk sind für mich uninteressant. Ich überlasse sie dem exaltierten Patrioten, der die größte Sammlung besitzt, für seine Reden. Das Meiste, was ich über Ihren Alltag und Ihr Werk weiß, habe ich von einem jungen Schriftsteller erfahren, der Sie in Ihren letz­ten Jahren begleitet hat. Er hat sich vieles notiert, ich habe geglaubt, ihm vertrauen zu können. Dass er ein mutiger Mensch ist, hat er im Kampf gegen den spanischen Faschismus bewiesen. Dank diesem Hans Mühlestein, dem Sie einen Teil Ihrer Geheimnisse vor­enthalten haben, werde ich versuchen, Ihre Wutausbrüche zu verstehen und warum Sie das Leben malten, indem Sie den Tod zeichneten. Um herauszufinden, wie ich meines führen soll, werde ich mir einige peinliche Bemerkungen erlauben. Nehmen Sie mir das nicht übel, wenn alles gut geht zwischen uns, werde ich auf dem Friedhof Saint-Georges drei rote Rosen, das heimliche Zeichen Ihrer Liebe zu Valentine, auf Ihr Grab legen.

      Vom Formen einer Büste

      Valentine Godé-Darel ist für Sie weder ein Modell noch eine Geliebte wie jede ande­re gewesen. Sie war nach einer gescheiterten Ehe mit einem Professor an der Sorbon­ne, der sich mit seiner Spielsucht ruiniert hatte, nach Genf gezogen. Sie waren etwa so alt wie ihr Vater. Man hatte bei ihr eine Krankheit diagnostiziert, die sie dahinraffen würde. 1914 war sie die ers­ten sechs Monate in der Klinik von Riant Mont ans Bett gebunden. Hier besuchten Sie sie zunächst Tag für Tag und brachten Ihren Malkas­ten mit. Sie nahmen den Zug nach Lausanne, der um ein Uhr in Genf abfuhr.

      Eines Abends im Februar 1914 war Sie der sechsundzwanzigjährige Hans Mühlestein wie immer am Bahnhof ab­holen gekommen. Er hat an Ihnen eine besondere Trauer, eine extreme Niedergeschlagenheit be­merkt. Sie waren nur sechzig Jahre alt.

      Valentine sollte operiert werden. Sie ertrug es nicht mehr, Sie auch nicht. An die­sem Tag hatten Sie sich beim Arzt nach dem Gesundheitszustand von Madame Darel erkundigt. Er hatte Ihnen die Wahrheit gesagt, die keine Hoffnung übrig ließ. Valen­tine sollte nichts gesagt werden, selbst wenn Sie annahmen, dass sie ihr Los kannte.

      In Ihrem Atelier im obersten Stock an der Rue du Rhône haben Sie die Mappe mit den täglich an ihrem Bett gemachten Zeichnungen geöffnet: Aquarelle und Dutzende von Skizzen für Bilder. Von heftiger Wut er­griffen, wollten sie diese zerreißen. Müh­lestein wird Ihre Worte überliefern: Das sei «alles nur Lüge und Dreck». – «Dieser schöne Kopf, diese ganze Figur, wie eine byzantinische Kaiserin auf den Mosaiken von Ravenna – und diese Nase, dieser Mund – und die Au­gen, auch sie, diese herrlichen Augen – all das werden die Würmer fressen! Und nichts davon wird übrigbleiben, nichts, rein nichts! Etwa dieses Zeug da –?» Das seien «Fetzen Papier», und all das Gemalte nichts als «beschmierte und verdreckte Hudeln und Lumpen!».

      Sie setzten dem armen Hans zu: «Kann man sie denn da mit Händen greifen? – kann man diese Fetzen und Lumpen so in die Arme nehmen?» Sie breiteten