Daniel de Roulet

Wenn die Nacht in Stücke fällt


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verabscheuten. Sie hat nicht auf einer Antwort bestanden, sich et­was weiter weg hin­gesetzt, Ihnen ihr Profil zugekehrt.

      Ohne zu überlegen, haben Sie in Ihrem Heft ge­blättert und dann in wenigen Stri­chen die Skizze der Unbekannten beigefügt, als hätten Sie ihre Frage be­antworten wollen: Ja, Madame, ich bin Maler.

      Sie hat den Kopf mit einem halben Lächeln Ihnen zugewandt und Ihnen dadurch erlaubt, weiterzuzeichnen, aber Sie mochten nur richtige Posen, und die Fremde hatte sich gerade bewegt. Auf den Terrassen in Montparnasse gab es wenige Frauen ohne Be­gleitung. Im Allgemeinen warteten sie auf jemanden, der sich verspätet hatte, oder suchten Klienten. Einige boten sich als Modell an, was meist mit einem aus­schwei­fenden Leben verbunden war. Berthe erwartete Sie, Sie haben dem Kellner ein Zei­chen gegeben, dass sie zahlen wollten. In diesem Moment hat sich die Dame, die Sie gezeichnet hatten, Ihrem Tisch ge­nähert und Ihnen mit einem Lächeln ihre Visiten­karte entgegengestreckt: Es würde mich nicht stören, Ihnen Modell zu stehen.

      Erneut sind Sie sprachlos geblieben, haben die Kar­te mürrisch mit einem kaum wahr­nehmbaren Ni­cken in die Tasche gesteckt. Sie war schon gegangen.

      Am nächsten Tag im Louvre vor einem Gemälde von Ingres, als Sie Ihr Heft geöff­net haben, um ein Detail zu kopieren, ist die Visitenkarte herausgefallen. Nehmen wir an, es handelte sich um Valentine Godé-Darel mit einer Adresse im sechsten Ar­ron­disse­ment. Das gelang Ihnen nicht oft, mit drei Strichen jemanden, der vorbei­ging, zu zeichnen. Sie ­ha­ben an das große unvollendete Bild in Ihrem Atelier in Genf gedacht, das Sie Blick in die Unendlichkeit nannten. Es fehlte dort noch eine weibliche Person. Und da, vor dem Gemälde von Ingres, haben Sie die Intuition gehabt, diese Lücke könnte durch die ­Pariserin, die Sie am Abend zuvor in Montparnasse gesehen hatten, gefüllt werden.

      Zurück im Hotel, während Berthe schon die Koffer für den nächsten Tag packte, haben Sie ihr vorgeschlagen, einige Tage in Paris zu bleiben. Sie war darüber er­staunt, erfreut, nochmals Ihr Geld für Kin­­kerlitzchen in den Läden der großen Bou­levards ausgeben zu können.

      Sie haben einen Laufburschen geschickt, ein Atelier in der Grande Chaumière zu reservieren, dann zu der Dame, deren Adresse Sie hatten – Rue Saint-Benoît –, um ihr eine Sitzung vorzuschlagen. Je schneller desto besser.

      Am Tag darauf hat dann die erste richtige Begegnung stattgefunden. Nach zwei Stunden, in denen Sie sie gezeichnet haben, als säße sie immer noch auf der Terrasse von Montparnasse, haben Sie die Dame zu einem Glas Wein eingeladen und ihr vor­ge­schla­gen, am nächsten Tag nochmals zu kommen. Das war ihr unmöglich. Sie ha­ben nicht zu fragen gewagt, woher der melancholische Schleier komme, den Sie in ihrem Blick gesehen hatten. Sie lächelte ihnen zu, Sie sagten Plattitüden. Später haben Sie erfahren, dass sie eben eine schmerzhafte Scheidung hinter sich hatte.

      Monsieur Hodler, diese Frau hat Sie eingeschüch­tert. Sie haben über sich gespro­chen und abschließend gesagt: Entschuldigen Sie, Madame Darel, ich rede und rede … Ausgerechnet Sie, von dem alle sagten, Sie seien wortkarg, unwirsch, «unfähig, einen Satz zu beenden», Sie haben Ihre Projekte und zu­letzt das erwähnte Bild in Genf geschildert. Sie hat nur einige Bemerkungen gemacht, aus denen klar geworden ist, dass sie über Ihre Kunst und die Theorie der Malerei mehr wusste als Sie. Sie kannte die Werke der meisten Ihrer Zeitgenossen, sodass Sie gedacht haben, sie male ebenfalls, wagten aber nicht, sie danach zu fragen.

      Über die Frauen haben Sie festgefahrene Meinungen gehabt. Die einen waren schö­ne Modelle, mit denen Sie die Sitzungen im Atelier gerne in schnelle Um­­armungen verlängerten, die Liste der Namen wäre lang. Die anderen Blaustrümpfe, verklemmte, gebildete Spieß­bürgerinnen, aber unattraktiv. Zum ersten Mal begegneten Sie einer Frau, die Sie gleichzeitig wegen ihrer Schönheit «einer byzantinischen Kai­se­rin» auf einem Mosaik in Ravenna und wegen ihrer Intelligenz faszinierte. Valentine hat Ihre Vorstellung der weiblichen Welt durcheinandergebracht. ­

      Es hat nur eine Skizze in Montparnasse und zwei Sit­zun­gen mit ihr als Modell in der Grande Chaumière ge­braucht, um zu verstehen, wie Ihnen geschah. Des­halb Ihr Vorschlag: Madame, wür­den Sie nicht einige Tage nach Genf kommen? Antwort: Monsieur Hodler, ich glaube nicht, die Frau zu sein, die Sie su­chen, aber wenn ich Ihnen damit eine Freude be­rei­ten kann …

      Später hat sie behauptet, Sie seien leicht verwirrt gewesen, bevor Sie entgegneten: Oh doch. Sie haben so getan, als hätten Sie von ihr keine Antwort bekommen, als Sie sie verließen, als wüssten Sie nicht, ob Sie sie je wiedersehen würden. Bis zu dem Tag, an dem Sie von ihr ein Briefchen erhalten haben.

      Carl Vogt, der Meister

      Die folgende Anekdote würde man noch in hundert Jahren in meiner Familie weiter­erzählen. Ein gewisser Carl Vogt, der erste Rektor der Universität Genf, überzeugter Materialist, bekämpfte die Bedeutung der theologischen Fakultät. Er hatte öffentlich dessen Dekan angeherrscht: «Da die Theologie behauptet, die Basis von allem zu sein, wird es genügen, dass sie im Keller unserer Universität Platz nimmt.»

      Dieser Carl Vogt, ein ehemaliger Freund von Ba­­ku­­nin und Karl Marx, ist verrufen. Als politischer Agitator in Deutschland flüchtet er das erste Mal nach Neuenburg, wird Assistent von Louis Agassiz. 1848 kehrt er nach Deutschland zurück, er wird in die Na­tionalversammlung in Frankfurt gewählt. Ein zweites Mal zwingt ihn die Re­pression, in die Schweiz zu flüchten. 1852, mit dreiundfünfzig Jahren, wird er zum Professor für Geologie ernannt, dann zum Pro­fessor für vergleichende Anatomie. 1863 er­scheint sein Buch, ein Lob des Darwinismus, Vorlesungen über den Menschen. Schweizer geworden, wird er zum Großrat, dann zum Nationalrat gewählt. Im Jahr 1872 wollen Sie, Monsieur Hodler, die Natur stu­dieren. Sie kommen nach Genf, um die Vorlesungen dieses Carl Vogt zu besuchen, dessen Furor von der ganzen helvetischen Jugend bewundert wird. Später werden Sie zu Ihrem Freund Loosli sagen: «Der Unterricht von Carl Vogt hat mir mehr künstlerisches Wissen ge­bracht und mich mehr bereichert als al­les, was ich über Kunst gelesen habe und je lesen werde. Sein Un­terricht war so mit­reißend, dass ich mich gefragt habe, ob ich nicht die Malerei aufgeben und mich ganz den Naturwissenschaften widmen solle, für die er mich begeistert hatte. Aber er sel­ber hat mir abge­ra­ten, in diese Richtung zu gehen, da ich nicht studiert hatte und mittellos war. Ich bleibe ihm dankbar, dass er mich gelehrt hat, die Natur und ihre Ge­setze zu verstehen. Er hat mir gezeigt, dass alles, was in der Natur geschieht, nur die unablässige Anwendung von unveränderlichen Gesetzen ist.»

      Carl Vogt erlaubt Ihnen, bei den anatomischen Seziersitzungen dabei zu sein. Sie dürfen dort zeichnen, was Sie vor Augen haben: aufgeschnittene Muskeln, leichen­blasse Gesichter, Hände. Später werden Sie zu diesem Thema sagen, dass der mensch­liche Körper Ihnen wie eine Maschine vorkomme. Um ihn zu verstehen, müs­se man ihn im Stillstand studieren. Carl Vogt bewundert Ihre Zeichnungen, für die er Sie lobt.

      Vielleicht wären Sie nach Bern zurückgekehrt, wenn es Carl Vogt nicht gegeben hätte. Aber Sie ha­ben in Genf einen zweiten Lehrer gefunden, diesmal einen für die Malerei: Barthélemy Menn. In den Fünfzigern geboren, ausgebildet in Paris, befreundet mit Corot und Manet. Fünf Jahre lang bringt er Ihnen das Hand­werk, den Stand der Technik, die Verehrung der alten Meister Ingres und Delacroix bei. Er hätte Sie Courbet vorstellen können, der ebenfalls in die Schweiz geflüchtet war und sich oft auf der Durchreise in Genf aufhielt. Das wäre eine schöne Begeg­nung geworden. Sie werden den Weg zum Realismus allein gehen müssen.

      Die in den Anatomiestunden gezeichneten leblosen Körper sind nicht wie Maschi­nen, die man wieder in Gang setzen kann. Außer man ist Maler. Denn sie beginnen zu leben, weil man beim Zeichnen eines lebendigen Körpers jedes Mal von dem, was man hier gelernt hat, profitieren kann. Der Materialismus von Vogt, sein Darwinis­mus macht Ihnen Mut. Sie haben schon zu viele Tote um sich gehabt, um sich nicht Fragen über die Unsterblichkeit zu stellen. Von jetzt an glauben Sie: Es sind die Ge­setze der Natur, die unsterblich sind, die Theologie soll im Keller bleiben.

      An jenem Abend, als Sie die Büste von Valentine in Ihr Atelier unter dem Dach an der Rue du Rhône gebracht haben, kommen Sie im Gespräch mit dem jungen Müh­lestein darauf zurück. Ganz aufgeregt nehmen Sie Michelangelo als Beispiel, von dem Sie behaupten, seine Gemälde und Skulpturen seien ihm gelungen,