ihre Instabilität aber ermöglicht, Latenz nicht bloß zunehmend zu vertiefen, sondern auch wieder auszufalten.
(3.) Der Streit in mir: Einfaltung und Entfaltung von Latenz. Auch für ihre latente Beziehung finden die Streitpartner der Klage traditionsreiche Bilder. So vergleicht der Körper seine insgeheimen Sorgen mit gefährlichen Tiefenströmungen, die verborgen unter dem Meeresspiegel ze bœsem wehsel für daz leben aufsteigen (V. 364–376); das Herz wohne im Körper wie in einem Haus (V. 57), liege in der Brust physisch eingeschlossen (V. 64f., 448), geschützt wie der Kern in der Schale der Nuss (V. 451–464). Ohne Hilfe des Körpers könne sich das Herz weniger Hoffnungen machen als Blumen unter der Schneedecke im März, die wenigstens die Mittagssonne am Leben erhalte (V. 821–849). Viele der metaphorischen Kerne legen poetologisch-hermeneutische Spuren (z.B. Schale / Nuss;69 Hoffnung der Blumen auf den Mai) und führen zu Diskursen, die ebenfalls mittels Wettkampflogiken strukturiert sind.70 Der Wettkampf der Klage indes scheint keine Lösung zu erreichen. Kaum dass beide Streitinstanzen ihre Kooperationsbereitschaft signalisiert haben – [›]nû solt dû, lîp, hin ze ir / unser fürspreche sîn.‹ / das tuon ich gerne, herze mîn (V. 1642–1644) –, wiederholt der anschließende strophische Frauenpreis jene Klagen und Aporien, von denen der Streitdialog ausging. Mag der Dialog also zumindest rudimentär an das Argumentationsverfahren der disputatio anknüpfen,71 so lässt er die zu erwartende determinatio gerade offen.72 Welchen Sinn hat dann die betonte Arbeit an Differenzen des Verbergens und Einschließens?
Ihre Leistung wird ersichtlich, wenn man Latenz als formale Struktur der Vervielfältigung analysiert, die nicht nur entzieht, sondern dabei spezifische Spielräume eröffnet. Kurz sei daher an die eingangs skizzierten Vorüberlegung erinnert. Latenzbeziehungen enstehen demnach durch doppelte Funktionszusammenhänge, die alternierende Unterscheidungen sowohl aufdecken als auch verbergen können.73 Auch Hartmanns Klage macht von beiden Möglichkeiten Gebrauch. Vor allem die erste Hälfte des Streitdialogs deckt auf, dass der Kampf im muot nicht bloß von einfacher Differenz oder Einschachtelung ausgeht (die etwa das Herz im Körper verortet), sondern ihre Unterscheidung fortlaufend rekursiv wiederholt. Diese Formbildung erfolgt insgesamt im Kontext des Körpers, der zu Beginn des Dialogs die Stimme des jungen Mannes übernimmt. Zu ihrer Einfaltung trägt bei, dass sowohl Herz als auch Körper für sich ebenfalls Innenseiten produzieren, wie sie der muot für die Rahmenperson eröffnet. Mit der Metapher der Tiefenströmung reklamiert etwa der Körper eine verborgene Eigensphäre, die ebenfalls als muot bezeichnet wird. Umgekehrt sieht sich auch das Herz noch weiter verborgen als nur unter körperlicher Oberfläche, wenn es sich mit Blumen unter der Schneedecke vergleicht und dabei dem Körper die Rolle der Sonne zuweist. So kurz derartige metaphorische Operationen aufleuchten, in allen Fällen vervielfältigen Körper und Herz dadurch Innenseiten, in welche wiederum die Reden und Bezeichnungen des Streitpartners eintreten können. Auch dies zielt weniger auf stabile Ordnung als auf fortlaufende Reorganisation, die Innenseiten vertieft.
Zwar wird also der Kampf als unbeobachtbar im Innern postuliert (V. 31: verswigen ungemach), doch verschreibt sich der Dialog genau dieser Beobachtung des Unbeobachtbaren. Als »Ort einer intellektuellen Auseinandersetzung« schlechthin trägt der Begriff des muot diese paradoxe Einschachtelung.74 Er bezeichnet einerseits die gesamte Form, indem er den gesamten Gesprächsraum konstituiert (V. 25). Andererseits bezeichnet er die uneinsehbaren Grenzen, die Herz und Körper fortlaufend ziehen, unterlaufen und nachziehen; indem Hartmann vom muot im muot erzählt (V. 140, 208, 662, 916 u.ö.), bringt er somit die mentale Einheit von Opposition und Zusammengehörigkeit auf den paradoxen Begriff.
In formalem Sinne wird damit das Selbst als Kulturierungsraum entworfen – als Serie ineinander gestaffelter Räume, die einander bedingen, aber sich kommunikativ zugleich autark abgrenzen (bis hin zu Rückzugsphantasien, V. 380f., oder zur Komik unmöglicher Tötungswünsche), die füreinander intransparent sind, obgleich sie sich als interdependent begreifen. Angesichts solcher paradoxen Innengrenzen überrascht es nicht, dass auch der für die Latenzarchitektur zentrale Begriff des muot ebenfalls ambivalent konnotiert ist. Einerseits betrachtet das Herz den muot ganz allgemein als eigene Domäne, über die es herrsche (V. 916); andererseits muss es anerkennen, dass dem Körper nicht einfach rehte[r] muot (V. 580) aufzudiktieren ist, sondern dieser sich auch selbst orientiert (wenn auch zum Schlechten, V. 243: bœser muot), dass der Körper unbeweglich in Bequemlichkeit verharren (V. 860) oder unbelehrbar bleiben kann (V. 815: vil lêre ich an dir verlôs). Auch das Herz konstatiert daher: Uns dienet niht gelîcher muot (V. 945). In verwirrend dichter Abfolge reiht der Dialog somit muot als Gesamtmedium, als rationales Vermögen des Menschen und als variabel auszuprägende Haltungen (vgl. insbes. V. 1130–1144). Während der Begriff der Seele nur sporadisch fällt und keinen nennenswerten Beitrag zur Organisation von Latenz leistet, setzen Bezugnahmen auf den muot umso größere Unterscheidungsleistungen in Gang; den muot aufrecht zu erhalten, erfordert Mühen (vgl. V. 781–800 u.ö.) – dâ hœret arbeit zuo (V. 613) – und dies gilt auch für den Rezipienten. Gemessen an diesem Anspruch wird verständlich, dass ein vergleichsweise differenzarmes Modell der Selbsthaltung, wie es der Kräuterzauber âne haz im Herzen anbietet (V. 1322), letztlich folgenlos verworfen wird.
Sofern sie nicht blockieren, erzeugen Paradoxien Bewegung – »Kippkalküle« prägen daher besonders die Argumentationsstruktur des Streitdialogs.75 Trotzdem vertieft Hartmann diese Dynamik nicht grenzenlos, sondern nimmt schließlich auch Differenzen zurück; wie jeder Dialog einmal enden muss,76 schließt auch der Streitdialog von Herz und Körper. Ab der stichomythischen Mittelachse beginnt die Klage, ihre Paradoxien zu restabilisieren. Äußerlich weist darauf schon der Verfahrenswechsel hin, der die Autokommunikation zwischen Herz und Körper zu einem äußeren Kommunikationsakt vereinfacht, der sich an die Dame richtet. Die Gelenkstelle bezeichnet der Streitdialog explizit mit einem letzten stichomythischen Wechsel: [›]nû solt dû, lîp, hin ze ir [= der Dame] / unser fürspreche sîn.‹ / daz tuon ich gerne, herze mîn. (V. 1642–1644). Aber wer spricht nun? Ohne Frage der Körper, der somit die Latenzform zu einer Stimme verdichtet.77 Und doch ist nicht so einfach anzugeben, wer spricht.78 Denn die Rede speichert zugleich Metaphern und Differenzen, die aus dem Streit mit dem Herzen gewonnen wurden bzw. direkt auf diesen zurückgehen. Betont werden innere Haltungen und Intentionen (V. 1729), das Herz als ›brennender Abgrund‹ des Begehrens (V. 1656, 1809), als Innenraum der Klage (V. 1740), der Sorge (V. 1787) und der Zweifel (V. 1829). Aufgerufen werden ebenso jene Bilder der Latenz, mit denen Herz und Körper den Streitdialog vertieft hatten. Das Ich schwimme gleichsam tief im Meer, weit vom Ufer entfernt, und wolle wegen seiner Sorgen tief in die Fluten gehen:
jâ lebe ich sam ich swande
über tiefen sê dan man hât
verre unz ze sande
(V. 1762–1764)
wan des tiefen meres fluot
mit sîner breiten flüete,
swie in vil selten ieman wuot,
für disen kumber ich in wüete.
(V. 1803–1806)
Die Preisstrophen zitieren den Bildbereich der Tiefe und variieren gleichzeitig seine Aussagerichtung – Latenz wird nun programmatisch bejaht. Gleiches gilt für den Jahreszeitentopos der Blüte: Klagte das Herz im Streitdialog, wie eine Blume unter einer Schneedecke zu leiden, die vor der sumerzît (V. 825) aufgehe, so behauptet das Ich im Frauenpreis ungleich selbstbewusster, nichts auf des sumers bluot zu geben (V. 1789), wenn sich die Dame nicht ihm zuwenden wolle. Die Schlussstrophen kondensieren somit ein »Gesamt-Ich«79 im Rückgriff auf Bezeichnungen und Bilder der Latenz, die neu akzentuiert werden. Auch den Wettstreit im Innern bezieht dieses Ich als ganzes auf sich (V. 1655).
Damit lässt sich die funktionale Leistung des Streitdialogs genauer ermessen. Um es deutlich zu sagen: Hartmann bietet keinerlei Lösung an für die thematische Aporie,80 die der strophische Schluss nochmals in Erinnerung ruft: Weshalb sollte die Dame gelouben mînem munde, der beteuert, von grunde