Andreas Rauch

Musikeinsatz im Französischunterricht


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und Zeigen der Hand) zu einem multisensoriellen Akt. Das Greifen der Töne ermöglicht das Begreifen der Musik. Diese Verknüpfung der Reize kann lernpsychologisch als Hauptelement des unbewussten Lernens durch Konditionierung betrachtet werden. Rhythmus und musische Elemente waren im Mittelalter damit integraler Bestandteil des Sprachunterrichts.

      Den meisten Schülern wurde die lateinische Sprache im Mittelalter in „Singschulen“ vermittelt.16 Durch einfaches Singen wurde zunächst der Rhythmus und Sprachfluss eingeübt. „After the rhythm and flow of the language had been drilled by plain chant, which was based solidly on speech rhythms, the pupil began the formal study of Latin.”17

      Der Lateinunterricht folgt hier also primär der mündlichen Tradition des Fremdsprachenunterrichts. Der Chorgesang (plain chant) knüpft an die antike Tradition der rhetorischen Memoria-Lehre an und ermöglicht das natürliche Lernen.18 Die Funktion des Lernens im Chor, das bis heute als gemeinsames Singen praktiziert wird, übernahm seit der Antike ein Sprechchor. Müller beschreibt die Entwicklung des Per-chorum-Lernens.19 Es handelt sich um

      gleichzeitiges, rhythmisch gegliedertes ‚Aufsagen‘ von Sätzen und Texten […]. Der Chor der Antike war ein Sprechchor, der wohl auch durch Rhythmen einfacher Instrumente gegliedert und synchronisiert werden sowie in regelrechten Chorgesang übergehen konnte.20

      Dieses rhythmische Lernen wurde dann auch auf den Fremdsprachenunterricht übertragen, als die Römer begannen, Griechisch zu lernen. Dabei wurden Ausspracheweise und Intonation im Unterricht metrisch vermittelt21 sowie der auswendig gelernte Stoff dann mündlich geprüft. Kelly beschreibt, dass Vergil-Rezitationen mit dieser Methode zum bevorzugten Unterrichtsstoff wurden.22

      Abb. 2:

      Kleriker mit Guidonischer Hand. Elias Salomo: Scienta artis musicae (1274) Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. D75 inf., fol. 6 r. Nach J. SMITS VAN WAESBERGHE, Musikgeschichte in Bildern, Bd. III/3. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1969, Abb. 72, S. 137.

      Abb. 3:

      Auszug aus Walter RIPMAN, A handbook of the Latin language. London: Temple Press 1930, S. 800.

      Diese Memorisierungs- und Rezitationsfunktion wird von Walter Ripman23 wieder aufgenommen und im Rahmen der direkten Methode24 angewendet (Abb. 3). Man erkennt eine an die mündliche Aussprache angepasste phonetische Transkription mit diakritischen Zeichen und suprasegmentalen Elementen wie der Tilde für Nasalierung, Liaison und Assimilierung (im Sinne der narrow vs. broad transcription).25

      Die bis hierher dargestellte Entwicklung bezog sich mit den kirchlich-liturgischen Lateinlehranstalten vor allem auf den klerikalen Bereich. Vereinzelt gab es aber auch weltliche Unterrichtsformen. Ein Beispiel dafür ist Egbert von Lüttichs Fecunda ratis26 („Das vollbeladene Schiff“). Das in Hexametern geschriebene Buch präsentiert sich als Schiff, eine Parabel auf eine Fahrt durchs Leben. So ist das Buch gegliedert in ein prora (Vorderdeck) mit 1768 hexametrischen Versen und ein puppis (Heck).27

      Egbert war Lehrer an der Domschule zu Lüttich28 und sein Lehrbuch sollte den Schülern die lateinische Sprache freudvoll näherbringen. Wieder steht die intrinsische Lernermotivierung mit Lernen durch Spaß und Freude im Mittelpunkt. Dieses Florilegium für jüngere Schüler enthält Auszüge antiker Autoren (wie Vergil, Ovid, Horaz und Seneca) sowie aus der Bibel und christlicher Literatur (Augustinus, Gregor der Große). Interessanterweise finden sich in der Sammlung volkssprachliche narrative Elemente wie auch mittelalterliche Fabeln (beispielsweise Reynard = Reineke Fuchs), Sprichwörter und Volksweisheiten („Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“), Volksmärchen (De puella a lupellis servata / „Das vor den Wölfen gerettete Mädchen“, also ein Vorläufer von Rotkäppchen), Reime, Klagelieder29 und Zitate aus dem 11. Jahrhundert, die explizit für den (säkularen) Unterricht des Triviums von Egbert selbst ins Lateinische übersetzt und in dieses pädagogische Konzept integriert wurden.30 Einige dieser volkssprachlichen Elemente nahm Egbert zuerst direkt nach seinem Widmungsbrief auf. Der Geleitbrief richtet sich ad Alboldum episcopum und meint damit den Bischof Adalbold (Adelbold, Albold) von Utrecht.31

      Bereits in der Widmung (dedicatio) werden pädagogische Prinzipien erläutert und explizit auf die neniae (hier: Kinderlieder), das rhythmisierte Vorlesen und den Gesang von Versen eingegangen, der durch häufige Satzwiederholungen eine mnemotechnische Funktion erfüllte.

      Nam non his, qui sunt assidua lectione ad uirile exculti, sed formidolosis adhuc sub disciplina pueris operam dedi, ut, dum absentibus interdum preceptoribus illa manus inpuberum quasdam inter se (nullas tamen in re) nenias aggarriret uti in his exercendis et crebro cantandis uersiculis ingeniolum quodammodo acueret, tum istis potius uteretur.32

      Ähnliche Lernformen lassen sich heute noch in Koranschulen und auch beim Einprägen von Tonsprachen, wie dem Chinesischen, beobachten. Auch hier spielt rhythmisiertes Nachsprechen, das gelegentlich auch in einen Sprechgesang einmünden kann, eine wichtige Rolle.

      Das Werk spiegelte die Erkenntnis- und Lebenswelt der Jugendlichen in der Knabenschule wider, indem es die Alltagserfahrung des zeitgenössischen Lebensumfeldes einbezog, die Region um Lüttich mit ihren Bauernhöfen und Dörfern, die den Schülern aus ihrem Alltag bekannt waren. So baut Egbert auf ein vertrautes inhaltliches Vorwissen auf und vermittelt damit Neues, das heißt die lateinische Sprache und Kultur.33 Vor allem die mündliche Tradition der Volksmärchen war den Schülern vertraut und für das Verstehen der lateinischen Übersetzung hilfreich. Parallel dazu war der Unterrichtsgegenstand motivierend. Die Moral der Fabeln fungiert hier als Lehrstück für die Schüler. Das Werk ist damit ein interessanter Beleg für die mittelalterliche Unterrichtspraxis. Die sakrale Musik spielte eine bedeutende Rolle im mittelalterlichen Lateinunterricht und wird von Petrus Abaelardus (1079-1142) erwähnt.34

      Viele zeitgenössische Traktate enthielten breite Darstellungen über Aussprachephänomene wie Vokalqualität, Silbenlänge und Intonationsmuster. Louis G. Kelly verweist auf spezifische phonetische Probleme:

      As it was taken for granted that spelling governed pronunciation, medieval scholars were faced with the problem of „silent letters“.

      Music, it seems, was pressed into service to ensure that these letters were taken care of. Letters whose phonetic existence was threatened by the pronunciation habits of the new Romance languages were strengthened by being sung on a „liquiscient“ note, i. e, separatedly from the vowel preceding them in a syllable, and in later centuries, this spread to all threatened consonants.35

      Bereits im Mittelalter gab es also im Unterricht das Phänomen der Hyperkorrektheit als Form eines spezifischen Sprachlernbewusstseins. Darauf hat Kelly am Beispiel der note liquiscente im Gregorianischen Choral hingewiesen.36

      Besonders erfolgreich hat der belgische Theologe und Humanist Nicolaus Clenardus (1493-1542) Sprachlehrlieder (language teaching songs)37 aus Braga