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Kreativität und Hermeneutik in der Translation


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versuchen sie sich auch gerade dadurch von ihren Vorgängern abzugrenzen, dass sie für sich und ihre heutigen ÜbersetzerkollegInnen ein gewandeltes Rollenverständnis geltend machen: „In der Literaturübersetzung herrscht ein ganz anderes Selbstverständnis als seinerzeit, auch ein sehr viel ausgeprägteres Selbstbewusstsein im Sinne von Selbstreflexion“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 201). Ohne eine allgemeine Aussage über ‚die‘ LiteraturübersetzerInnen der sechziger Jahre und ihren Grad an Selbstreflexion wagen zu wollen, muss jedoch betont werden, dass Ludwig Harig selbst wiederholt ein hohes Maß an Selbstreflexion unter Beweis gestellt und über seine Übersetzungsstrategien Auskunft gegeben hat. Neben seinem oben zitierten Beitrag aus der Saarbrücker Zeitung, der auch Eingang in die Werkausgabe gefunden hat, liegt von ihm noch mindestens ein weiterer Beitrag mit Bezug zur Queneau-Übersetzung vor: Spiel mit dem Stil: Zur Übersetzung von Texten Raymond Queneaus (Harig 1971). Nicht zu vergessen das Nachwort zur Neuauflage der Exercices-Übersetzung (Harig 1990/2007: 161–168) mit dem Titel Auf dem pataphysischen Hochseil. Zur Übersetzung der Stilübungen von Raymond Queneau, ein Text, der jedoch in größerem zeitlichen Abstand zur Erstpublikation der Übersetzung entstanden ist.

      Auch wenn Queneaus homophones ABC in der deutschen Erstübersetzung von Olfactif nicht aus einem Mangel an übersetzerischem Problembewusstsein unterschlagen wurde, bleibt die Tatsache bestehen, dass der Übersetzung von Ludwig Harig und Eugen Helmlé ein wichtiges, wenn nicht das entscheidende Element fehlt. Eine kreative Über- und Umsetzung der Exercice bestünde nämlich, kurz gefasst, darin, die vielschichtige Textstruktur, die sich als Simultaneität von Geruchsassoziation, Autobus-Szenerie und homophonem ABC artikuliert, mit den Mitteln der Zielsprache neu zu inszenieren. Diese Form der „Erhaltung von Komplexität“ (Reichert 1976: 70), erfordert in einem ersten Schritt ein Verständnis für das „Ensemble von Schichten“ (Reichert 1976: 67), das im Ausgangstext vorliegt, und in einem zweiten Schritt die nötige Kreativität im Umgang mit der Zielsprache, in der eine solche Vielschichtigkeit erneut entstehen soll. Dass sich im Hinblick auf das homophone ABC Heiberts und Schmidt-Henkels Suchbewegungen und -ergebnisse teilweise mit denen ihrer Vorgänger überschneiden, vermag kaum zu überraschen, bedenkt man die geringe Zahl an gleichklingenden Worten im deutschen Wortschatz. So finden sich in ihrer deutschen Neuübersetzung (ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt) sieben der von Harig in seinem Zeitungsbeitrag vorgeschlagenen Begriffe: „Zeh“, „Kuh“, „Essen“, „Tee“, „Uhu“, „Pfau“, „Weh“.

      Und doch unterscheidet sich die der Neufassung zugrundliegende Übersetzungsstrategie deutlich von der Herangehensweise der Erstfassung, wie sich anhand des letztgenannten Wortes „weh“, dem der Ausruf „o“ vorangestellt wird, exemplarisch zeigen lässt: Hatten sich Ludwig Harig und Eugen Helmlé in enger Anlehnung an das Original ausschließlich auf die Verwendung von Substantiven konzentriert, so erweitern Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel ihre Gestaltungsmöglichkeiten durch den Einbezug von Interjektionen wie z. B. „o weh“ und tragen damit der Tatsache Rechnung, dass es im Deutschen, anders als im Französischen, kaum gleichklingende Substantive gibt, die für die Inszenierung des olfaktorischen ABCs in Frage kämen. Um diese sprachsystematische Asymmetrie zwischen dem Französischen und dem Deutschen zu kompensieren, schöpfen die beiden Übersetzer aus dem breiten Fundus umgangssprachlicher Ausrufe, den der deutsche Wortschatz bereithält („mal Ah!, mal Bäh, […] ach geh! Ha! Ihh! Jottojott! Ka-ka!“), und steigern damit gleichzeitig den Grad an Mündlichkeit und Unmittelbarkeit von Queneaus Stilübung. Dieses übersetzerische Vorgehen erweist sich insofern als besonders gelungen, als es in der Zielsprache neue Motive generiert, ohne dabei den Eindruck willkürlicher Transformation zu erwecken. Heibert und Schmidt-Henkel emanzipieren sich also einerseits merklich von Queneaus Text, orientieren sich aber andererseits an dessen poetischen Verfahrensweisen. Dazu heißt es im Vorwort der beiden Übersetzer:

      Die Exercices de Style und ihr Spiel mit der Sprache scheinen zwar untrennbar eng an das Französische und seine Spezifika gebunden zu sein, an Aussprache, Schreibweise und Redeweisen. Aber am übersetzerischen Umgang mit diesen Texten zeigt sich, was das Literaturübersetzen eigentlich ist […]: Es gilt, in der Zielsprache mit ihren Spezifika den geeigneten Spiel-Raum zu finden und zu nutzen (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 203f.).

      Der von der Neuübersetzung in der Zielsprache eröffnete „Spiel-Raum“ besteht nun darin, dass die verschiedenen im Autobus präsenten Gerüche nicht nur aufgezählt, sondern teilweise durch positiv oder negativ konnotierte Ausrufe evoziert werden. Offenbar hat Queneaus sprachspielerischer Übermut die Übersetzer zur Schaffung einer nach eigenen Regeln gebildeten Assoziationskette angeregt, die mit der des Originals korrespondiert, ohne Deckungsgleichheit anzustreben. So komplettieren Heibert/Schmidt-Henkel das homophone Alphabet im Deutschen mithilfe des bei Harig/Helmlé unübersetzt gebliebenen Buchstaben Ypsilon: Das Wort üpsel gibt nicht nur den Klang der ersten beiden Silben des Buchstabens Ypsilon lautmalerisch wieder, sondern enthält, versteckt in einer (im Original nicht angelegten) anagrammatischen Spielerei, gleichzeitig den Verweis auf den (R)ülpse(r), der sich in das Motivfeld „Gerüche“ integriert. An dieser Lösung für den Buchstaben Ypsilon lässt sich der Grad der schriftstellerischen Emanzipation ablesen, den die Übersetzer im kreativen Umgang mit der Zielsprache erlangt haben und den der griechische Queneau-Übersetzer Achilleas Kyriakidis aus seiner eigenen Erfahrung heraus als „translation des inventions“ beschreibt:

      Quand on parle d’une traduction des Exercices de Style, on parle d’une translation des inventions, on parle […] d’une fouille pénible mais aussi excitante dans les mines profondes de notre propre langue. Queneau nous conduit jusqu’à un point. Puis, il nous laisse seuls dans les galeries obscures du labyrinthe. On entend son rire. (Assises de la traduction littéraire 1986: 107)

      Dass Exercices de style-Übersetzer sich also nicht allein darauf beschränken, Queneaus Ideen in der Zielsprache umzuformen, sondern selbst zu autonom agierenden Erfindern werden (müssen), zeigt der Fortgang der Olfactif-Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel: Für die Wendung „une certaine âcreté de rogne“ (dt.: „ein bestimmter scharfer Geruch der Wut“) setzen sie im Deutschen die sprichwörtliche „Stinkwut“ ein bzw. erweitern diese spielerisch zu „so ein[em] beißende[n] Stinkwutgestank“, ein Wortungetüm, das humorvoll auf den Hang der deutschen Sprache zu Komposita anspielt. Kreativ übersetzen heißt also ausloten und gestalten des zielsprachlichen „Spiel-Raums“ (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 202), der den Übersetzern zur Verfügung steht bzw. den sie sich im Vorgang des Sprachwechsels überhaupt erst erschließen und der den Bedeutungsschichten des Originals neue hinzufügt.

      Umso verwunderlicher, dass die beiden Übersetzer sich dennoch dazu entschlossen haben, den doppelten Boden des Textes, das mitklingende Alphabet, in ihrem (äußerst umfangreichen und höchst informativen) Anmerkungsapparat aufzudecken:

      Queneau baut hier zusätzlich zu den geruchsrelevanten Wörtern ein homophones ABC ein: abbés (A, B), décédés (C, D), œuf (E, F) geais (G), haches (H), ci-gîts (I, J), cas (K), ailes (L), aime haine au pet de culs (M, N, O, P, Q), hies que scient aides grecs (X, Y, Z – das Z nur sehr verschlüsselt). Die Übersetzung tut dasselbe mit den Mitteln des Deutschen. (Heibert/Schmidt-Henkel 2016b: 184)4

      Warum diese Anmerkung? Wie oben gezeigt, sprechen alle Beobachtungen dafür, dass die Neuübersetzung von Olfactif den deutschsprachigen Leser auf ganz ähnliche Weise heraus- und zum Rätsellösen auffordert, wie Queneau es in seiner französischen Exercice tut. Über die Gründe für den erklärenden Gestus, der mit der Anmerkung einhergeht, lässt sich allenfalls spekulieren: Haben die Übersetzer ihrer eigenen sprachlichen Performance dann doch nicht bis ins Letzte vertraut? Oder haben sie sich im Gegenteil ganz von der Freude über die Vielzahl ihrer originellen Funde leiten lassen und wollten sicherstellen, dass die LeserInnen ihre sprachakrobatische Leistung auch bestimmt nicht übersehen? Wie dem auch sei, ein gewisses Spoiling lässt sich an dieser Stelle nicht leugnen. Denn dem deutschsprachigen Leser wird durch die Anmerkung die Gelegenheit genommen, die Geruchskulisse in Queneaus Exercice selbstständig zu erkunden und dabei irgendwann auf das homophone Alphabet aufmerksam zu werden, sei es nach zwei, drei oder mehr Lektüredurchgängen. Das Entdecken verborgener Bedeutungsschichten ist integraler Bestandteil von Queneaus poetischer „Sprachuntersuchung“,