Lena Schönwälder

Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq


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Stellung in der Gesellschaft. Es leuchtet ein, dass sie, um in der Lage dazu zu sein, die Leserschaft zu skandalisieren, überhaupt erst rezipiert und für relevant erachtet werden muss.14 Zudem ist es notwendig, dass sie dabei einen relativ autonomen Status innehat und nicht durch beispielsweise Zensur »weichgespült« und konsensfähig gemacht wird. Friedrich verweist darauf, dass paradoxer­weise totalitär ausgerichtete Gesellschaften besonders skandalfrei sind: Dies liege aber vor allen Dingen daran, dass öffentliche Medienorgane der Propaganda und Konservierung totalitären Gedankenguts dienen und es damit von höchster Priorität sei, die Ideologien möglichst unhinterfragt zu lassen.15 Zum anderen kann Literatur selbst gesellschaftliche Nor­men »reflektier[en], »bestätig[en], »bekäm­pf[en]« und damit aktiv zu deren Transfor­mation beitragen.16 Dies setzt natürlich gleicher­maßen voraus, dass ein starker Bezug von Literatur zur gesellschaftlichen Realität des Le­sers als gegeben betrachtet wird.

      Ein solches Vermögen der Literatur, Skandale zu produzieren, wird in der Postmoderne nunmehr in Frage gestellt. Airaksinen17 und auch Ladenthin gehen soweit zu behaupten, dass der Literaturskandal theoretisch tot sei:

      Die Postmoderne war der Grabstein beim Tod des Skandals. Sie erklärte die repressive Toleranz nicht zum Faktum […] sondern zum Gebot. Die Verweigerung von jeglichem Normativen nahm der Literatur den Gegenstand. Denn wenn kein Weltbild Geltung hat, ist auch keines mehr zu zerbrechen. Wenn jede Moral kulturell relativ ist, kann man keine mehr der Unsittlichkeit überführen.18

      Im »Zeitalter der Nicht-mehr-schönen-Künste« sei ein Skandal aufgrund von Normenplu­ralität, dem Toleranzimperativ und Quasi-Totalabstumpfung gar nicht mehr möglich. Doch die Praxis widerlegt dies augenscheinlich. So räumt er ein: »Allerdings ist die Postmoderne eben nur ein begrenztes Konstrukt. Global sind die kulturellen Konstrukte nicht so plural, wie Relativitätstheoretiker es behaupten«.19 In der Tat scheint es fast so, als hätten sich Skandale gerade in den letzten Jahren nahezu multipliziert, nicht zuletzt durch Sensations­berichterstattung und bewusst provokantes Marketing.20 Aus dem literarischen Bereich seien dabei nur ein paar Namen genannt: Thomas Bernhard, Martin Walser, Bret Easton Ellis, Catherine Millet, Christine Angot, Charlotte Roche und natürlich Michel Houelle­becq. Hiergeist löst das Paradoxon von Gesellschaften, die trotz vermeintlicher (Werte-)Liberalität besonders viele Skandale produzieren, indem sie den (Literatur-)Skan­dal als anachro­nistisches Kollektivritual identifiziert, das trotz historisch wandelbarer Grundbe­dingungen gemeinschaftsstiftende Funktionen übernimmt. In einem Vergleich von Flau­berts Madame Bovary und Catherine Millets L’Histoire sexuelle des Catherine M. (2001) arbeitet sie folgende Invarianten heraus:

      1. Der Skandaldiskurs zielt auf die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion ab. 2. Ihm wohnt mit seiner Anlehnung an die Sündenbockstruktur eine starke symbolische Aufladung inne. 3. Er perpetuiert längst überholte Werte einer vormo­dernen Gesellschaftsstufe, ohne dass die Akteure hierin eine Zeitwidrigkeit erkennen würden. 4. Er ist durch einen hohen Grad an Emotionalität gekenn­zeich­net.21

      Und während im 19. Jahrhundert dieser Ritus noch der Behauptung der Autonomie des Literaturbetriebs diente, setzt sich dieser Kampf in der Postmoderne symbolisch fort, obgleich er de facto obsolet erscheint. Wie der bereits erwähnte Fall Rushdie bereits zeigte, kann dabei das Rollenspiel neu besetzt werden: Der vormals Skandalierte wird zur Galions­figur eines Freiheitskampfes erkoren, steht nunmehr für den Erhalt eines mühsam erkämpften Rechts.22 Ob die Bedrohung der Kunstautonomie in einem solchen Fall real ist oder nicht, das Skandalritual mache vielmehr einen Raum der Freiheit verfügbar, der sich von der Banalität des Alltags absetze:

      Indem Mitglieder einer Gemeinschaft die Autonomie des literarischen Feldes zelebrieren, inszenieren sie dieses als heiligen Raum der Evasion und Transgression, der sich von der profanen Alltagsordnung distinktiv abhebt. So gesehen übernimmt der Skandal die Funktion der Sakralisierung des Literaturbetriebs, wobei der Autor die Rolle des Propheten, seine Verteidiger die der Priester, seine Gegner die der Häretiker einnehmen.23

      Hier lässt sich dann auch unschwer eine Parallele zu Bataille und seiner Konzeption der Literatur als Raum der Transgression erkennen. Die Literatur (und Kunst im Allgemeinen) behaupte sich damit kontinuierlich als Alternativraum, der sich nicht den Regeln des sozialen Gefüges des realen Lesers bzw. Rezi­pienten unterzuordnen habe.

      Dieser Ansatz, der den postmodernen Literaturskandal als anthropologische Konstante und gemeinschaftsstiftendes Ritual zu definieren sucht, scheint mir äußerst lohnend, aber nicht erschöpfend. Denn – um noch einmal auf Friedrichs Einschränkung zurückzu­kommen – wir mögen uns zwar in einem Zeitalter befinden, in dem vermeintlich »anything goes«, doch gibt es dennoch Themen, die berühren und provozieren, und Literatur, die aufrütteln und anecken will. Auch wenn der Rezipient natürlich die Bereitschaft aufbringen muss, sich durch die Kunst erregen zu lassen (oder eben nicht, da wären wir bei den von Hiergeist betitelten »Atheisten des Skandals«, also jene, die »sich selbst in eine Metaposition […] katapultieren«, um »ihre eigene Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Modellen zu demon­strieren«24), reagiert er dennoch äußerst selten rein leidenschaftslos und ästhetisch. Auch der professionalisierte Leser, der dem Text eine kritische Distanz entgegenbringt, wird kaum völlig unbewegt den Gewaltimaginationen eines Bret Easton Ellis’ folgen können. Literaturskandale folgen nicht nur dem mehr oder weniger unbewussten Bedürfnis, die Literatur bzw. Kunst als sakralen Raum der Überschreitung zu markieren, sondern verweisen punktuell gleichermaßen auch auf prekäre Themen, die gegebenenfalls nicht allein kunstspezifisch, d.h. von poetischer Natur sind, sondern dem sozialen, politischen, religiösen etc. Bereich entstammen. Sofern es sich nicht aus­schließlich um einen Skandal um die Autorenperson selbst handelt (z.B. heikle Aussagen in einem Interview), können wir bei einem skandalträchtigen Text also durchaus fragen: Warum erregt er die Gemüter und was genau stellt das Skandalon dar?

      1.4.3 Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals

      Wie bereits erläutert wurde, ist dem Skandal eine gewisse Theatralität zu eigen; er ist ein Kommunikationsprozess, bei dem stets die gleichen Rollen verteilt bzw. Funktionen erfüllt werden. Es handelt sich dabei im Zusammenhang mit Literatur nicht nur um einen hilf­reichen Begriff, weil er ein Modell für einen gesellschaftlichen Prozess bezeichnet, sondern auch, weil er gleichermaßen Funktionen und Formen der literarischen Kommuni­kation transparent macht. Der Autor ist Erzeuger einer literarischen Botschaft, welche (aus diversen denkbaren Gründen) von einem Empfänger, d.h. Rezipienten bzw. Leser als anstößig empfunden wird. Der Text ist ihm ein Skandalon und diese Empörung wird vor und von einer größeren Rezipientenschaft geteilt. Als Folge dieses öffentlichen Skandaldiskurses steht einerseits die endgültige Abstrafung des Werkes und des Autors (im 19. Jahrhundert war die ›Höchststrafe‹ wohl Zensur und Verbot, d.h. ein Titel konnte komplett vom Buch­markt verbannt werden; heute ist dies in westlichen Kulturen kaum denkbar, jedoch kann ein Werk durchaus noch als »nicht-literarisch« bzw. gar »Schund« abqualifiziert werden) oder aber die symbolische Beförderung des Autors zur Galionsfigur der künstlerischen Autonomie oder auch zum »Warner und Mahner«, der Missstände in den öffentlichen Diskurs bringt.1 Zwar kann ein solcher Literaturskandal mehr oder weniger zufällig entstehen, so eben z.B. der Fall Madame Bovary, dessen Ausmaße sicher nur annähernd erahnt werden konnten. Doch sollte der Aspekt der Intentionalität durchaus nicht vernachlässigt werden. Natürlich kann ein literarisches Werk bewusst kontrovers gestaltet werden; der Autor kann es sich zum Ziel setzen, auf möglichst effektvolle Weise problematische, heikle Themen zu thematisieren. Und hierin schlummert auch das kreative Potential des Skandals: »In der Provokation von Aufregung, der öffentlichen Infrage­stellung gesellschaftlicher Ordnungsmuster, dem Überraschen mit neuen ästhetischen Ansätzen und der Anregung von Diskursen können wesentliche Ansprüche moderner Künstler gesehen werden«,2 die natürlich auch der Selbstinszenierung und Aufmerk­samkeitssteigerung dienen. Die intentionale Provokation ist ein performativer Gestus, der auf der Schaubühne des Medienskandals inszeniert wird.3 Andererseits wird damit potentiell ein Austausch über Werte und Normen incentiviert, der einer Wertetrans­formation bzw. –aktualisierung zugute kommen kann. Eine Poetik des Skandals umfasst also einerseits die Ebene der (Rezeptions-)Ästhetik und diesbezüglich die wirkungs­ästhetisch effektvollen Kunstmittel