Helga Kotthoff

Genderlinguistik


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und führen zu dem Schluss, dass das sog. generische Maskulinum (GM) nur sehr bedingt funktioniert. In diesem Kapitel wollen wir die wichtigsten Tests vorstellen und relevante Differenzierungen vornehmen.

      Zunächst irritiert die genderlinguistische Verwendung des Terminus generisch, denn er wird anders als in der Linguistik üblich verwendet (s. Hellinger 1990, 89f.; Heise 2000, 4; Christen 2004, 27f.; Petterson 2011, 62–70; Ott 2017a, 16f.). Eine generische Personenbezeichnung bezieht sich abstrakt auf eine Gattung (Klasse) als solche und keinesfalls auf konkrete Mitglieder derselben. Generisch sind folgende Sätze: Der/Ein MenschMensch ist ein Säugetier. (Die) Menschen sind Säugetiere. Wie man sieht, kann man sowohl im Singular als auch im Plural mit beiden Artikeln generisch referieren. Indem sich Generika nicht auf konkrete (Referenz-)Objekte beziehen, sind sie nicht-referenziell (nicht-identifizierend). Deshalb sind sie auch nicht erweiterbar durch Zahlwörter oder durch bestimmte/r, gewisse/r oder diese/r. Damit würde eine spezifische, referenzielle Lesart erzeugt: Diese/Bestimmte Menschen des 15. Jhs. setzt voraus, dass es sich um spezifische, vorerwähnte oder zumindest bekannte (eingeführte) Menschen handelt. Dies trifft auf Generika genau nicht zu. Betrachtet man die Tests zum sog. GM, wird echte Generizität selten zugrundegelegt. In aller Regel handelt es sich um spezifische Referenzen.

      Sehr kurz fasst sich Bußmann (2002) bei der Definition des GM: „Gebrauch maskuliner […] Personenbezeichnungen und Pronomina zur Referenz auf beide Geschlechter“ (245). Klann-Delius (2005) liefert außerdem einige Beispiele:

      Unter generischem Maskulinum werden Formen maskuliner Nomina und Pronomina verstanden, die sich auf Personen mit unbekanntem Geschlecht beziehen, bei denen das Geschlecht der Personen nicht relevant ist, mit denen männliche und weibliche Personen gemeint sind oder mit denen eine verallgemeinernde Aussage gemacht werden soll […]. Beispiele sind:

        Die Sendung wird dem Zuschauer gefallen.

        Der Japaner ernährt sich meist gesund. Fast jeder konsumiert häufig Fisch und Gemüse.

        Man sollte wirklich nicht mehr rauchen.

       Jeder, der raucht, kann einen frühen Tod erleiden. (26) [Unterstreichungen: DN].

      Generisch wird somit in der Bedeutung von geschlechtsübergreifend oder -inklusiv, geschlechtsneutral, -indifferent oder -abstrahierend gefasst und bildet die Opposition zu geschlechtsspezifisch oder geschlechtsdefinit. Wir schließen uns Pettersson (2011) an und sprechen ab jetzt von geschlechtsübergreifendem Maskulinum, das wir – nicht unintendiert – ebenfalls unter „GM“ subsumieren, der bereits etablierten Abkürzung für Generisches Maskulinum. Da die Literatur zum generischen Maskulinum in aller Regel geschlechtsübergreifende Maskulina meint, ist diese Gleichsetzung vertretbar.

      Vorab sind verschiedene Arten der Determination zu berücksichtigen (Hellinger 1990, 87–92; Doleschal 1992; Schoenthal 1998, 11; 2000). Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man eine Einzelperson (sprachlich) ausstellt und beleuchtet (dieser Nachbar ist besonders nett) oder ob man von irgendeiner Gruppe von Personen spricht, die womöglich nicht einmal Subjekt oder nur Objekt der Handlung ist, sondern Teil einer adverbialen Angabe (du kannst das Paket nebenan bei den Nachbarn abgeben). Dass dieser Nachbar keine Frau ist, dagegen nebenan bei den Nachbarn Frauen enthalten kann, dürfte weithin geteilt werden. Deutlich wird auch, dass der Numerus (ob Singular oder Plural) eine Rolle spielt, denn bei einer spezifischen Einzelperson (dieser Nachbar) erwartet man eine konkrete und korrekte Geschlechtsangabe, nicht aber von allen Personen einer Gruppe (meine Nachbarn); mehr dazu unten.

      Da nicht-referenzielle Gebräuche von konkreten Eigenschaften der Personen absehen, tritt in solchen Verwendungen das Personengeschlecht am meisten zurück, wird es also irrelevant (dem Zuschauer wird das gefallen). Dies gilt auch für Prädikatsnomen, d.h. Nomen, die nach einer Kopula (einer Form von sein oder werden) stehen: In mein Nachbar ist Bäcker entfaltet ‚Bäcker‘ primär die semantischen Merkmale ‚beruflich backend‘. Ein bestimmter, konkreter Bäcker tritt dabei nicht auf. Gleiches gilt für die Kopula werden: mein Nachbar wird Bäcker. Hier stellt sich die Frage, ob das durch das Maskulinum evozierte Geschlecht soweit herausgefiltert bzw. in den Hintergrund geschoben wird, dass auch bei Frauen solche maskulinen Prädikatsnomen stehen können: ?meine Nachbarin ist Bäcker / wird Bäcker; sie ist Physiker (gemäß Duden-Grammatik 2016, § 1582 geht beides; mehr in Kap. 6.2.2.1).

      (Nicht-)ReferenzialitätReferenzialität ist ein komplexes, abgestuftes Konzept. Am referenziellsten sind Objekte (dazu gehören auch Menschen und Tiere), wenn sie sprachlich identifiziert sind, und das leisten per se Eigennamen am besten, die wir hier ausklammern (Kap. 9). Objekte werden auch identifiziert, wenn man sprachlich auf sie zeigen kann, denn Referenzialität ist an den Grad der Identifizierbarkeit, ‚Sichtbarkeit‘ und Definitheit geknüpft. Dies alles nimmt in Tab. 5-1 von a) nach h) hin ab. Wir verwenden jeweils zwei maskuline Personenbezeichnungen: Gast, wozu keine geläufige feminine Form besteht, und Rentner, wozu das usuelle Femininum Rentnerin existiert. In beiden Klassen dürften sich real so viele Frauen wie Männer befinden, in letzterer eher noch mehr Frauen. Wir schließen damit männlich genderisierte Personenbezeichnungen wie Mörder, Kapitäne, Astronauten bewusst aus, ebenso weiblich genderisierte wie Kosmetiker, Altenpfleger, Erzieher (hierzu später mehr).

Beispiele Kategorien
a Sehr geehrter Gast! Lieber Rentner! adressierend + + Referenzialität – – + + Relevanz von Geschlecht – –
b Dieser Gast / Dieser Rentner bezieht gleich sein Zimmer referierend: spezifisch, demonstrativ, Agens
c Der Gast / Der Rentner sucht noch seinen Koffer spezifisch, definit, Agens
d Ich habe den Gast / den Rentner begrüßt spezifisch, definit, Patiens
e Ich begrüße nachher noch einen [bestimmten] Gast / Rentner spezifisch, indefinit
f Im Wirtshaus kommt nachher sicher noch [irgend] ein Gast / ein Rentner vorbei nicht-spezifisch, indefinit
g Sg.: Ein (der) Gast / ein (der) Rentner ist immer willkommen; Pl.: Gäste / Rentner sind immer willkommen. generisch, Subjekt
h Du bist ein beliebter Gast / jetzt (ein) Rentner prädikativ

      Tab. 5-1: Einige syntaktische und referenzlinguistische Kategorien und ihr Bezug zur ReferenzialitätReferenzialität und Relevanz von Geschlecht

      Tab. 5-1 enthält nur eine kleine Auswahl an syntaktischen und referenzlinguistischen Kategorien. Sie verdeutlicht deren Bezug zur ReferenzialitätReferenzialität und damit zur Relevanz von Geschlecht: Je referenzieller, desto obligatorischer die Geschlechtsangabe. Wir haben unter a) auch die sog. AdressierungAdressierung eingefügt (und vom referierenden Rest abgehoben),