zur Gestaltung von Männlichkeiten, Weiblichkeiten, Zwischen- und Transidentitäten nachzuzeichnen. Die noch größere Frage, wie es zur sprachlichen Geschlechtsdifferenzung überhaupt kommt – phylo-, historio- wie ontogenetisch –, ist noch kaum beantwortet: Weder wissen wir, ob alle Sprachen Geschlecht kodieren (und, wenn ja, wie verpflichtend und seit wann sie es tun), noch wie sich im Zeitverlauf der Ausdruck dieser Information verändert, verstärkt oder abschwächt. Dieses Buch wird dazu neue Einblicke liefern.
1.2 Geschichte der linguistischen Genderforschung
Die linguistische, feministisch geprägte Forschung zu Sprache, Gespräch und Geschlecht blickt in Deutschland inzwischen auf eine über vierzigjährige Geschichte zurück. Damit wurde eine soziolinguistische Teildisziplin begründet, die mehr in den USA als in Deutschland intensiv beforscht wird. Da die Genderlinguistik in Deutschland nie institutionalisiert wurde (es gibt keinen Lehrstuhl mit genderlinguistischer Ausrichtung), hinkt die Forschung zum Deutschen beträchtlich der englisch-amerikanischen hinterher. Immer wieder werden wir in dieser Einführung auf gravierende Forschungs- und Wissensdefizite zum Deutschen hinweisen müssen. Manche Kapitel (z.B. Kap. 12 zur Soziolinguistik) sind darauf angewiesen, sich auf anglophone Länder zu beziehen. Dennoch versuchen wir, uns in dieser Einführung so weit wie möglich auf das Deutsche zu konzentrieren. Dabei müssen wir (aus Platzgründen) kontrastive Betrachtungen, so wichtig und interessant sie wären, weitestgehend ausklammern (dazu seien die Bände „Gender across languages“ von Hellinger/Bußmann 2001–2003 sowie Hellinger/Motschenbacher 2015 empfohlen, die 42 Sprachen untersuchen). Dennoch hat sich innerhalb der bisherigen Forschung ein breites Spektrum an Fragestellungen entwickelt, das sich mit grammatischem Genus ebenso beschäftigt wie mit Wortbildung, Namen, Gesprächsforschung und Genderstilisierungen in den sog. Neuen Medien. Dabei kommt eine Bandbreite an qualitativ-interpretativen und quantifizierenden Methoden zum Einsatz.
Zu Beginn der 1970er Jahre entstanden in den USA erste Studien zum Zusammenhang von Patriarchat, Sprache und Diskurs. 1970 hatte Mary Ritchie Key auf der Tagung der American Dialect Society ihren Vortrag „Linguistic Behavior of Male and Female“ gehalten (1972), 1972 analysierten Casey Miller und Kate Swift Sexismen im Wortschatz, und 1973 erschien Lakoffs Beobachtungsstudie dazu, wie Frauen in Sprache und Sprechen marginalisiert werden, z.B. wie sie im sog. generischen Maskulinum verschwinden und einen Sprechstil der Zurückhaltung, Unterordnung und Unsicherheit praktizieren, der ihre gesellschaftliche Zweitrangigkeit absichert. LinguistInnen widmeten sich auch der textuellen Repräsentation der Geschlechter, z.B. in Kinder- und SchulbüchernSchulbücher (Nilsen 1971, 1973; Ott 2017a, b), in denen mehr Jungen auftraten und viel interessanteren Tätigkeiten nachgingen als die wenigen Mädchen.
Seither hat sich die internationale linguistische Geschlechterforschung zu einem lebendigen Forschungsgebiet entwickelt. Sie beschäftigt sich mit Grammatik und Diskurs, mit Sprachsystem, Sprachwandel und Sprachverhalten, auch im Kulturvergleich (Günthner/Kotthoff 1991; Hellinger/Bußmann 2001–2003; Hellinger/Motschenbacher 2015). Cameron (1998) und Coates (1998) haben wichtige Veröffentlichungen in zwei Readern zugänglich gemacht. Auch ein Handbuch zu Sprache, Kommunikation und Geschlecht steht zur Verfügung (Holmes/Meyerhoff 2003).
In Deutschland bildeten Beiträge von Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz den Auftakt zur feministischen Linguistik. Trömel-Plötz (1978) griff in „Linguistik und Frauensprache“Frauensprachen Fragestellungen aus den USA auf und übertrug sie auf das Deutsche. Sie identifizierte und kritisierte dabei bzgl. des Sprachsystems das frauenverschleiernde sog. generische Maskulinum wie der Zuhörer, bei dem sich Frauen mitgemeint fühlen dürfen, das sich aber oft genug als geschlechtsspezifisch-männlich erweist. Auch Wortbildungsasymmetrien (Gott → Göttin, aber Krankenschwester → *Krankenbruder) sowie semantische und lexikalische Asymmetrien identifiziert sie erstmals, des Weiteren Unterschiede im sprachlichen Verhalten. Dem folgte die Replik „Die Frauen und die Sprache“ von Kalverkämper (1979), der das Anliegen der Linguistin missverstanden hatte und ihr einen linguistisch-strukturalistischen Nachhilfekurs angedeihen ließ. Dies wiederum hat Pusch (1979) zu einer Antwort veranlasst, in der sie für das Deutsche den Grundstein zur feministischen Linguistik gelegt hat. Dem sind mehrere gewichtige Aufsätze und Bände von Trömel-Plötz, Pusch, aber auch anderen LinguistInnen gefolgt (so 1995 ein Überblicksartikel von Bußmann, mehrere Beiträge von Schoenthal, 2012 der Sammelband „Genderlinguistik“ von Günthner et al.). Samel (2000) hat die erste Einführung in die feminische Linguistik verfasst, gefolgt von Klann-Delius (2005). Ayaß (2008) hat mit „Kommunikation und Geschlecht“ eine Einführung in Kommunikationssoziologie vorgelegt. Bis heute ist die Disziplin der feministischen Linguistik bzw. Genderlinguistik ein umstrittenes und ideologisch umkämpftes Feld mit zahlreichen, sehr unterschiedlichen feministischen und antifeministischen Strömungen. Gravierende Wissensdefizite und ins Kraut schießende Vermutungen, persönliche Meinungen und vehement artikulierte Überzeugungen meist ohne linguistische Fundierung sind die Folge, unter Beteiligung von Fachleuten und Laien. Insbesondere der öffentliche Diskurs ist durch eine robuste Ignoranz gegenüber der Linguistik geprägt, er verzichtet auf die linguistische Forschung. Diese Einführung versucht deshalb, einen Überblick über den aktuellen, oft verstreut publizierten Wissensstand zu liefern, aber auch die zahlreichen Forschungsdefizite zu benennen.
In diesem Band vertreten wir ein gemäßigtes Konzept des sprachlichen KonstruktivismusKonstruktivismus. Es besteht kein Zweifel daran, dass Geschlechtsdarstellungen (doing gender) nicht nur durch Kleidung, Körperstilisierungen, Berufe, Tätigkeiten und Institutionen produziert werden, sondern maßgeblich durch Sprache und Sprechen, sei es in Gesprächen und Interaktionen, sei es durch Anreden, Namensnennungen, die Verwendung von Pronomen, oder – auf noch subtilere Weise – durch grammatische Strukturen: Geschlecht ist im Deutschen sehr präsent, man kann der Geschlechtsauskunft kaum entrinnen. Sprachsysteme bestehen aus der Härtung jahrhundertelangen Sprechens der Geschlechter mit- und übereinander. Nicht nur die Lexik (Wortschatz), auch die „Grammatik ist geronnener Diskurs“ (Haspelmath 2002, 270), denn „Grammatik entsteht als Nebenprodukt des Sprechens in der sozialen Interaktion“ (ebd., 262). Offensichtlich ist oder war (viele Jahrhunderte lang) Geschlecht in der Interaktion eine so wichtige Information, dass Geschlechtshinweise tief in die deutsche Grammatik eingesickert sind. Damit handelt es sich um ein kaum zu umschiffendes Phänomen, das Geschlecht ständig aufruft. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das deutsche Sprachsystem eine Obsession mit Gender hat.
Wir betrachten das Verhältnis zwischen Sprache und ‚Wirklichkeit‘ im Sinne eines moderaten sprachlichen RelativitätsprinzipsRelativitätsprinzip als ein flexibles, wechselseitiges Bedingungsgefüge: Einerseits prägt und präformiert die Sprache als Sediment früherer Diskurse unsere Wahrnehmung (und damit auch die Wirklichkeit). Sie determiniert sie aber nicht; sonst wäre Sprachwandel (der permanent stattfindet) kaum denkbar. Andererseits und umgekehrt aktiviert man beim Sprechen eben diese Kategorien und Informationen in jeder einzelnen Äußerung. So sind Ausdrücke wie Köchin, Arzt, sie, er nicht nur bloße Referenzformen, sondern gleichzeitig (je nach Sichtweise ausschließlich) Appellationen mit wirklichkeitskonstituierender Funktion (Hornscheidt 1998, 2006). Unseres Erachtens vollzieht sich Wirklichkeit auch jenseits sprachlicher Handlungen, wenngleich sie maßgeblich diskursiv hergestellt wird. So beobachten wir immer wieder, dass und wie veränderte soziale Verhältnisse sich in der Sprache niederschlagen. Hierzu schreibt Haß-Zumkehr (2003):
Wir finden in der Sprache weniger ein Abbild als einen Abdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse vor […], der die Wahrnehmung so lange prägt, bis entweder die Verhältnisse oder die Wahrnehmung der Verhältnisse in Misskredit geraten. Bewusste Veränderungen der Sprache sollen die Wahrnehmung korrigieren. Auch veränderte gesellschaftliche Verhältnisse können jedoch zu Veränderungen in der Sprache führen, auf die die feministische Sprachkritik nicht abgezielt hatte. Tatsächlich lässt sich beides oft gar nicht voneinander trennen (162).
Im Folgenden distanzieren wir uns von einseitig-radikalkonstruktivistischen Ansätzen, die die Sprache bzw. das Sprechen verabsolutieren.
Wir gehen davon aus, dass spezifische Sprechaktivitäten und Kommunikationsstile in der Gesellschaft