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Camerarius Polyhistor


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er bereits ein angesehener Editor und Übersetzer, daneben auch Dichter. In Leipzig scheint sich Camerarius nichts weniger vorgenommen zu haben als eine Grundlegung der Wissenschaft aus dem Geist philologischer Forschung.8 Er ging dabei von der Annahme aus, dass Wissen sich ausschließlich über Sprache kommuniziert und die erste Voraussetzung von Wissenschaft somit die Ausdrucksfähigkeit ist. Insofern sind auch seine medizinischen Studien zunächst einmal philologische Studien. Es ging ihm darum, Latein als Wissenschaftssprache zu erhalten oder, wo nötig, wiederzubeleben.

      Offenbar war man in Humanistenkreisen der Meinung, dass es um die Pflege der alten Sprachen an den Hochschulen nicht besonders gut bestellt sei. 1538 beklagt Simon GrynaeusGrynaeus, Simon (1493–1541) in einem Brief an Camerarius die desertio optimarum artium et studiorum humanitatis.9 Eben jener GrynaeusGrynaeus, Simon, selbst Gräzist und Theologe, außerdem Professor zunächst in Heidelberg, später in Basel, scheint Camerarius auch zur Abfassung des Glossars gedrängt zu haben. In der Widmungsepistel hebt Camerarius nämlich hervor, dass er schon lange an einer Sammlung medizinischer Begriffe arbeite und von Freunden zu deren Veröffentlichung ermuntert worden sei. Inter hos instare mihi adsiduo, et urgere me vehementer, sapientia et doctrina excellens vir, Simo GrynaeusGrynaeus, Simon. Der Duktus des Widmungsschreibens erweckt den Eindruck, als sei hier ein lange gehegtes Vorhaben endlich umgesetzt worden, und die warmherzige Erwähnung des zum Veröffentlichungszeitpunkt bereits zehn Jahre verstorbenen GrynaeusGrynaeus, Simon ist weit mehr als bloß ein höfliches Gedenken. Kößling verweist auf Camerarius’ hochschulpolitisches Wirken in Leipzig und sein Rektorat in den Sommersemestern 1544 und 1546, welches der zügigeren Fertigstellung der Schrift im Wege gestanden haben mag.10 Im Jahr 1551 erschien die Schrift schließlich bei Johann Herwagen d.Ä.Herwagen d.Ä., Johann in Basel.

      Dem eigentlichen Glossar geht eine ausführliche Widmungsrede voraus, in der die Bedeutung der Wissenschaftssprachen Griechisch und Latein herausgestellt wird. Sie ist adressiert ad Nobilem Ordinis equestris in Misnia adolescentem Bolgangum Theoderici F. Vuerterensem, den Diplomaten und Juristen Wolfgang von Werthern (1519–1583).11 Dieser war wie Camerarius selbst ein Schüler von Georg FabriciusFabricius, Georg und offenbar ein gelehrter, bildungsbeflissener Mann. Das ausführliche Widmungsschreiben umfasst die Seiten a2r bis b3v. Ihm folgt der Abdruck eines kurzen Briefes des Simon GrynaeusGrynaeus, Simon (b4r).

      Das Glossar selbst erstreckt sich über die Seiten a1r bis h2v. Die Seiten sind in zwei Kolumnen à 53 Zeilen angeordnet. Die Spalten sind von 1 bis 498 durchnummeriert.12

      Simon GrynaeusGrynaeus, Simon

      Der Widmungsbrief fällt in seiner Ausführlichkeit und vor allem, was seinen grundsätzlichen Zugriff auf Bildungsfragen angeht, aus dem Schema des Üblichen heraus. Das Verfassen von Vorworten erfolgte – damals vermutlich nicht anders als heute – in letzter Sekunde und meist wohl recht rasch und mit leichter Hand. Der erwähnte Simon GrynaeusGrynaeus, Simon, der postum als Spiritus Rector dieser Schrift genannt wird, bezeichnete sich einmal selbst in einem Brief an Camerarius als berüchtigten Vorwortschreiber. In dem nämlichen Brief, datiert auf einen 1. August, abgefasst in Basel und an den seinerzeit in Tübingen lehrenden Camerarius gerichtet, kündigt GrynaeusGrynaeus, Simon das baldige Erscheinen der Übersetzungen von PtolemaeusPtolemaeus, Claudius und TheonTheon von Alexandria an, und zwar his nundinis, auf der bevorstehenden Messe. Damit ist, wie Heinz Scheible gezeigt hat1 und wie sich aus dem Erscheinungsdatum der Ptolemaeus-Übersetzung ergibt, die Frankfurter Herbstmesse des Jahres 1538 gemeint. Während Camerarius sein Vorwort schon geliefert hatte, stand dasjenige des GrynaeusGrynaeus, Simon noch aus:

      Tua praefatio sic ut voluisti legetur. De mea etiam delibero, et quid et cui. Infamis praefando sum, adeo me typographi ad quidvis, id est ad hos usus natum scriptorem utuntur.2

      Dein Vorwort wird so zu lesen sein, wie du es wolltest. Über meines denke ich noch nach, sowohl über den Inhalt als auch über den Adressaten. Ich bin berühmt-berüchtigt im Vorwortschreiben, sosehr missbrauchen mich die Drucker als einen Schreiber, der für alles Mögliche, besonders für solche Zwecke geboren ist.

      Das nur wenige Zeilen umfassende Schreiben ist erstens ein eindrucksvoller Beleg für GrynaeusGrynaeus, Simon’ nahezu unleserliche Schrift, über deren Zumutungen auch zeitgenössische Drucker regelmäßig Klage führten und die sogar ErasmusErasmus von Rotterdam, Desiderius von Rotterdam zu mildem Spott veranlasste.3 Zweitens dokumentiert es seinen kolloquialen Umgangston in Privatbriefen, der selbst vor falschem Latein nicht gefeit war – etwa wenn uti einen Akkusativ regiert. Drittens wird hier die Praxis offenkundig, Vorworte sozusagen „auf den letzten Drücker“ und ohne besonderen Anspruch niederzuschreiben. Umso auffälliger ist die lange Abhandlung, die dem Medizin-Glossar voransteht. In welchem Zusammenhang steht sie also, wie ist sie zu bewerten?

      Ein erster Schlüssel könnte ein undatierter Brief des erwähnten GrynaeusGrynaeus, Simon sein, den Camerarius an sein Vorwort anhängt (ohne Paginierung). Er lautet in auszugsweiser Übersetzung folgendermaßen:

      Simon GrynaeusGrynaeus, Simon grüßt Joachim Camerarius

      […] Was das Lexikon angeht, so erfolgte es auf meinen Rat hin; hatte ich doch gehört, dass du einige Notizen gesammelt hattest. Sorge dafür, dass du mehr als genug Kraft und Muße hast, damit du uns immer wieder eine Frucht deiner einzigartigen Begabung und Sorgfalt zuteilwerden lässt. Leb wohl und sei mir gewogen. Eine Krankheit hielt uns zum Herbstanfang leicht im Griff, jetzt hat sie geradewegs eine Pause eingelegt. Der Herr möge uns vor der Krankheit der Hoffart (impietas) schützen. Sei nochmals gegrüßt, mit deiner Familie.

      Dieser Brief ist in zwar kolloquialem, aber tadellosem Latein abgefasst, was jedoch nichts besagt. Scheible konnte aus dem Vergleich von handschriftlich erhaltenen Briefen des GrynaeusGrynaeus, Simon an Camerarius mit solchen, die der Adressat nachträglich in seine gedruckten Briefsammlungen aufnahm, zeigen, dass der Bamberger Schulmeister mitunter seiner Profession erlag und korrigierend oder wenigstens glättend eingriff.4 Wir müssen bei gedruckt vorliegenden Briefen in Camerarius’ Briefsammlungen davon ausgehen, dass sie uns in überarbeiteter Form vorliegen. Die Erschließung der gedruckten Camerarius-Briefe wird darüber näheren Aufschluss geben. Es zählte für Camerarius offenbar der dokumentarische Wert, wie er ihn verstand, nicht aber das Monument.

      Weshalb ist Simon GrynaeusGrynaeus, Simon in diesem Zusammenhang so interessant? GrynaeusGrynaeus, Simon starb 1541, im Jahr von Camerarius’ Berufung nach Leipzig, an einer Epidemie, hat also die Publikation des Glossars nicht mehr miterlebt. Mit Camerarius hatte ihn jedoch eine in das Jahr 1524 zurückgehende Freundschaft verbunden. In diesem Jahr war GrynaeusGrynaeus, Simon seinem einstigen Schulkameraden MelanchthonMelanchthon, Philipp nach Wittenberg gefolgt, wo letzterer eine Griechischprofessur bekleidete. MelanchthonMelanchthon, Philipp widmete ihm eine programmatische Schrift über humanistische Bildung, das Encomium eloquentiae.5 In Wittenberg lehrte zu derselben Zeit aber auch Camerarius. Zwischen ihm und GrynaeusGrynaeus, Simon entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Beide pflegten schließlich enge Kontakte zu ErasmusErasmus von Rotterdam, Desiderius in Basel, die ihrerseits in die Edition und Übersetzung antiker Autoren mündeten, so etwa die Erstausgabe der Bücher 41–45 des T. LiviusLivius.6 Die Jahre zwischen 1524 und Erasmus’ Tod im Jahr 1536 dürften also der Auslöser für das humanistische Programm des Camerarius gewesen sein. Er war Teil dessen, was man heute als ein wissenschaftliches Netzwerk bezeichnen würde.

      Camerarius’ humanistisches Programm

      Als humanistischen Entwurf im Sinne von GrynaeusGrynaeus, Simon und ErasmusErasmus von Rotterdam, Desiderius wird man wohl auch den Einleitungsbrief des Camerarius zu lesen haben. GrynaeusGrynaeus, Simon ist, wie gesagt, als Anreger des Werks erwähnt. Doch auch auf ErasmusErasmus von Rotterdam, Desiderius beruft sich Camerarius ausdrücklich, und zwar auf dessen Antibarbariinter quos et ErasmusErasmus von Rotterdam, Desiderius Roterdamus contra barbaros quaedam conscripsit – gemeint sind die Adagia, die sich einerseits als Sprichwortsammlung verstehen, andererseits aber auch gegen Sprachbarbarei gerichtet sind, also den „bon usage“ verfechten. Camerarius geht sogar so weit und inszeniert sich als alter ErasmusErasmus von Rotterdam, Desiderius, indem er selbst eine Art Adagium zur Bekräftigung