Manfred Stede

Korpusgestützte Textanalyse


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als wichtiger Unterschied zwischen beiden, dass die Wahrnehmung der Kohärenz das (zwangsläufig subjektive) Interpretieren des Textes voraussetzt, während die Kohäsion als Eigenschaft des Textes von allen Sprachbenutzern gleichermaßen beobachtet werden kann, auch wenn sie sich nicht wirklich mit dem Textinhalt auseinandersetzen.

      Die Verbindung zwischen Kohäsion und Kohärenz ist eng, aber nicht zwingend, denn Texte können durchaus auch kohärent sein, ohne dabei auf kohäsive Mittel zurückzugreifen. Dafür nennt Redeker (1990) diese zwei kurzen Beispiele:

       (2.15) Sally is crying. Nanny has thrown out the time-worn teddy bear. The holes were getting too large to fix.

       (2.16) Take those dirty shoes off. There‘s a brand-new carpet in the hallway. Mom‘s ALREADY mad at me.

      Zu 2.15 ist anzumerken, dass die definiten NPs the teddy bear und insbesondere the holes durchaus als kohäsionsstiftend betrachtet werden können (bei the holes handelt es sich um einen ‚indirekten Verweis‘1 auf teddy bear); dennoch ist nicht zu leugnen, dass beide Texte sicherlich nur minimal kohäsiv, dabei aber durchaus kohärent sind – wir haben bei der Lektüre keine Schwierigkeiten, naheliegende inhaltliche Verknüpfungen zwischen den Sätzen zu konstruieren. Die Leichtigkeit dieser Aufgabe hängt dabei durchaus von der jeweiligen Kohärenzrelation ab. Eine Kausalrelation kann, wie gesehen, per Weltwissen oft problemlos inferiert, also erschlossen, werden. Für die Relation Concession hingegen scheint die explizite Signalisierung durch einen KonnektorKonnektor (also durch ein kohäsionsstiftendes Mittel) schlicht unumgänglich:2

       (2.17) Die Sonne schien uns schon seit Stunden bei der Arbeit auf den Kopf. Dennoch verging uns die gute Laune nicht.

       (2.18) Die Sonne schien uns schon seit Stunden bei der Arbeit auf den Kopf. Die gute Laune verging uns nicht.

      Kohäsion und Kohärenz stellen die wichtigsten Charakteristika von Texten dar, doch sie sind nicht die einzigen.

      2.4.2 Merkmale der Textualität

      Vielfach wird bei der Charakterisierung der Merkmale von Texten auf die Liste von de Beaugrande u. Dressler (1981) zurückgegriffen. Zu den oben besprochenen textinternen Merkmalen Kohäsion und Kohärenz treten bei diesen Autoren noch fünf textexterne Merkmale hinzu, die auf die Kommunikationssituation bezogen sind.

       Textexterne Textualitätsmerkmale nach de Beaugrande/Dressler

       IntentionalitätIntentionalität: Der Textproduzent hat den Text nicht zufällig, sondern mit einer Absicht verfasst, er möchte eine bestimmte Wirkung erzielen.

       AkzeptabilitätAkzeptabilität: Der Text ist so beschaffen, dass die Rezipienten ihn auch als solchen einstufen und verstehen können. Mit anderen Worten, der Produzent hat seine Intention in einer Weise umgesetzt, die auf die Rezipienten und ihre Gewohnheiten zugeschnitten ist – die Intention ist ohne große Mühe rekonstruierbar.

       InformativitätInformativität: Der Text ist für den Rezipienten nicht nur formal akzeptabel, sondern auch inhaltlich nicht „leer“; er teilt etwas mit. Dies bedeutet einerseits, dass der Rezipient neue Information vorfindet (die aber in „alte“ Information eingebettet ist, um Anknüpfungspunkte zu schaffen), und andererseits eine angemessene Mischung aus „erwarteter“ und „unerwarteter“ Information. Wir können Informativität in einen Gegensatz zum Kohäsionsmittel ‚RekurrenzRekurrenz‘ stellen: Ein Text kann sehr kohäsiv sein, indem er unablässig dasselbe wiederholt, dabei vielleicht immer etwas reformuliert – dann mangelt es jedoch an Informativität.

       SituationalitätSituationalität: Der Text ist für die jeweils vorliegende Kommunikationssituation angemessen. Er trifft die konventionell übliche Stilebene (u.a. den Grad der Höflichkeit) und deckt den in der Situation bestehenden Informationsbedarf.

       IntertextualitätIntertextualität: Der Text steht im Zusammenhang mit anderen Texten, etwa mit Texten der gleichen Sorte (siehe Kap. 3) oder mit Texten, aus denen er wörtlich oder sinngemäß zitiert. Für das Verständnis des Textes ist der Bezug zu anderen, bereits bekannten, Texten von Bedeutung.a

      Wir sollten nicht in die Versuchung geraten, eine solche Liste wiederum als ‚Definition‘ zu betrachten. Die Merkmale sind nicht alle gleichermaßen notwendig, damit ein komplexes sprachliches Zeichen als ‚Text‘ aufzufassen ist (allerdings lässt sich wohl sagen, dass sie in der Summe durchaus als hinreichend gelten dürften). Stattdessen können wir sie als Merkmale ansehen, nach denen ein Text mehr oder weniger prototypischPrototypikalität eines Textes ist: Je mehr Abweichungen, desto „ungewöhnlicher“ ist ein vorliegendes Text-Exemplar.

      Auf der anderen Seite muss sich eine solche Merkmal-Liste der Prüfung aussetzen lassen, ob die einzelnen Merkmale hinlänglich unabhängig voneinander sind. Für Kohäsion und Kohärenz hatten wir dies bereits anhand von Beispielen gezeigt. Auch für die anderen sollte idealerweise gelten, dass jeweils ein Merkmal von einem Text verletzt werden kann, ohne dass andere Merkmale dabei zwangsläufig ebenfalls Schaden nehmen. Für die oben aufgeführten Merkmale gelingt dies allerdings nur bedingt; eine Wechselwirkung ist beispielsweise zwischen den Kriterien ‚Akzeptabilität‘ und ‚Situationalität‘ zu vermuten: Ein Text, der für die Äußerungssituation unangemessen ist, wird sicherlich auch als nicht-akzeptabel einzuordnen sein. Umgekehrt allerdings kann Nicht-Akzeptabilität auch auf die Verletzung eines anderen Kriteriums zurückzuführen sein als dem der SituationalitätSituationalität, so dass die beiden Kriterien sicherlich nicht einander äquivalent sind. Das Merkmal ‚IntentionalitätIntentionalität‘ ist in der Praxis ausgesprochen schwierig zu untersuchen: Woher nehmen wir die Gewissheit, dass der Autor nicht eher wahl- und ziellos seine, immerhin vielleicht kohärent wirkenden, Sätze aneinandergereiht hat? Wir haben diese Gewissheit nicht, entscheidend ist aber, dass wir als Leser diese Intentionalität dem Autor nahezu automatisch unterstellen: Sobald wir uns mit der Lektüre eines Textes beschäftigen, nehmen wir an, dass er mit einer bestimmten Absicht erstellt wurde, und ein zentraler Aspekt des Verstehens ist genau die Rekonstruktion dieser Absicht. (Dieser Punkt wird uns im nächsten Kapitel und später in den Kapiteln 7 und 10 noch genauer beschäftigen.)

      Zusammenfassend stellen wir fest, dass TextualitätTextualität ein graduelles Maß ist, dem Texte mehr oder weniger Genüge tun; sie lässt sich durch eine Reihe von Merkmalen charakterisieren – und sie entbindet uns von der müßigen Aufgabe, nach einer vorgeblich klaren, „binären“ Unterscheidung zwischen Texten und Nicht-Texten zu suchen. Die Merkmale sind dabei nicht gleichrangig; darauf weist auch Sandig (2000) in ihrer Untersuchung der PrototypikalitätPrototypikalität eines Textes von Texten hin. Sie rückt die Textfunktion in den Mittelpunkt und nennt dann Kohäsion, Kohärenz, Situationalität und Thematizität als nachgeordnete Merkmale, anschließend eine ganze Reihe weiterer Aspekte, die dann allerdings als peripher gelten, so zum Beispiel die Zweidimensionalität des Textes, seine Gliederung etc.

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