Gabriele Bergfelder-Boos

Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht


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interaktiven Funktionen von den Erzählenden und von den Zuhörerenden als kommunikative und als interaktive Aufgabe bzw. Leistung wahrgenommen werden. Die erste Funktion bzw. Aufgabe wird über die (Re-)Konstruktion narrativer Inhalte, die zweite über die gemeinsame narrative Tätigkeit realisiert. Zu den wesentlichen narrativen Inhalten rechnen Quasthoff und Gühlich übereinstimmend die – vom Zeitpunkt des Erzählens aus gesehen – zurückliegenden bzw. als zurückliegend imaginierten Handlungen bzw. Ereignisse und Vorkommnisse1. In der „situativ angemessenen, adressatenbezogenen Rekonstruktion der Ereignisse“ (Quasthoff 2001: 1303) besteht die kommunikative Hauptaufgabe des Erzählens. Auf Seiten der Erzählenden erfordert diese Aufgabe eine produktive, auf Seiten der Zuhörenden eine rezeptive Narrativierungsleistung. Auf der Ebene der Interaktion besteht diese Aufgabe im Elaborieren bzw. Dramatisieren der Handlung. Diese und weitere interaktive Aufgaben werden in der Gesprächslinguistik als „gesprächsorganisatorische Jobs“ (a.a.O.: 1302f.) der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des narrativen Diskurses aufgefasst.

      In dem von Quasthoff entwickelten Modell der narrativen Gesprächsorganisation fungieren die o. g. gesprächsorganisatorischen Jobs als Kriterien der Sequenzierung der narrativen Diskurseinheit, indem sie entweder eine Sequenz einleiten, abschließen oder steuern. Mit der Anwendung des Modells auf den Klassenzimmerkontext wird zum einen das Instrument der Globalsequenzierung2 der mündlichen narrativen Interaktion, zum anderen – im Abgleich mit der Gesprächssituation des Alltags – ein Instrument zur Bestimmung der Spezifika der narrativen Jobs im fremdsprachlichen Kontext gewonnen. Sequenzierung und Jobs der Diskurseinheit sollen deshalb im Folgenden kurz vorgestellt und anhand einer auf Quasthoff rekurrierenden Visualisierung veranschaulicht werden. Ersetzt man den gesprächsanalytischen Begriff turn-by-turn-talk durch ‚Klassenzimmerdiskurs‘ und ergänzt den Job des Elaborierens / Dramatisierens durch die in der Studie relevante Aufgabe der performativen Gestaltung, so ergibt sich folgender Ablauf mit folgenden narrativen Aufgaben: Verlassen der Unterrichtsdiskursebene durch Darstellen der Erzählrelevanz, Thematisieren, Elaborieren / performatives Gestalten, Abschließen der Erzählung, Überleiten in den auf die Erzählung folgenden Unterrichtsdiskurs.

      Zur Visualisierung des Erzählprozesses und der Sequenzierung wählt Quast­hoff die Form einer Schüssel (Quasthoff 2001: 1302), die in der folgenden Abbildung (Abb.2) beibehalten wurde. Damit sollen die Übergänge von der Diskurswelt des turn-by-turn-talk bzw. des Klassenzimmerdiskurses in die Diskurswelt des Narrativen verdeutlicht werden. Die Höhe bzw. Breite der Schüssel kann bei Darstellung von Einzelfällen den jeweiligen Beispielen angepasst werden. Wird der Übergang von der einen in die andere Welt kurz gehalten, kommt eine flache Schüssel zustande, dauert sie länger, ist die Schüssel tief usw.

      

Abb. 2:

      Narrative Jobs in einer narrativen Diskurseinheit im Fremdsprachenunterricht. Nach: „Gesprächsorganisatorische Jobs einer narrativen Diskurseinheit“ (Quasthoff 2001: 1302)

      Mit der Übernahme der narrationsspezifischen Jobs werden folgende Tätigkeiten ausgeführt

       Mit dem Darstellen von Inhalts- / Form- / Unterrichtsrelevanz „wird in der Regel ein Hintergrund etabliert, auf dem sich die Erzählung entwickeln kann“ (Gülich / Hausendorf 2000: 376). In der Unterrichtssituation wird es voraussichtlich darum gehen, den Grund, die Bedeutung, das Procedere der Performance zu erläutern bzw. diese anzukündigen. Inhaltsbezogen ist diese Ankündigung dann, wenn sie bereits Hintergrund­informationen zur Geschichte liefert, formbezogen, wenn sie sich auf die Form der Präsentation, unterrichtsrelevant, wenn sie sich auf fremdsprachliche Zielsetzungen bezieht.

       Das Thematisieren macht die nun folgende Geschichte für den Zuhörer erwartbar. Die Erzählenden erwerben sich mit der Ankündigung eines besonders erzählwürdigen Inhalts der Geschichte die „Eintrittskarte“ (Quasthoff 2001: 1297) zum Erzählen – das Recht auf die Rolle des „primären Sprechers“3.

       Mit dem Elaborieren und Dramatisieren wird die narrative Hauptaufgabe, d.h. die der Darstellung bzw. (Re-)Konstruktion der Ereignisse, übernommen. In der Gesprächslinguistik wird zwischen zwei Formen der Darstellung unterschieden: dem Elaborieren, bei dem das Geschehen eher als Bericht präsentiert wird, und dem Dramatisieren, das Elemente der szenischen Gestaltung einbezieht.

       Das Abschließen stellt „das Pendant zum Thematisieren“ (Gülich / Hausendorf 2000: 380) dar. Die im Laufe der Handlung aufgetretene Komplikation wird aufgelöst, das Ende der Geschichte markiert.

       Das „Überleiten [leistet] die Einbettung der narrativen Einheit in die anschließende Kommunikation“ (Gülich / Hausendorf 2000: 381) ‒ im Falle der Erzählstunden in den folgenden Unterrichtsdiskurs.

      Zentral für die Anwendung des gesprächslinguistischen Modells und seiner Elemente auf den Fremdsprachenunterricht sind die theoretischen Vorannahmen, dass „jede Art direkter Kommunikation in ihrer Struktur eine gemeinsame Leistung der beteiligten Partner darstellt“ (Quasthoff 2001: 1301), dass die interaktiven Strukturen auf der „manifesten Oberfläche des verbalen und sonstigen Interaktionsgeschehens“ (a.a.O.) beobachtbar sind und stets „adressatenbezogen kontextualisiert“ (a.a.O.) auftreten.

      Die unterschiedlichen Formen und möglicherweise auch der unterschiedliche Grad an Gemeinsamkeit der interaktiven Leistungen bilden einen der Schwerpunkte meiner empirischen Untersuchung, bei der ich als Beobachtungs- und Analyseinstrumente folgende Elemente des gesprächslinguistischen Modells anwenden werde: die narrationsspezifischen Jobs, die pragmatischen und die ästhetisch-verbalen sowie die performativen Mittel, mit denen sie realisiert werden.

      Was die Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung der narrationsspezifischen Jobs der Interakteure betrifft, so gehe ich – Quasthoff folgend – davon aus, dass sie in der Übernahme ihrer Rollen als Erzählende (Produktion) und Zuhörende (Rezeption) besteht. Beobachtbar ist die Wahrnehmung der Jobs anhand der zum Einsatz kommenden pragmatischen Mittel. Zu diesen zähle ich die Handlungszüge der Akteure, die entweder die Globalsemantik der Erzählung (wie z.B. das Beachten der Chronologie der Ereignisse auf Seiten der Erzählenden und den Versuch des Identifizierens wichtiger Erzählbausteine auf Seiten der Zuhörenden) oder die Interaktionsebene (wie z.B. den Einsatz von Frage-Antwort-Sequenzen) betreffen.

      Was die verbalen Mittel zur Realisierung der Jobs betrifft, so interessieren in meinem Forschungskontext vor allem die Mittel zur Gliederung der Textoberfläche, die sog. Diskursmarker. Die Diskursmarker stellen für die Erzählenden ein wichtiges Instrumentarium zur Gestaltung ihrer Aufgabe des Elaborierens dar. Für die Rezipierenden in der mündlich-fremdsprachlichen Kommunikation können sie als Verstehenshilfe genutzt werden, um die Textbausteine und den Erzählplan (s. dazu Ehlers 1998: 200) zu identifizieren und zu verfolgen, d.h. um die im Unterricht geforderte Narrativierungsleistung zu erbringen.

      Von besonderem Interesse für meine Untersuchung ist auch die Annahme einer adressatenbezogenen Kontextualisierung der narrativen Jobs und der Gestaltungsmittel. Der Adressatenbezug betrifft u.a. die Textauswahl und -bearbeitung durch die Lehrkräfte und das Prinzip der Erzählwürdigkeit, das im Folgenden thematisiert wird.

      3.2.3 Das Prinzip der Erzählwürdigkeit

      Die Frage nach der Erzählwürdigkeit ist die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Erzählungen und der Sinnstiftung durch das Erzählen – die Frage nach dem, was eine Erzählung aus welchen Gründen erzählenswert macht. Konsens besteht in der Forschung darüber, dass die Erzählwürdigkeit (auch Tellability) ein wichtiges Gütekriterium narrativer Werke und ein Interaktionskriterium zwischen Erzählung und Rezipierenden (Ehlers 1998, Wolf 2002a, Fludernik 2010) darstellt. Je nach Forschungsansatz ist die Zuordnung der Erzählwürdigkeit zu den Konstituenten des Erzählens unterschiedlich.

      Aus werkinterner Perspektive kann die Erzählwürdigkeit einer Geschichte als Realisierung qualitativer Narreme (Kap. 3.1.1) angesehen werden. Diesen Weg geht Fluderniks ‚Natural‘ Narratology (Fludernik 2010: 122). Für Fludernik, die das Wesentliche des Narrativen nicht nur in der Darstellung von Handlungen und Ereignissen, sondern vor allem in der „Vermittlung