Gabriele Bergfelder-Boos

Mündliches Erzählen als Performance: die Entwicklung narrativer Diskurse im Fremdsprachenunterricht


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      Aus den genannten Gründen ist davon auszugehen, dass die Lehrkräfte bei der Auswahl der Erzählung bereits ihre künftige Rolle als reale Erzählerinnen und Erzähler bedenken und demzufolge die mediale Mündlichkeit der Erzählsituation und die performative Gestaltung ihres Erzählens im Blick haben – oder sich von der Erzählung für eine bestimmte Performance inspirieren lassen. Die Möglichkeiten der Modellierung der konzeptionellen Mündlichkeit werden deshalb im folgenden Kapitel dargestellt.

      3.5.3 Modellierungsmöglichkeiten konzeptioneller Mündlichkeit

      Die konzeptionelle Mündlichkeit eines Textes bzw. Diskurses übernimmt in der werkinternen Kommunikation die Rolle eines Gegenpols zur konzeptionellen Schriftlichkeit. Beide Prinzipien bilden ein Spannungsfeld, zwischen dem sich der Text bzw. Diskurs bewegt, wobei die konzeptionelle Schriftlichkeit1 das Prinzip kommunikativer Distanz, die konzeptionelle Mündlichkeit das Prinzip kommunikativer Nähe darstellt. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen konzeptioneller Schriftlichkeit und konzeptioneller Mündlichkeit als Gegensatzpaar zur medialen Schriftlichkeit / Mündlichkeit stütze ich mich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Oralitätsforschung von Koch / Oesterreicher (1985) und des Freiburger Sonderforschungsbereichs „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (Raible 1988b, 1991b, 1991c). Zur präzisen Erarbeitung der Kategorien für die funktionale Analyse des mündlich-fiktionalen Erzähldiskurses (Kap. 3.6) verbinde ich die in der Oralitätsforschung gewonnenen Gestaltungsprinzipien von Texten bzw. Diskursen mit denen der intermedialen Narrativik.

      Für eine Übertragung der Prinzipien konzeptioneller Schriftlichkeit und Mündlichkeit auf text- bzw. diskursgenerierenden Prinzipien narrativer Werke bieten sich Erzählmodus und Erzählhaltung an – darin insbesondere die Merkmale telling vs. showing (Antor 2004: 115), Situationsentbundenheit vs. Situationsverschränkung, Strukturiertheit vs. Vorläufigkeit, (Koch / Oesterreicher 1985: 23), Entspanntheit vs. Gespanntheit der Sprecherhaltung (Weinrich 2001: 47-53) – ferner Strukturprinzipien wie z.B. die syntaktischen Narreme sowie besondere Versprachlichungsstrategien der Textoberfläche. Da im Zusammenhang der Studie überwiegend von einem mündlichen narrativen Werk ausgegangen wird, werde ich zur Bezeichnung der Gegenpole statt ‚konzeptioneller Schriftlichkeit vs. konzeptioneller Mündlichkeit‘ die Begriffe konzeptionelle Distanz vs. konzeptionelle Nähe (Koch / Oesterreicher 1985: 21) verwenden.

      Während bei der Medialität der Mündlichkeit ein Entweder – Oder (Raible 1991b: 7) vorliegt, d.h. die narrative Präsentationsform entweder mündlich oder schriftlich erfolgt, ist die konzeptionelle Mündlichkeit graduierbar. Die Bezugnahme eines Textes bzw. Diskurses auf die mediale Mündlichkeit lässt sich demzufolge auf einem Skalar zwischen den Polen konzeptioneller Distanz und konzeptioneller Nähe positionieren. Die Regulierung des Verhältnisses zwischen konzeptioneller Nähe und konzeptioneller Distanz fasse ich als Modellierung der diskursinternen, konstruierten, konzeptionellen Mündlichkeit. Die Modellierung erfolgt mithilfe narrativer Verfahren, die sich den Merkmalen narrativer Texte bzw. Diskurse zuordnen lassen. Sie stehen dem schriftlichen Text wie auch dem mündlichen Diskurs zur Verfügung, werden jedoch unterschiedlich, im Hinblick auf das ‚Bedienen‘ des jeweils intendierten Rezeptionsmodus genutzt.

      Die Bezugnahme narrativer Werke auf die Mündlichkeit kann in zwei „Großformen“ (Bergfelder-Boos /Bergfelder 2015: 11-13) realisiert werden2. Die erste Großform (A) setzt vor allem auf den „Schein mündlichen Kommunizierens“ (Ewers 1991b: 106) durch Illusionsbildung. Dafür stehen narrative Verfahren zur Verfügung, die an charakteristische Merkmale alltäglicher mündlicher Kommunikation anknüpfen bzw. sie fingieren, weshalb diese Verfahren auch als ‚fingierte Mündlichkeit‘ (Koch / Oesterreicher 1985: 24, Anm. 23, Müller-Oberhäuser 2004a: 475) bezeichnet werden. Als zweite Großform (B) stehen gattungstypologische Verfahren diverser Textgenres (wie z.B. die des Märchens, der Legende, aber auch der Novelle und des Romans) und der Rekurs auf poetische Verfahren vergangener oder aktueller poésie orale zur Verfügung (Zumthor 1983: 47, 62).

      Die folgende Übersicht (Abb. 3) listet, aufgeteilt in die Großformen A und B, Ansatzpunkte zur Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit auf:

      

Abb. 3:

      Ansatzpunkte zur Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit

      Für die Großform A sind fünf Merkmale der Tiefen- und Oberflächenstruktur des narrativen Diskurses aufgeführt. Den Merkmalen werden unter der Rubrik Distanz-Prinzip und Nähe-Prinzip die Gestaltungsprinzipien der Merkmale zugeordnet3. Die mittlere Position (ausgeglichen) wird angezeigt, aber nicht begrifflich ausdifferenziert. Die Möglichkeiten der Modellierung konzeptioneller Mündlichkeit werden im Folgenden anhand der in der Übersicht aufgelisteten Gestaltungsprinzipien vorgestellt.

      Großform A: fingierte Mündlichkeit:

      ① Erzählmodus: telling vs. showing:

      Diese beiden Prinzipien des Erzählmodus (Antor 2004: 115) stehen in der Narrativik für die Prinzipien Diegese vs. Mimesis und bezeichnen ein dominant szenisches Erzählen (Wolf 2004: 157). Zwei Möglichkeiten der Modellierung sind für den Mündlichkeitsbezug wichtig.

      1 Die eine besteht in der Regulierung der temporalen Beziehungen zwischen Geschichte und Erzählen (Fludernik 2010: 44-47, 103f., 113-115, Genette 1972: 77). Wichtigster Faktor ist hier das Erzähltempo, die durée (Genette 1972: 122-144, Reuter 1991: 76-83). Dieser Faktor hält auf der Distanz-Seite das Prinzip der Raffung (sommaire bei Genette 1972: 129, 130-133) bereit, bei dem Ereignisse größerer Zeiträume der erzählten Zeit zusammengefasst werden, auf der anderen Seite das Prinzip der Zeitgleichheit (scène bei Genette 1972: 141-144 ), das auf dem Prinzip der Dehnung beruht und zur Ausgestaltung von Szenen führt. Mithilfe der Szene-Technik kann der Eindruck vermittelt werden, die erzählte Handlung finde gerade zum Zeitpunkt des Erzählens statt. Szenische Gestaltung bedient das Prinzip der Gegenwärtigkeit und verleiht der Erzählung Anschaulichkeit und Dramatik.

      2 Die zweite Möglichkeit besteht in der Regulierung des Verhältnisses von Erzähler- und Figurenrede. Ein Text mit ausschließlicher Figurenrede spielt ebenfalls mit der Vergegenwärtigung der Erzählung. Die Figurenrede suggeriert die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption. Im Extrem kann diese Gestaltung den Eindruck erzeugen, die Erzählung er­zähle sich von alleine, ohne vermittelnde Erzählinstanz. Die Figuren scheinen direkt zum Adressaten zu sprechen (s. auch das monologische Sprechen in Rajewsky 2002: 125). Die dramatische Variante dieser Regulierung besteht in der direkten Rede, denn sie suggeriert die mediale Mündlichkeit der Origo-Situation.

      ② Erzählhaltung / Sprechhaltung

      Was die Haltung des Erzählers gegenüber seinem Gegenstand und die Haltung und Gemütsverfassung der Figuren betrifft, so können sie oszillieren u.a. zwischen Situationsentbundenheit und Situationsverschränkung, zwischen Reflektiertheit und Involviertheit (Koch / Oesterreicher 1985: 23), Expressivität und Affektivität (a.a.O.).

      Die beiden Pole „entspanntes vs. gespanntes Erzählen“ (Weinrich 2001: 47-53) sind sowohl dem Erzählmodus als auch der Erzählhaltung zuzuordnen. Entspanntes Erzählen führt den Adressaten der Erzählung weit in die Vergangenheit zurück. Dem gegenüber zoomt das gespannte Erzählen die Ereignisse nahe an die Gegenwart heran. Der Wechsel von entspanntem in gespanntes Erzählen kündigt die Höhepunkte der Erzählung an. Entspanntes Erzählen findet im Tempus der Vergangenheit (Tempusgruppe I, z.B. im imparfait und passé simple) statt, gespanntes im Tempus der Gegenwart (Tempusgruppe II: z.B. présent, passé composé). Der Gebrauch des Präsens in der gespannten Sprechhaltung (Weinrich 2001: 52f.) ist besonders für den Fremdsprachenunterricht wegen des Schwierigkeitsgrads der Vergangenheitstempora interessant und stellt ein Mittel performativer Gestaltung dar. Die erzählenden Lehrkräfte gestalten – ebenso wie die Erzählerin Marie-Célie Agnant (2006b) – die Phasen des Dramatisierens im Präsens, denn ihr performatives Erzählkonzept ist insgesamt auf eine gespannte, die Erzählsituation in die Gegenwart hineinholende Haltung ausgerichtet4.