Johannes Wild / Alfred Wildfeuer
Sprachendidaktik
Eine Ein- und Weiterführung zur Erst- und Zweitsprachdidaktik des Deutschen
Mit Beiträgen von Nicole Eller-Wildfeuer, Sebastian Franz, Christian Gegner, Martina Goldenstein, Christina Knott, Sarah Pieles, Anita Schilcher, Johannes Wild und Alfred Wildfeuer
A. Francke Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0139-4
1 Vorwort
Betrachtet man Studien zum Professionswissen von Lehrkräften (z.B. COACTIV oder FALKO), zeigen sich immer wieder starke Zusammenhänge zwischen Fachwissen und fachdidaktischem Wissen. Während sich die Sprachwissenschaft primär mit der deutschen Sprache als System auseinandersetzt, betrachtet die Sprachdidaktik dieses System unter dem Aspekt der Vermittlung und des Gebrauchs im institutionellen Kontext. Um bei Schülerinnen und Schülern Sprachkompetenz aufzubauen, muss eine Lehrkraft also nicht nur über entsprechendes linguistisches Wissen verfügen, sondern auch Forschungsergebnisse, Theorien und Modelle zum Erwerb des Deutschen kennen und reflektieren können (vgl. Ossner 2008, 14).
Ein bedeutender Teil der Lehrkräfte, insbesondere an Grund- und Mittelschulen, hat allerdings Deutsch nicht oder nicht vertieft studiert und verfügt insofern häufiger über eigentlich nicht ausreichende Kenntnisse in diesem Bereich (vgl. Klieme et al. 2006, 30). Besonders Einsteiger, aber auch fachfremd Unterrichtende, wie es aktuell gerade im Bereich Deutsch als Zweitsprache regelmäßig vorkommt, benötigen aus diesen Gründen eine Darstellung, die den schulischen Unterricht und Schwerpunkte desselben in den Fokus nimmt, gleichzeitig aber leicht zugänglich ist und systematisch linguistische Grundlagen und Vermittlungskompetenzen darlegt und aufbaut. Als roter Faden zieht sich deshalb eine einsteigerfreundliche Gestaltung und Aufbereitung durch das Buch, ohne dabei Inhalte nur in vereinfachter Form darzustellen. Durch die Verbindung mit kognitiv aktivierenden Aufgaben werden die Leser in den einzelnen Kapiteln außerdem angehalten, sich auch mit komplexen fachlichen Inhalten auseinanderzusetzen und selbstreguliert Kompetenzen (Wissen und Können) zu erwerben. Hierzu ist ein Fokus auf konkrete Unterrichtssituationen nötig, den dieses Lehrbuch ebenfalls leistet.
Derzeitige Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur bringen es mit sich, dass Unterricht nicht nur die Lernprozesse der muttersprachlichen Schülerinnen und Schüler berücksichtigen soll, sondern zunehmend auch Besonderheiten beim Erlernen des Deutschen als Zweitsprache (DaZ) und Aspekte der Mehrsprachigkeit beachtet werden müssen: Von den derzeit über elf Millionen Schülerinnen und Schülern (Schuljahr 2016/17) verfügen ca. 30 % über einen Migrationshintergrund (vgl. BiD 2016, 166). Bei ihnen wird besonders häufig Sprachförderbedarf diagnostiziert und ihre Chance auf Bildungserfolg ist nicht zuletzt deshalb geringer (vgl. BiD 2016, 173f).
Das vorliegende Lehrbuch berücksichtigt daher in jedem Kapitel durchgängig auch die Perspektive der DaZ-Lerner und weist explizit auf wichtige Aspekte bei der Steuerung von Lernprozessen sowie auf mögliche Stolpersteine hin. Die jedem Kapitel vorangestellten Lernziele erleichtern es dem Leser dabei einerseits, die Inhalte zu strukturieren, andererseits aber auch, sich vor der Lektüre selbst einzuschätzen bzw. das Lernergebnis zu bewerten. Einsteiger werden während des Lesens durch regelmäßig eingefügte „Infokästen“ entlastet. Sie klären eventuell unbekannte Fachausdrücke oder liefern weiterführende Informationen zu einem Thema. In den Text integrierte Aufgaben dienen der Anwendung und Erarbeitung sowie gleichzeitig der Überprüfung des eigenen Textverständnisses. Die Aufgaben sind so konstruiert, dass sie i.d.R. hohen Praxisbezug aufweisen, damit transferfähiges Wissen aufgebaut werden kann. Sie sollen die Leserinnen und Leser befähigen, Schülerinnen und Schüler nach ihrem jeweiligen Sprachstand effektiv zu fördern. Fehlt entsprechendes Professionswissen auf Seiten einer Lehrkraft, wird das sprachliche Niveau von Schülerinnen und Schülern falsch diagnostiziert und diese werden unzureichend gefördert. Hier möchte der Band ansetzen und dazu beitragen, grundlegende fachliche und didaktische Kompetenzen aufzubauen und weiterzuentwickeln.
2 Sprachkompetenz entwickeln
Alfred Wildfeuer, Johannes Wild
Lernziele
In diesem Kapitel lernen Sie, …
welche Areale unseres Gehirns für Sprache zuständig sind.
welche Vorteile Mehrsprachigkeit hat.
ob es einen Unterschied macht, ob zwei oder mehr Sprachen in früheren Lebensjahren erworben werden.
welche Erwartungen wir an „Sprachkompetenz“ haben.
wie man sich dem Begriff „Sprachkompetenz“ nähern kann und welche Teilaspekte davon die Sprachendidaktik in den Blick nimmt.
wie Ideologien unsere Bewertung von Sprache prägen können.
Sprache ist zentraler Gegenstand und Medium von Bildung (vgl. Feilke 2012, 4): Das sprachliche Universum ist, auch nach dem postulierten Ende des Buchzeitalters (vgl. McLuhan 2011, 362), Gegenstand des Deutschunterrichts. Doch wie funktioniert Sprache eigentlich in unserem Kopf? Was bedeutet es, (k)ein kompetenter Sprecher zu sein? Schon diese beiden Fragen zeigen, dass verschiedene Disziplinen (hier z.B. kognitive Linguistik, Bildungsforschung) unterschiedliche Fragestellungen und Forschungsinteressen verfolgen, wenn sie sich mit Sprachkompetenz auseinandersetzen. Eine einheitliche Definition dieses Begriffs liegt bislang noch nicht vor (vgl. Jude 2008, 10f).
Trotz unterschiedlicher Erkenntnisinteressen und einer heterogenen Datenlage steht (immerhin) fest, dass es sich beim Erwerb von Sprachkompetenz um einen lebenslangen Lernprozess handelt, in dem sich Individuen die Charakteristika von Sprache(n) aneignen (vgl. Jude 2008, 10). Die Redewendung „man lernt nie aus“ trifft also auch auf Sprache zu. Was wir unter Sprachkompetenz verstehen, zeigen für das Deutsche dieses und die folgenden Kapitel.
Erwerb bedeutet (die häufig ungesteuerte) Sprachaneignung durch „modellhafte Sprachverwendung in möglichst authentischen und für die Schüler/innen bedeutsamen Situationen […], in denen sprachliche Strategien und Mittel für die Lösung konkreter Aufgaben eingesetzt werden“ (Vollmer & Thürmann 2013, 51). Lernen dagegen bedeutet das systematische und reflektierte Einüben, die gesteuerte Sprachaneignung. Beides – Erwerb und Lernen – sind zentral für den Aufbau von Sprachkompetenz.
Nähern wir uns dem Ausdruck Sprachkompetenz zunächst aus entwicklungsbiologischer Sicht: Um eine Sprache zu erwerben oder zu lernen – im Folgenden werden wir diesbezüglich nicht unterscheiden –, müssen wir Erfahrungen machen (zum Verlauf des Spracherwerbs vgl. Kapitel 06), auf deren Grundlage wir uns sprachliche Kenntnisse aneignen, wie zum Beispiel, dass Sessel im Deutschen ein spezifisches Möbelstück benennt, im Englischen aber dafür chair steht.
Wie in Saussures bilateralem Zeichenmodell werden Wortform (Signifikant) und Wortbedeutung (Signifikat) im Gedächtnis zwar getrennt gespeichert, sind jedoch vernetzt. Ein gutes Beispiel hierfür ist, wenn uns etwas „auf der Zunge liegt“: Hier haben wir Zugriff auf die Bedeutung (Inhalt), aber uns fehlt die entsprechende Form, um den Inhalt auszudrücken (vgl. Schwarz 2008, 106). Lesenswert zur Beziehung von Bedeutung und Form ist zudem Peter Bichsels Geschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“.