Helena Olfert

Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen


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beispielsweise Arbeiten aus der Fremdsprachenforschung nachweisen, dass die Förderung der Minderheitensprache und ihre Nutzbarmachung im Unterricht nicht nur einen positiven Effekt auf die Deutschkenntnisse ausübt, sondern auch den Erwerb weiterer Sprachen unterstützt (vgl. Göbel et al. 2011; Hesse & Göbel 2009; Hu 2003; Rauch et al. 2010). Ergebnisse der DESI-Studie2 zeigen beispielsweise, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler im Englischunterricht ihren einsprachigen Klassenkameraden um ein halbes Lernjahr voraus sind – trotz eines Leistungsrückstands im Deutschen. Ein Grund hierfür liegt in den sprachanalytischen Fähigkeiten, dem sog. metasprachlichen Wissen, das Mehrsprachige früher ausbildeten als einsprachig Sozialisierte (vgl. u.a. Bialystok 1986; 1991; 2009; Cummins 1978; Oomen-Welke 2006). Durch die bereits frühe Beschäftigung mit unterschiedlichen Sprachsystemen erfahren mehrsprachig aufwachsende Kinder stärker die formale Funktion des sprachlichen Zeichens und lernen, Form und Inhalt abstrakt zu betrachten (vgl. Adesope et al. 2010: 209). Ein weiterer Erklärungsansatz hierfür könnte die im Fremdsprachenunterricht geringere Bedrohung durch Stereotype sein (s.o.). Da das Lernen einer neuen Sprache für alle Kinder gleichermaßen neu ist und nicht so sehr mit Deutschkenntnissen verbunden ist wie andere (Sach-) Fächer, sind Mehrsprachige im Fremdsprachenunterricht keinen negativen Stereotypen ausgesetzt, die Stereotype könnten gar im Sinne der oben angeführten Argumentation positiv besetzt sein.

      Erleichterte Erwerbsbedingungen gelten allerdings nicht pauschal für alle Mehrsprachigen, sondern betreffen nur Sprecher mit einem hohen Kompetenzgrad in beiden Sprachen (vgl. Cenoz 2003; Lauchlan et al. 2013; Rauch et al. 2012). Die Kenntnisse in einer Minderheitensprache können für einen Sprecher also nur dann von Vorteil für den Erwerb anderer Sprachen sein, wenn diese weit ausgebaut und erhalten sind. Weitere Belege für diese Schlussfolgerung liefert die Neurowissenschaft. Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren wiesen nach, dass bei balanciert Mehrsprachigen beide Sprachen im gleichen Hirnareal aktiviert werden, während bei eingeschränkter Kompetenz in einer der beiden Sprachen ein zusätzliches neuronales Netzwerk aufgebaut wird (vgl. Nitsch 2007: 55). Der Mehrsprachige kann also nur bei ausgebauter Sprachkompetenz auf bereits vorhandene neuronale Strukturen zurückgreifen und diese für den Erwerb weiterer Sprachen nutzen.

      Des Weiteren attestiert die Neuropsychologie Mehrsprachigen Vorteile bezüglich exekutiver Funktionen wie Problemlösekompetenz, mentaler Anpassungsfähigkeit, Aufmerksamkeitssteuerung oder kognitiver Flexibilität. Studien von Costa und Kollegen (vgl. Costa et al. 2008; 2009) zeigten beispielsweise, dass mehrsprachige Probanden in ihrem Sample effizienter und schneller Aufgaben mit inkongruentem Stimulus und widersprüchlicher Information lösten als einsprachige Studienteilnehmer. Sie schlussfolgern daraus, dass Mehrsprachigkeit einen besseren Zugang zu Aufmerksamkeitsmechanismen erlaubt, sodass diese Personen selbst unter erschwerten Bedingungen in der Lage sind, inkonsistente Daten zu verarbeiten (vgl. Costa et al. 2008: 77).

      Ähnliche Ergebnisse lieferten mehrsprachige Probanden in den Studien von Bialystok und Kollegen (vgl. Bialystok et al. 2005; Emmorey et al. 2008; Moreno et al. 2010). Bei der Bearbeitung eines Simon Task3 oder bei der Beurteilung von Sätzen, die grammatisch und semantisch inkongruent waren, reagierten Mehrsprachige deutlich schneller und schnitten merklich besser ab als Einsprachige, was auf einen höheren Grad an kognitiver Flexibilität und Kontrolle der erstgenannten Sprechergruppe hindeutet. Diese Vorteile werden auf die Tatsache zurückgeführt, dass der regelmäßige Gebrauch zweier Sprachen ein erhöhtes Ausmaß an Aufmerksamkeit bei der Sprachwahl abverlange (vgl. Adesope et al. 2010: 208). Diese Aufmerksamkeitsleistung können die Probanden ebenfalls auf andere Bereiche übertragen und sie zur Lösung komplexer Probleme nutzen.

      Diese auch medial sehr präsenten Annahmen der Neuropsychologie werden jüngst durch die Forschungsgruppe um Paap stark in Frage gestellt. In einer breit angelegten Studie testeten Paap und Kollegen 384 Probanden mithilfe von vier gängigen Testverfahren wie dem Simon Task oder dem Antisakkaden-Test4, um Unterschiede zwischen den einsprachigen und den mehrsprachigen Studienteilnehmern bezüglich exekutiver Funktionen zu erheben (vgl. Paap et al. 2014). Ziel war es, die gängigen Studien der Neuropsychologie zu replizieren und die als untermauert geltenden Ergebnisse zu bestätigen. Sie erhoben dabei zusätzlich Merkmale wie Beginn des L2-Erwerbs, Sprachdominanz sowie die Beherrschung weiterer Sprachen. Die Arbeitsgruppe konnte entgegen den bisherigen Annahmen unter keinen Bedingungen positive Effekte der Mehrsprachigkeit auf exekutive Funktionen auffinden: „It is likely that bilingual advantages in EF (i. e. executive functions, H. O.) do not exist. If they do exist they are restricted to specific aspects of bilingual experience that enhance only specific components of EF. Such constraints, if they exist, have yet to be determined“ (Paap et al. 2015: 276).

      Der Widerspruch zu früheren Studien wird primär mit ihrer statistischen Anlage erklärt. So weise ein Großteil der diesem Gebiet zugeordneten Forschungen eine zu geringe Probandenanzahl von durchschnittlich etwa 15 bis 30 Personen pro Gruppe auf (vgl. ebd.: 266f.). Um diesem Missstand zu begegnen, würden jedoch für gewöhnlich mehrere kleinere Studien statt einer umfassenderen Arbeit durchgeführt. Eine weitere Schwäche stelle die Zusammensetzung der Vergleichsgruppen dar, die oftmals nicht nach sozio-ökonomischem Status kontrolliert oder innerhalb der mehrsprachigen Gruppe nicht nach Dauer des Aufenthaltes angeglichen werde (vgl. ebd.: 267f.). Trotz ihrer Kritik formulieren Paap und Kollegen abschließend die Hypothese, dass Mehrsprachigkeit sich dennoch positiv auf exekutive Funktionen auswirken könne, jedoch sei der entsprechende Effekt vermutlich gering und nur bei einer spezifischen Bedingungskonstellation nachweisbar.

      Darüber hinaus wird Mehrsprachigen in Bezug auf den Alterungsprozess eine Überlegenheit gegenüber Einsprachigen zugeschrieben. So sei bei Ersteren die altersbedingte Abnahme kognitiver Fähigkeiten weiter nach hinten verlagert, da durch die lebenslange Verwendung zweier oder mehr Sprachen eine kognitive Resistenz geschaffen werde, die den geistigen Alterungsprozess verlangsame und das Gehirn vor Schäden schütze (vgl. Kavé et al. 2008). Dabei kann der Faktor Mehrsprachigkeit zuverlässiger die kognitiven Fertigkeiten eines älteren Probanden vorhersagen als andere demographische Variablen wie Alter, Geschlecht, Alter bei Ausreise oder Bildungsgrad (vgl. ebd.: 70). Die balancierte Beherrschung beider Sprachen scheint hier ebenso eine entscheidende Rolle zu spielen: Je ausgebauter die Sprachkenntnisse in beiden Sprachen, desto besser waren die kognitiven Fähigkeiten der Probanden im Alter erhalten. Ardila und Ramos (2008) berichten zudem über Effekte der Mehrsprachigkeit bei Demenzpatienten. Ihre kognitiven Funktionen blieben mit einer größeren Wahrscheinlichkeit erhalten, wenn sie primär in ihrer Erstsprache kommunizierten statt in der Zweitsprache (vgl. ebd.: 244). Die dargestellten Forschungsergebnisse belegen, dass Mehrsprachigkeit nicht nur einen schützenden Effekt auf kognitive Fähigkeiten bei normalen Alterserscheinungen haben kann, sondern dass sie sich auch verzögernd bei Demenz auswirkt.

      Schließlich wiesen einige Studien einen reziproken Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und Kreativität nach (vgl. für einen Überblick Ricciardelli 1992). Forschungen konnten bestätigen, dass sowohl eine ausgeprägte nonverbale Kreativität die Mehrsprachigkeit vorteilhaft beeinflusse als auch die Mehrsprachigkeit selbst sich in einem positiven Maße auf den Ideenreichtum und das Vorstellungsvermögen auswirke. Hommel und Kollegen (2011) belegten ebenfalls für verbale Kreativitätsaufgaben, dass Personen, die über ausgebaute Sprachkompetenzen in ihren beiden Sprachen verfügten, eher konvergente Denkstrukturen aufwiesen und schneller in der Lage waren, Gemeinsamkeiten zwischen Begriffen zu finden sowie Assoziationen, Bedeutungen und Abstraktionen von bestimmten Konzepten zu bilden. Nicht balanciert Mehrsprachige hingegen zeigten ausgebaute divergente Denkweisen und generierten mehr originelle, detaillierte Lösungen für ein Problem (vgl. ebd.: 114). Die kognitiven Prozesse des divergenten und konvergenten Denkens sowie der dadurch erzeugte sprachliche Output sind als Manifestationen der Kreativität Mehrsprachiger zu werten (vgl. Kessler & Quinn 1987).

      Mehrsprachigkeit ist also aus vielerlei Gründen eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche wie persönliche Ressource, die es aufrechtzuerhalten und auszubauen gilt. Gleichzeitig erscheint eine Sichtweise auf Mehrsprachigkeit als Ressource – also als Arbeitsmittel und Rohstoff – der Sichtweise der Sprecher selbst jedoch nicht gerecht zu werden (vgl. Ricento 2005 zu einer Kritik dieser Betrachtungsweise). Denn auf der Ebene des Individuums bedarf der Erhalt der Minderheitensprache keiner weiteren Begründung als den Wunsch, diese zu erhalten. Daran gekoppelt ist die Vorstellung, das Bewahren der Sprache stärke die Verbindung sowohl zwischen