Helena Olfert

Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen


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Geschichte oder Herkunft. Die Vermeidung intergenerationaler Konflikte durch eine gemeinsame Sprache und somit eine erleichterte Kommunikation mit der älteren Generation, der Community in der Diaspora und den Familienangehörigen im Herkunftsland stellen seitens mehrsprachiger Eltern wichtige Beweggründe dar, dem Verlust der Minderheitensprache entgegenzuwirken (vgl. Cho & Krashen 1998: 33).

      So stellt denn auch der Wunsch nach Erhalt der Minderheitensprache für die Familien die Bedeutung der Mehrheitssprache für Bildung und finanziellen Erfolg zwar keinesfalls infrage, dennoch gilt die größere Befürchtung mehrsprachiger Eltern mit Blick auf ihre Kinder nicht einem defizitären Erwerb der Mehrheitssprache, sondern gerade dem Erwerb und Erhalt der Minderheitensprache. Diese Sorge der Eltern spiegelt sich in Unsicherheit und einem großen Beratungsbedarf zu Strategien und Erfolgsbedingungen mehrsprachiger Erziehung, was in einschlägigen Online-Elternforen und in Untersuchungen zu pädiatrischer Beratungspraxis sichtbar wird (vgl. Bockmann et al. 2013; Buschmann et al. 2011). Erste Studien in diesem Bereich konnten aufzeigen, dass Eltern ob der sprachlichen Entwicklung ihres Kindes häufig beunruhigt sind. Falls Beratung in Anspruch genommen wird, so geschieht dies innerhalb der kinderärztlichen Betreuung oder aber im privaten Umfeld (vgl. Bockmann et al. 2013: e16). Meist sind die Eltern jedoch bei Fragen zu mehrsprachigen Erwerbsverläufen auf sich allein gestellt und erfahren kaum institutionelle oder fachkundige Unterstützung (vgl. ebd.).

      Insgesamt erscheint es nicht angemessen, eine Rechtfertigung für den Erhalt der Minderheitensprache allein in einem positiven Effekt auf das Altern, das Lernen von Fremdsprachen oder auf die Mehrheitssprache und somit auf Bildungserfolg zu suchen, denn die Minderheitensprache stellt bereits einen intrinsischen Wert dar. Jenseits von angestrebten ökonomischen Vorteilen für den Einzelnen führt der Wunsch nach Erhalt der Minderheitensprache und dessen erfolgreiche Umsetzung zu höherem Selbstwertgefühl, ehrgeizigeren Zukunftsplänen, mehr Selbstbewusstsein bei der Erreichung festgesetzter Ziele und zu einem gesteigerten Gefühl der Kontrolle über sein eigenes Leben (vgl. Garcia 1985: 228f.; Krashen 1998: 8). Die Bewahrung der Mehrsprachigkeit über Generationen hinweg kann folglich einen gewichtigen Einfluss auf emotionales Wohlbefinden, Stabilität und die psychische Verfassung des Individuums ausüben. Als ein persönliches, bedeutsames Thema, das stets im Kontext der Familie verhandelt wird, ist sie für die Sprecher selbst also eine subjektive, emotional aufgeladene Angelegenheit und bedarf weiter keiner rationalen Argumente.

      2.4 Mehrsprachigkeit in Deutschland

      Gesicherte Zahlen zu den in Deutschland gesprochenen Sprachen – allochthonen wie autochthonen – oder zu den Anteilen Mehrsprachiger an der Gesamtbevölkerung liegen nur bedingt vor. Dass Deutschland ein mehrsprachiger Staat ist, lässt sich dennoch anhand einiger Angaben und Statistiken belegen. Das Bundesministerium des Innern schätzt beispielsweise für die alteingesessenen Sprachen folgende Verteilung auf bundesdeutschem Gebiet: ca. 50.000 Angehörige der dänischen Minderheit, 60.000 Friesen, 60.000 Sinti, 10.000 Roma, 60.000 Sorben und rund 9 Millionen Niederdeutschsprecher (vgl. Bundesministerium des Innern 2015). Insgesamt könnten demnach ca. 14 % der autochthonen deutschen Bevölkerung als mehrsprachig bezeichnet werden. Die berichteten Zahlen spiegeln zwar durchaus die Größenverhältnisse der autochthonen Sprachen wider, können aber zugleich aufgrund der subjektiven Erhebungsart über Eigenkategorisierungen und ethnische Selbstzuschreibungen nur Näherungswerte darstellen. Sie reflektieren keinesfalls ihre tatsächliche Sprachvitalität, die nicht statistisch erfasst wird.

      Auch im Hinblick auf allochthone Mehrsprachigkeit in Deutschland existieren nur ungefähre Angaben, wofür mehrere Ursachen ausgemacht werden können. Zum einen wird ausschließlich legale Migration dokumentiert, zum anderen werden in Statistiken zu allochthoner Bevölkerung primär Staatsangehörigkeit und Geburtsland erhoben, die in Bezug auf gesprochene Sprachen nicht (mehr) aussagekräftig sind. Beide Kriterien sind zwar recht einfach zu erfassen und im Vergleich zu Selbstbezeichnungen objektiv, jedoch bringen sie auch Schwierigkeiten mit sich (vgl. Extra & Verhoeven 1999: 9). So ist z.B. die Staatsangehörigkeit einer Person als Hinweis auf die von ihr gesprochene(n) Sprache(n) durch Naturalisierungsprozesse oder eine eventuelle doppelte Staatsbürgerschaft inzwischen nur wenig überzeugend. Dies liegt daran, dass seit dem Jahre 2000 in Deutschland zusätzlich zum ius sanguinis (Recht des Blutes bzw. Abstammungsprinzip) das ius soli (Recht des Bodens bzw. Geburtsort / Territorialprinzip) gilt. Auf Antrag können damit Kinder von Ausländern, die vor dem Jahr 2000 geboren wurden, unter bestimmten Bedingungen eingebürgert werden (vgl. Böhmer 2012: 7, § 40b Staatsangehörigkeitsgesetz). Die Möglichkeit eines erleichterten und schnelleren Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit besteht zudem für die Gruppe der (Spät-) Aussiedler aus Osteuropa, die vor dem Gesetz als deutsche Volkszugehörige gelten (vgl. Irwin 2009: 35). Für die Statistiken bedeutet dies wiederum, dass eine deutsche Staatsangehörigkeit keinesfalls Mehrsprachigkeit ausschließt. Die Erhebung der Staatsbürgerschaft erlaubt eine direkte Schlussfolgerung auf die Sprache einer Person vor allem aber deshalb nicht, weil hierdurch Minderheitenkontexte des Herkunftslandes nivelliert werden oder Sprachverlust und Sprachwechsel nach der Migration nicht abgebildet werden können. Dieselben Kritikpunkte gelten für die Erhebung des Geburtslandes.

      Um dem zu begegnen, schlagen Extra und Verhoeven (1999) auch für allochthone Sprachen Erhebungen mittels einer Selbstkategorisierung und / oder die direkte Erfragung der im Haushalt gesprochenen Sprache(n) vor. Diese Kriterien entsprächen weitaus mehr den realen Gegebenheiten in den Familien Eingewanderter und seien darüber hinaus dynamisch genug, um Veränderungen im Lebensverlauf und in der Sprachbiographie darstellen zu können. In Deutschland wird seit 2005 stattdessen neben Staatsangehörigkeit und Geburtsland der sogenannte Migrationshintergrund durch den Mikrozensus erhoben. Diese Kategorie bildet zwar ebenfalls keine Sprachkenntnisse ab, erfasst jedoch generationenübergreifende Veränderungen dadurch, dass nun auch die Elterngeneration berücksichtigt wird. Er wird wie folgt definiert:

      Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt. Die Definition umfasst im Einzelnen folgende Personen: 1. zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer; 2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte; 3. (Spät-)Aussiedler; 4. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Nachkommen der drei zuvor genannten Gruppen. (Statistisches Bundesamt 2017b: 4)

      Nach dieser Definition haben im Jahr 2015 rund 21 % der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, der sich weiter nach Staatsangehörigkeit und Geburtsland ausdifferenzieren lässt, sodass sich die in Abbildung 2 dargestellte Zuordnung ergibt. Eine Betrachtung der Altersverteilung zeigt eine steigende Tendenz: Je jünger die jeweilige Bevölkerungsgruppe, desto größer ist der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund. Bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren lag er 2015 bei rund 35 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2017b).

      Abb. 2:

      Deutsche Bevölkerung nach Migrationsstatus (vgl. Statistisches Bundesamt 2017b; eigene Darstellung)

      Die Abbildung 2 lässt annehmen, dass zumindest alle Personen mit Migrationshintergrund mehrsprachig mit einer allochthonen Minderheitensprache sein könnten. Gleichzeitig kann auch diese Zahl aus zwei Gründen nur als Näherungswert verstanden werden. Zum einen können sich unter der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund auch Sprecher der dritten Generation befinden, die durchaus noch die Minderheitensprache sprechen, aber durch die Erhebungsart nicht erfasst werden. Zum anderen ist aufgrund von eventuellen Sprachverlustprozessen bereits in zweiter Generation auch die Aussagekraft des Merkmals „Migrationshintergrund“ mit Blick auf Mehrsprachigkeit grundsätzlich gering, sodass es lediglich als ein Hinweis auf mögliche in Deutschland gesprochene allochthone Sprachen und deren Verteilung fungieren kann. In diesem Sinne besitzen auch die Ergebnisse der in Abschnitt 2.2 diskutierten bildungswissenschaftlichen und soziologischen Studien zum Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg eine eingeschränkte Aussagekraft: Sie benutzen häufig das Kriterium des Migrationshintergrundes oder der Staatsangehörigkeit, ohne zusätzlich die Mehrsprachigkeit erhoben zu haben.

      Betrachtet man nun die Bevölkerung mit Migrationshintergrund genauer (s. Abbildung 3), so lässt sich weitergehend vermuten, dass mindestens alle hier dargestellten Gruppen ohne eigene Migrationserfahrung, d.h.