wenn es lexikalisch an einem Äquivalent (s. Kap. 4.3) mangelt, oder wenn „eine sprachsystematische oder eine gebrauchsnormative (textsortenspezifische) Eins-zu-Eins-EntsprechungEntsprechung zwischen AS und ZS fehlt und eine wörtliche (oder nicht genügend nichtwörtliche) Übersetzung einen wie immer gearteten Verstoß gegen die lexikalischen, syntaktischen, idiomatischen oder soziokulturellen Regelapparate der ZS zur Folge hätte“ (WILSSWilss 1992:64). Hier steigt der Aufwand:
Jedes Problemlösungsverhalten schließt die Fähigkeit ein, ein ÜbersetzungsproblemÜbersetzungsprobleme problemgerecht in seine Elementarstrukturen aufzulösen und dann nach Rekompositionsregeln zu suchen (…). Welche Art von Kalkulation ein ÜbersetzerÜbersetzer in Gang setzt, hängt von der Art der Barrieren ab, auf die er im Verlauf seiner Zielfindungsoperationen stößt (…). Es kann also vorkommen, daß ein Übersetzer mehrere Probleme gleichzeitig in Angriff nehmen muß. Übersetzungsdidaktisch ergibt sich daraus die Schlußfolgerung, daß der Übersetzer lernen muß, komplexe Suchstrategien zu entwickeln (1988:86f).
Die nichtwörtliche ÜbersetzungsprozedurÜbersetzungsprozedur hat den Charakter einer einzeltextspezifischen und intellektuell bestimmten Entscheidung, die jedoch nicht beliebig ist. Wegen des massiven Zeitdrucks der modernen Übersetzungspraxis sollte der ÜbersetzerÜbersetzer hier jedoch auch didaktisch „konditioniert“ werden. Da aber bislang „die Übersetzungsdidaktik keine überzeugenden Antworten weiß“, nennt WILSSWilss an dieser Stelle wieder die maschinelle Übersetzung und spricht von „Computerprogrammanalogie“ (1992:97).
Kommentar
Die Übertragung des Anspruchs der exakten Wissenschaftlichkeit auf die Sprachbeschreibung hat die Übersetzung aus ihrer Beschränkung auf eine „Kunst“, die man eben kann oder nicht, befreit und dazu geführt, dass Schaubilder und Modelltheorien neue Einsichten über das ÜbersetzenÜbersetzen als zweisprachigen KommunikationsvorgangKommunikationsvorgang vermitteln konnten. Das Prinzip einer identischen Weitergabe von InformationInformation (inhaltliche Invarianz) in einer anderen SpracheSprache lenkte das Augenmerk zunächst auf potentielle Äquivalenzbeziehungen im lexikalischen Bereich der Sprachen. Die Auffassung des Übersetzens als Transferprozess eröffnet die PerspektivePerspektive einer didaktischen Operationalisierung, auch wenn man im Bereich der Modelltheorien noch kaum konkrete Übersetzungsbeispiele diskutiert.
Während die ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft anfänglich aus Überlegungen zur Maschinellen Übersetzung hervorging und somit naturgemäß an den linguistischen Strukturgesetzmäßigkeiten orientiert war, hat sich die Forschung zur MÜ inzwischen als eigene Disziplin von der Forschung zur Humanübersetzung losgelöst.
In dem Bestreben nach wissenschaftlicher Objektivierung werden Sprachstrukturen als Informationsträger untersucht, unabhängig von dem sie erfassenden Subjekt. Gegen diese von der Universalientheorie herrührende Vorstellung wird allerdings von der SprachphilosophieSprachphilosophie eingewendet, es sei nicht sicher, ob identische Begriffe überhaupt erzielt werden könnten. Die Sprachphilosophie verweist auf Bedeutungsunterschiede vor einem individuell jeweils anderen Verstehenshintergrund.
Lektürehinweise
John C. CATFORDCatford (1965): A Linguistic Theory of Translation. An Essay in Applied Linguistics. London.
Juliane HOUSEHouse (1997): Translation Quality Assessment. A model revisited. Tübingen.
Roman JAKOBSONJakobson: „Linguistische Aspekte der Übersetzung“ (1959), in: Wolfram WILSSWilss (Hrsg.) (1981): Übersetzungswissenschaft, Darmstadt S. 189–198.
Otto KADEKade: „Kommunikationswissenschaftliche Probleme der Translation“ (1968), in: Wolfram WILSSWilss (Hrsg.) (1981): Übersetzungswissenschaft. Darmstadt S. 199–218.
Werner KOLLERKoller (1992, 82011): Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Tübingen; besonders Kap. 1.9 und 2.3.
Albrecht NEUBERT: „Pragmatische Aspekte der Übersetzung“ (1968), in: Wolfram WILSSWilss (Hrsg.) (1981): Übersetzungswissenschaft. Darmstadt, S. 60–75.
Wolfram WILSSWilss (1977): Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden. Stuttgart, besonders Kap. IV.
Wolfram WILSSWilss (Hrsg.) (1981): Übersetzungswissenschaft. Darmstadt.
Wolfram WILSSWilss (1992): Übersetzungsfertigkeit. Tübingen.
5 Die sprachenpaarbezogene Übersetzungswissenschaft
Die Kontrastive Linguistik vergleicht Sprachen auf allen Ebenen des Sprachsystems. Die Stylistique comparéeStylistique comparée beschreibt die möglichen ÜbersetzungsverfahrenÜbersetzungsverfahren in einem SprachenpaarSprachenpaar in Bezug auf Wörter und Syntagmen. Sie bilden das Regelwerk einer Technik des Übersetzens. Diese mikrostilistischen Kategorien werden bis heute in der Fremdsprachendidaktik, FehleranalyseFehleranalyse und ÜbersetzungskritikÜbersetzungskritik verwendet. Ausdrücklich werden nicht generelle, sondern sprachenpaarspezifische ÜbersetzungsproblemeÜbersetzungsprobleme diskutiert.
5.1 Die Stylistique comparéeStylistique comparée (VinayVinay/Darbelnet/Darbelnet, MalblancMalblanc)
Beim ÜbersetzenÜbersetzen als „interlingualer KommunikationsvorgangKommunikationsvorgang“ (s. Kap. 4.2) oder „Transferprozess“ (s. Kap. 4.6) treffen zwei Sprachen aufeinander. Es stellt sich die Frage, „wie man sprachlich operieren muß, um ausgangs- und zielsprachliche Textintegration zu gewährleisten und interlinguale Strukturdivergenzen auf inhaltlich und stilistisch adäquate Weise zu neutralisieren“ (WILSSWilss 1977:62). Für eine wissenschaftliche Beschreibung der praktischen Lösungen beim Übergang von einer SpracheSprache zur anderen angesichts der verschiedenen potentiellen Entsprechungen in einem SprachenpaarSprachenpaar (s. Kap. 4.3) ist der von der sog. „Stylistique comparéeStylistique comparée“ vorwiegend in französischer Sprache entwickelte übersetzungstheoretische Ansatz grundlegend geworden. Die hier eingeführten Bezeichnungen haben überall in der ÜbersetzungswissenschaftÜbersetzungswissenschaft und vor allem in der Fremdsprachendidaktik Eingang gefunden und werden bis heute verwendet, denn jede Klassifikation fördert das Verständnis eines Problems.
Die Vertreter der Stylistique comparéeStylistique comparée initiierten eine systematische Beschreibung von ÜbersetzungsverfahrenÜbersetzungsverfahren aufgrund des Vergleichs der Oberflächenstrukturen von Sprachen (s. Kap. 3.4). Es sollten leicht didaktisierbare Verfahren zur Überwindung struktureller Unterschiede entwickelt werden, zunächst im zweisprachigen Kanada für Französisch und Englisch. Ausgangspunkt war die Suche nach Ausdrucksmitteln, die in der anderen Sprache in der „gleichen kommunikativen Situation“ verwendet werden:
(…) we should forget about the signs and find identical situations first. For, from these situations, a new group of signs must be created, which will by definition be the ideal equivalent, the unique equivalent, of the former (VINAY/DARBELNET 1995:5).
Anhand umfangreicher Beispieldiskussionen mit vorliegenden Übersetzungen oder konstruierten Beispielen zu den beiden Sprachenpaaren Englisch-Französisch (VINAYVinay/Darbelnet/DARBELNET 1958) und Deutsch-Französisch (MALBLANCMalblanc 41968) gelangten sie zu dem Ergebnis, dass alles ÜbersetzenÜbersetzen, jedenfalls was die genannten Sprachenpaare betrifft, unter sieben, oft in kombinierter FormForm auftretenden Hauptkategorien subsumierbar ist: emprunt, calque, traduction littérale, transposition, modulation, équivalence, adaptation.
Sie haben den ersten umfassenden Versuch unternommen, übersetzerisches Verhalten deskriptiv zu ordnen. Dies lässt die strukturellen Unterschiede zwischen den Sprachen recht deutlich werden, wobei die Prozeduren auf der languelangues. Sprachsystem-Ebene jeweils mit Beispielen auf der paroleparoles. Rede, Äußerung-Ebene belegt werden. Die Feststellungen führten zu der Vorstellung, dass sich der ÜbersetzungsprozessÜbersetzungsprozess in einer Reihe linguistisch fassbarer Übersetzungsprozeduren (procédés techniques de la traduction) konkretisiert.
Von der Stylistique comparéeStylistique