Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes


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Lemma der sprachlichen Vorgängigkeit als Konstruktionen entlarvt, wie das Leben selbst, das es im Schreiben zu vermitteln gilt, als Täuschung ausgewiesen. Denn auch die Vorstellung vom Gedächtnis als einem auffüll- und abrufbaren Speicher wurde von der Denkfigur der Erinnerung als erfundenem Leben abgelöst. Mit dem Wandel der Blickrichtung von der Autobiographie als literarisch ausgestaltetem historischen Zeugnis zu einem mit den Mitteln der Sprache konstruierten Erinnerungswerk rückten die poetologischen und rhetorischen Bedingungen der rückschauenden Lebensbetrachtung schließlich in dem Maße in den Vordergrund, dass heute vielmehr von geschriebenen als von beschriebenen die Rede sein kann.

      Während Schlingensief in seiner posthum erschienenen literarischen Autobiographie Ich weiß, ich war’s (2012) am Phantasma eines in der rückschauenden Betrachtung beschreibbaren Lebens und damit zugleich am Konzept von Identität festhält, tönt durch seine autobiotheatralen Inszenierungen hindurch flächendeckend der die poststrukturalistische Gewissheit über die Fiktionalität des selbstbeschreibenden Ichs präformierende Aphorismus Nietzsches zur Selbstreflexion hindurch: „Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt auf Nichts, als auf den Spiegel.“45 Der Theaterregisseur Schlingensief errichtet ein solches fiktionales Spiegelkabinett des Ichs: Er zitiert eine Fülle an topologischen loci communes der literarisch-narrativen Auto-Konstitution, die das Verborgene des eigenen Lebens maskieren. In der Übersetzung dieser Topoi in theatrales Rollenspiel und technisch-mediale Erinnerungsarbeit stellt er den Vorgang der Selbstkonstruktion ostentativ aus. Im Unterschied zu den Protagonisten der autobiographischen Performances erzählt er die Geschichte seines Lebens dabei größtenteils allerdings nicht als leiblich Anwesender, sondern lässt seine Ich-Fragmente in erster Linie durch Stimmen anderer Darsteller und somit als autofiktional gebrochene Spiegel- und Projektionsgestalten zu Wort kommen. Die strukturelle Inkorporation der Fremdheit übersetzt das durch Krankheit zugespitzte Moment der Alterität im Ich letztlich in das szenische Spiel. Aus dem Verhältnis zwischen der medial-theatralen Konstruktion eines multiplen Ichs, das sich in der augenfälligen inszenatorischen Überlagerung verschiedener Identitätsschichten zeigt, und der nichtsdestoweniger offenkundig egozentrierten Besetzung der eigenen Subjektposition ergibt sich für die autothematischen Strukturen in Eine Kirche der Angst, Mea Culpa und Sterben lernen! folgende Diagnose: Die Bühnenwerke changieren vexierbildartig zwischen Be- und Entgrenzung des Ichs. Einem inklusiven Konzept, verdichtet im Anspruch auf entblößende Lebensdarstellung, steht das Prinzip der Montage gegenüber, das das Ich parzelliert und in eine Vielzahl von Bildern projiziert, die nur mehr indexikalische Verweisfunktion übernehmen. Für diese Spannungskonstellation zwischen Ich-Konzentration und -Diffundierung bleibt in modifizierter Weise der Konnex zwischen Todesbedenken und Selbsterforschung aus dem Selbstporträt grundlegend. Durch seine Abspaltung in einen beobachtenden und viele beobachtete Teile funktionalisiert Schlingensief aber vor allem genuin autobiographische Narrative für den therapeutischen Zweck der Bewältigung von Todesangst, des Aufbegehrens gegen den Tod. Der im Rahmen der vorliegenden Studie erstmals verwendete Terminus „Autobiothea­tralität“ weist darauf hin, dass die szenische Darstellung des eigenen Lebens in Schlingensiefs Arbeiten autobiographische Redefiguren auf die Theaterbühne transferiert, um die Spannung zwischen Fakt und Fiktion, eigenen und fremden Lebens, mit nichtliterarischen Mitteln auszuagieren.

      Intrinsisch im Analysegegenstand angelegt sind somit die beiden theoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit. Es handelt sich zum einen um die Geschichte der Autobiographie und Autobiographieforschung bis hin zu der im 20. Jahrhundert aufkommenden Spielart der Automedialität und zum anderen um die abendländische Kulturgeschichte des Todes, die eine Vielzahl an symbolischen Konstrukten herausgebildet hat, die dem Lebenden eine Einstellung zum Sterben vermitteln sollen. Beide Rahmungen sind seit den Anfängen der Autobiographie, die als Manifest des Lebens vom Tod her konzipiert ist, untrennbar miteinander verwoben. Aufgrund einer Zuordnung der drei Inszenierungen zu den theoretischen Referenzrahmen weist die Arbeit eine Zweiteilung auf, die dem Umschlag in der Perspektive Schlingensiefs zwischen Mea Culpa und Sterben lernen! Rechnung trägt: Der erste theoretische Kontext wird vor allen Dingen den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa unterlegt, die in ihrem lebensbilanzierenden Gestus sowie aufgrund der theatral-medialen Aneignung der Topoi von Beichte, Bekenntnis, Bekehrung und Verteidigungsrede an zahlreiche Ausdrucksgesten der Autobiographie alludieren. Das Augenmerk der Analyse liegt dabei auf der Transformation von autobiographischem Schreiben in die theatral-figurale und technisch-mediale autobiotheatrale Praxis. Bei der Betrachtung von Sterben lernen!, in dem die Inszenierung eigenen Lebens als Anreden-gegen-den-Tod aufgrund des nunmehr gesundheitlich stabilen Zustands des Regisseurs tendenziell verblasst und sich stattdessen die theatral-philosophische Einübung in den Tod des sprichwörtlich „Anderen“ zeigt, tritt der Rahmen der Autobiographie hinter jenen der abendländischen Geschichte des Todes mitsamt der bestimmenden philosophischen Formel des Sterbenlernens zurück.

      Der Interpretationshorizont der Autobiographie mit ihrer eigenen Verwicklung von auktorialer Geste und den sich im medialen Aufschub verselbstständigenden Redefiguren soll nicht zuletzt eine Abkehr von jener metaphorisie­renden Umspielung der theatralen Ich-Darstellung Schlingensiefs ermöglichen, die (auch) in der wissenschaftlichen Rede über Schlingensief grundlegend ist. Zwar existieren erhellende Aufsätze zum Korpus der Inszenierungen, die Schlingensiefs letzte Arbeiten unter anderem auch auf den Komplex der Autobiographie perspektivieren.46 Eine grundlegende Aufarbeitung der Rollenmuster, die Schlingensief als Sujet seiner Inszenierungen entwirft und dabei eine Fülle an Bezugspunkten zu den historisch sich wandelnden autobiographischen Narrativen kreiert, wurde bislang allerdings nicht vorgenommen. Die nachfolgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, diese Lücke zu schließen und über den Dualismus von leiblicher Präsenz und semiotischer Repräsentation hinauszugehen, um die Heterogenität der Ich-Darstellungsmodi Schlingensiefs in den Blick zu nehmen. Damit ist nicht zuletzt das Anliegen verbunden, jene Dispositive, die der Regisseur selbst in seinen zahlreichen Interviews vorgegeben hat, kritisch zu reflektieren. Der beobachtbaren Tendenz, wonach ein beträchtlicher Teil der Schriften zu Schlingensiefs Werken bislang innerhalb des vom Regisseur vorgegebenen Analyse- und Deutungsrahmens verbleibt und seine programmatischen Intentionen und ästhetischen Innovationen größtenteils sensu proprio auslegt, versucht der vorliegende Beitrag entgegenzusteuern, indem er die Theaterarbeiten einer topologischen Lektüre autobiographischer Narrative unterzieht.

      Da Schlingensief sein Leben in seinen autobiotheatralen Arbeiten als Künstlervita inszeniert, führen die Ausführungen stets auch auf jene ästhetischen und kunstphilosophischen Fluchtpunkte zurück, die seiner Physiognomie als Film- und Theaterregisseur in seinen Augen Kontur verliehen hatten und die er darum in seinen vom bevorstehenden Tod her realisierten Arbeiten zitiert. Neben den avantgardistischen Strömungen des Surrealismus und Dadaismus, den neoavantgardistischen Positionen des Fluxus, des Happenings, der Aktionskunst und insbesondere Joseph Beuys’, prägte ihn vor allen Dingen seine Auseinandersetzung mit Wagners Parsifal als Regisseur anlässlich der Bayreuther Festspiele 2004 bis 2007. In der Ästhetik des Gesamtkunstwerks liegt letztlich das Verbindende der künstlerischen Referenzen von Wagner bis hin zum Neoavantgardismus, dessen Vertreter die Kunst in lebensweltlich-relevanter Umformung der romantischen Kunstphilosophie als „direktes Geschehen […], nicht Wiedergabe von Geschehen“47 begriffen. In dieser neoavantgardistischen Formel klingt der Gedanke an, dass die Kunst selbst die Bewegung des Lebens inkorporiere; sie zeigt die durchgreifende Stoßrichtung des eingangs vorgestellten Diktums Schlingensiefs, wonach das Theater ohne das Leben nicht auskomme. In Konsequenz dieses Parallelismus zwischen Leben und Kunst ergibt sich der eigentümliche Umstand, dass Schlingensiefs thanatographische Inszenierungen unter geeignetem Blickwinkel als Inversionsfigur erscheinen: Sie kippen von einer Kunst der Verarbeitung des möglicherweise bevorstehenden Todes in eine Kunst über die künstlerische Ideengeschichte seit Wagner, die sich aus Fluktuationen des Lebens generiert. In geradezu widersprüchlichem Verhältnis zu ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung, das Leben und den Tod zu reflektieren, verbleiben die Inszenierungen unterdessen bisweilen also im innerästhetischen Rahmen und geben sich auf diese Weise erst recht als Modellfall Schlingensiefscher Ideenpraxis zu erkennen, in fortwährender Transformation von eigenem und fremdem künstlerischen Material Kunst über Kunst zu machen.

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