Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes


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seinen von Zukunftsangst besetzten gegenwärtigen Zustand mit einer Fülle an vergangenen und fingierten Ichs.

      An den Kritiken zu Eine Kirche der Angst zeigt sich paradigmatisch die Schwierigkeit, die Schlingensiefschen Spezifika der ästhetisch wie topologisch „ausstreuenden“ (disseminativen) Inszenierungspraxis und der Evokation des Absoluten im Zeichen der Wiederaufnahme romantischer Kunstphilosophie in einen strukturiert urteilenden Kritiker-Jargon zu überführen. Der Regisseur selbst legte durch die Gattungsbezeichnung des „Fluxus-Oratoriums“ zumindest die Spur zu dem von der Kritik problematisierten Charakteristikum des Montierens von heterogenem Erinnerungsmaterial in den religiösen Rahmen. Die durch den Titel programmatisch angekündigte und im Laufe der Inszenierung tatsächlich vollzogene Vermischung des dynamisch-spielerischen Moments (Fluxus) mit der dem Sakralen eigenen statuarischen Feierlichkeit (lat. oratorium, Bethaus) führte den Großteil der Kritiker zu einer gewissen Unentschiedenheit darüber, ob sie einer überbordenden medial-theatralen Arbeit ansichtig wurden, oder vielmehr an einer parareligiösen Kunst-Messe teilgenommen hatten, die die Rezipienten unweigerlich in den Status von Kirchgängern versetzte. Um diesem eigentümlichen Mischungsverhältnis rhetorisch beizukommen, übernahm das Gros der Rezensenten die im Titel implizierten Terminologien des Fluxus und des (Kunst-)Religiösen, die durch inszenatorische Verweise auf die zentralen spiritus rectores Beuys und Wagner ohnehin deutlich angezeigt waren, und gruppierte die Besprechungen um die semantischen Felder des Schrill-Bunt-Assoziativen und des Andächtig-Rituell-Feierlichen, ohne die Verkettung der beiden Ebenen begrifflich auflösen zu können. Die der Inszenierung zugrunde liegende Verflechtung von Widersprüchlichem wurde von der Kritik folglich ebenso als Leitmotiv aufgegriffen wie die privatreligiöse Aufladung von Kunst.

      In den Augen des Kritikers Matthias Heine glich das von Schlingensief inszenierte Weltbild in Eine Kirche der Angst mehr denn je demjenigen einer „Kunstreligion“8. Er sah eine „wilde, synkretistische Messe“9, deren quantitative Dichte an Zeichen sich dem Zuschauer allein deshalb verschloss, weil die Aufführungen „keine Fußnoten“10 hatten. Die Fülle an künstlerischen Referenzen, die Schlingensief im Laufe seiner theatralen Messe aufgeboten hatte, wurde mit unterschiedlichen Implikationen von der Kritik ebenso einhellig aufgegriffen wie die ästhetische Konstruktion von Widersprüchen. So war Dirk Pilz, der die Produktion für NZZ und Berliner Zeitung rezensierte, der Auffassung, dass „das Sakrale und das Profane, das Blasphemische und das Heilig-Ernste“11 in der Tat bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander übergegangen waren und sah den Abend regelrecht „aus dem Geist des Synkretismus“12 entstehen. Anders als Heine allerdings qualifizierte er gerade die vorgeführte „Kunst der Maßlosigkeit“13 zum Prozess der Sinnstiftung. Auch Dorothea Marcus versuchte auf nachtkritik.de die Vereinigung der Gegensätze durch ein kontradiktorisches sprachliches Etikett in den Griff zu bekommen und beobachtete eine „blasphemische Gottessuche, ein ketzerisches und ebenso tiefgläubiges Ritual“14. Ähnlich argumentierten die Kritiker für Spiegel und Tagesspiegel: Wolfgang Höbel verfolgte eine „schrille, herzergreifende […] Totenmesse“15, während Rüdiger Schaper gar ein „bizarres, aufwühlendes Hochamt“16 erlebte, das er rhetorisch in die für Schlingensiefs Arbeitsweise charakteristische paradoxe Trias von „Kitsch, Kampf, Kommunion“17 verkürzte. Andreas Rossmann beurteilte das Vorhaben des Regisseurs, die „eigene Krankheit szenisch-musikalisch zu reflektieren“18, gar als „egomanisch, exhibitionistisch, blasphemisch, kitschig und privat […], aber auch anrührend, beeindruckend, authentisch, experimentell und mutig“19. Mit seiner Auffassung, dass „[d]er Abend […] das alles – einerseits und andererseits, zugleich und zusammen“20 war, verwies er auf die dem compositum-Prinzip Schlingensiefs grundlegende und in den Augen der Kritiker nur schwer zu durchdringende Verknüpfung von selbstinszenatorischem Gestus mit künstlerischer Genuinität und gesellschaftskritischem Auftrag.

      Mit Rossmanns Formel der Egomanie war zugleich die künstlerische Selbstthematisierung, in der die Aspekte der Wahrheit, Unmittelbarkeit und Authentizität widersprüchlich in Szene gesetzt wurden, und damit ein weiterer zentraler Angelpunkt der feuilletonistisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Inszenierung angesprochen. Die Rezensenten schlossen dabei das Motiv der Nacktheit mit den Themen des Schmerzes, des Leids und des Todes zusammen. Für Dorothea Marcus etwa eröffnete Eine Kirche der Angst eine „neue Dimension des Authentischen auf der Bühne“21. Nie habe sich Schlingensief „[p]rivater und persönlicher, nackter und trauriger“22 gezeigt und die „Inszenierung seines Lebens“23 auf diese Weise zu einer „Inszenierung um sein Leben“24 ausgestaltet. Auch aus der Sicht Peter Michalziks war der Arbeit deutlich abzulesen, dass da „einer die Wahrheit über sich selbst wissen“25 wollte und dabei nur mehr einen kleinen Schritt von der göttlichen Selbststilisierung entfernt blieb. Aufgrund seiner exhibitionistischen Selbstdarstellung geriet der Theatermacher in seiner „Krebs-Messe und Selbstsuche“26 letztlich allerdings zum „Priester in eigener Sache“27. Rüdiger Schaper deklarierte Schlingensief doppeldeutig zum „Performer vorm Herrn“28 und betonte, dass sich der Regisseur „[m]it seiner gesamten Existenz“29 in eine Produktion hineingeworfen habe, die zugleich „sein radikaler Lebensbeweis“30 war.

      Für Wolfgang Höbel hätte der Künstler, um aus der eigenen Krankheit, aus seinem Zorn, aus seiner Hilflosigkeit einen ergreifenden Theaterabend zu machen, allerdings „kein Fluxus-Brimborium“31 gebraucht, da die Kraft des Abends einzig „aus der Sprache von Schlingensiefs Krankenakte, manchmal auch aus dem Kitsch“32 gekommen sei. Höbel bewertete die christlich-rituelle Rahmung als Akzidens, das dem primären Ansinnen Schlingensiefs nach faktualer Lebensdarstellung auf der Basis autobiographischer Dokumente recht eigentlich zuwidergelaufen sei. Die Arbeit, so die Diagnose, habe durch die intermediale Verflechtung nicht an perspektivischer Vielfalt gewonnen, sondern sei ihrer möglichen Klarheit verlustig gegangen. Der Umstand, dass die medizinische Anamnese des Krankentagebuchs im Rahmen der Inszenierung einerseits über Tonbanddokumente zugänglich wurde, was einer nachdrücklichen wie irreführenden Suggestion von Authentizitätseffekten gleichkam, und andererseits durch die Lektüre von Schauspielern verfremdend zur Darstellung gelangte, warf nahezu flächendeckend die Frage auf, ob und inwiefern es sich bei Eine Kirche der Angst um Kunst, Leben oder beides zugleich gehandelt habe. Damit war ebenso zum wiederholten Mal das Bestreben einer ersatzreligiösen Erbauung wie die problematische künstlerische Funktionalisierung der „nackten Wahrheit“ angesprochen –, ein Topos, den schon Nietzsche ganz grundsätzlich in Abrede stellt und Hans Blumenberg im metaphorischen Feld von Bekleidung und Verkleidung verortet, da sich Wahrheit notwendigerweise in die Phänomene des Durchschautseins, der Maskierung und der schamverletzenden Enthüllung differenziert.33 Auf der Grundlage des ästhetisch problematischen Zusammenschießens von Authentizitätsanspruch und Selbststilisierung stellte sich Ulrich Seidler die Fragen, ob es dem Künstler Schlingensief überhaupt möglich war, beides gleichzeitig zu vertreten und, ob sich die Rezipienten seines Fluxus-Oratoriums auf der Seite seiner Kunst und seines Lebens zugleich aufhalten konnten, und gelangte dabei zu einem eindeutig negativen Urteil:

      Bei Schlingensief sind die Grenzübergänge zwischen Kunst und Leben vielleicht schlechter bewacht, erlauben ein reges Hin-und-her und ziehen inzwischen einen Großteil der interpretatorischen Aufmerksamkeit auf sich. Aber man kann sich dennoch nicht – auch nicht bei Schlingensief – gleichzeitig auf beiden Seiten aufhalten.34

      Peter Kümmel wiederum bezeichnete die theatrale Umspielung der eigenen Krankheit unter dem von Elias Canetti entlehnten Motto „Ihn brennt der Tod“35 als logische Konsequenz des künstlerischen Ansatzes Schlingensiefs, der das Lavieren zwischen Realität und Fiktionalität, zwischen wahrhaftiger Aussage und inszenierter Behauptung schon vor der Krebsdiagnose zum künstlerischen Credo stilisiert hatte:

      Er hat sich stets geweigert, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden, er war zu dieser Trennung gar nicht fähig, und so war klar, dass seine verheerende Krebserkrankung, die im Januar öffentlich wurde und die ihn einen Lungenflügel kostete, Teil seines Werkes werden würde.36

      Durch die Rede vom Einbrennen verwies Kümmel über den Autor Canetti zugleich auf die philosophisch-ästhetische Topologie des Schmerzes, die der selbstvergessenen Erfahrung von Lust die bewusstseinsfördernde Funktion des Schmerzes entgegenstellt. In diesem Sinne bezeichnet bereits Kant die Pein als „Stachel der Tätigkeit“37, durch die „wir allererst