Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes


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Verbindung der Sphären von Kunst und Religion äußert sich seine Hoffnung auf eine neue Art der religiösen Erfahrung, die das Endliche transzendiert und einen Zugang zum Universum ermöglicht.12

      Der Versuch, eine mythische Welt zu restituieren, in der die Oppositionen von Endlichem und Unendlichem, Einheit und Vielfalt, Individuum und Gemeinschaft, Absolutem und Relativem, Subjekt und Objekt aufgehoben sind, führt bei Schlegel über die ästhetisch liminale Sphäre einer anderen Realität, eines „verdoppelte[n] Leben[s]“13, in dem Einbildungskraft und Denken verschränkt sind. Dieses Leben muss, wie der Philosoph in seiner dem Gespräch über die Poesie eingelagerten „Rede über die Mythologie“ betont, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen“14. Mit seinem Entwurf der „progressiven Universalpoesie“15 löst Schlegel das ästhetische Desiderat einer Kunst als Gefäß des Absoluten schließlich ein. Die programmatische Forderung nach einer Poesie, deren metaphysisches Einheitsstreben gerade auf der Sprengkraft von unterschiedlichen Sphären der Erkenntnis und Wahrnehmung beruht, wie es Schlegels Chiffren der „Symphilosophie und Sympoesie“16 nahelegen, zielt nicht lediglich auf ein inklusives, zwischen den verschiedenen Gattungen und Erkenntnisebenen vermittelndes Konzept. Vor allen Dingen ist damit die dynamische Komponente einer Kunst angesprochen, in der Sein als beständiges Werden erscheint, das im Prozess fortwährender Umcodierung von Sinn niemals an sein Ende gelangen kann.

      Als Quintessenz romantischer Kunstphilosophie für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts extrahiert Karlheinz Bohrer die Vorstellung einer ästhetisch-metaphysischen „Vagheit“, eines „enigmatische[n] Surplus des ästhetischen Eindrucks, das sich nicht mit einem Signifikat identifizieren lässt.“17 In der Tat erhält das Begriffsinventar quasireligiöser Erfahrung im kunstphilosophischen Diskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter gewandelten Vorzeichen eine Wiederbelebung. So überführt Adorno die kunstreligiöse Prämisse der Vereinigung von Gegensätzen im Zeichen der Erfahrung von Totalität in sein Konzept ästhetischer Negativität. Kunst erhält demnach in ihrer negativen Form als Antidot gegen die Wirklichkeit ihre Berechtigung. Mit Lyotard wiederum wird die Erfahrung des Erhabenen als unmittelbare Erfahrung des Undarstellbaren ausgewiesen, die unter der Erscheinungsqualität des Instantanen die „Botschaft […] von nichts, das heißt von der Präsenz“18 selbst übermittelt. Der Lyotardsche Begriff des Erhabenen stiftet mithin eine spezifische „Aufmerksamkeit für das Inkommensurable und Flüchtige, das Ereignishafte, Nicht-Bestimmbare, das sprachlich nicht Verallgemeinerbare und darin tief Verstörende in allen unseren Erfahrungsvollzügen“19.

      Im ästhetischen Kosmos Schlingensiefs zeigen sich die romantischen Prämissen des Unbestimmten und Prozessualen ebenso wie deren Aktualisierung unter den Bedingungen der Negativität und des Erhabenen als elementare performative Grundprinzipien, die im Knotenpunkt individueller Mythologie zusammenlaufen. Die dynamische Qualität künstlerischen Sinns spitzt er zum Darstellungsideal eines fortwährenden Sinnüberschusses zu, das die Grundsätze der Logik wie auch das Darstellungsparadigma der geschlossenen Repräsentation im Geiste avantgardistischen Avancements abstreift und stattdessen von der formsprengenden Kreativität des Künstler-Ichs ausgeht. Sein eigenes künstlerisches Gesetz hat der Regisseur dabei ganz offensichtlich in der ästhetischen Funktionalisierung von Widersprüchlichkeiten aufgespürt. Die Kategorie des Negativen, die Schlingensief in seinen künstlerischen Akten als Widerstand gegen jegliche Form von Eindeutigkeit aufbietet, fungiert dabei also nichtsdestoweniger als Absolutum. Darin durchaus Adorno folgend, erschuf er auf diese Weise eine Kunst, die „die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt“20.

      Mit Beharrlichkeit arbeitete Schlingensief gegen die Widersinnigkeit der Realität an, indem er die Paradoxien, die das Leben bereithält, in seine Kunst inkorporierte. Von der provokativen Wiederholung politischer Parolen, wie „Ausländer raus“ und „Nazis rein“21, über die rhetorische Umkehrung pädagogischer Lebensweisheiten in kontrafaktische Formulierungen, wie „Scheitern als Chance“, „Jage zwei Tiger!“ und „Können des Nichtkönnens“22, bis hin zu Oxymora, die in den Wendungen „Kirche der Angst“, „Erinnern heißt Vergessen“ und „Unsterblichkeit kann töten“ einen tieferen philosophischen Gehalt entbergen sollen, setzte der Künstler wiederholt einander unvereinbare Vorstellungskomplexe in eins. Die zahlreichen Auftritte des Regisseurs in seinen eigenen Inszenierungen wiederum gehorchten dem Prinzip des Selbstwiderspruchs. Sein Spiel mit der Überlagerung kontradiktorischer Modi der Erfahrung von Wirklichkeit zeigt sich vor allem daran, dass er als Akteur stets jene künstlerischen, philosophischen und politischen Äußerungen ironisch kommentierte, konterkarierte oder provokativ zurücknahm, die er in seiner Funktion als Regisseur etabliert hatte. Ein ähnlich ausgeprägtes Prozessdenken liegt auch der künstlerischen Entwicklungslogik zugrunde, nach der seine unterschiedlichen Theaterarbeiten miteinander verbunden sind: So spinnen seine Inszenierungen stets Elemente aus seinen vorangegangenen Arbeiten weiter – auch um den Preis, dass sie sich bisweilen in einen innerästhetischen Kommentierungs- und Verweisungszusammenhang verstricken und dem uninformierten Rezipienten auf diese Weise verwehren.

      Mit diesen performativen und rhetorischen Widersprüchen offenbarte der Regisseur das kreative und epistemologische Potential von existentiellen Antagonismen. Die Entbergung tieferer Wahrheiten, so scheint es, war für ihn ausschließlich über den Zusammenprall einander ausschließender Grundsätze zu erhalten. Seine nahezu unerschütterliche Gewissheit, dass die Wahrheit zugleich das Eine und das Andere sei, führte Schlingensief auf ein persönliches Mythologem zurück. So erklärte er seinen Hang zum Widersprüchlichen wiederholt zur conditio seiner Existenz. Bereits als Kind habe er auf die Frage seiner Mutter, ob ihm das Essen geschmeckt habe, stets mit den Worten „‚Kann sein, kann aber auch nicht sein‘“23 geantwortet. Mit dem Selbstbild eines geradezu zwanghaften Wahrheitssagers, das der Dramaturg Carl Hegemann gar als physisches Unvermögen zur Lüge stilisiert hat,24 untermauerte der Regisseur die Genese seines polyperspektivischen, ebenso autobiographischen wie ästhetischen Narrativs. Eine äquivalente biographische Anekdote aus der Kindheit legte er seiner filmischen Schichtungstechnik zugrunde: Ein technischer Lapsus seines Vaters, der einen Filmstreifen doppelt belichtete, bescherte ihm die prägende Erfahrung zweier Filmbilder in einem.25 So erwächst aus der diskrepanten Überlagerung von Sinneinheiten und Bildern Schlingensiefs hermetisch holistische Kunst der „Sympoesie“, die das Paradoxe, d.h. das Negativ des Sinns, vor dem persönlichen Erfahrungshorizont zum Absoluten stilisiert.

      In seinen autobiotheatralen Inszenierungen nun versetzte er sein in der Vergangenheit gelebtes und in der Gegenwart erlebtes Ich in dieses Spannungsfeld von Selbstdifferenz und synthetisierender Totalität, das Reibungen zwischen Religion und Kunst sowie Avantgarde und Kitsch zuließ. Schlingensiefs in diesem Sinne paradoxal gefasste existentielle Spurensuche in Eine Kirche der Angst (inklusive des Satellitenwerks Der Zwischenstand der Dinge) und Mea Culpa, mit der sich seine Rückschau auf sein Leben und seine Kunst mit seinen Reflexionen über den bevorstehenden Tod vermischten, führte auch das deutschsprachige Feuilleton aufgrund des Zusammenfalls von Faktualität und Fiktionalität offensichtlich an die Grenzen seiner Sprach- und Beurteilungsmöglichkeiten. Der Regisseur, der sein Leben zum Sujet seiner Inszenierungen machte, spaltete die Kritiker grosso modo in zwei Lager: aus der Sicht der Einen provozierten die Arbeiten Anteilnahme und sogar rituelles Gemeinschaftsgefühl, aus der Sicht der Anderen geriet die Selbstdarstellung zu einer hypertrophen Selbstentäußerung typisch Schlingensiefschen Zuschnitts. So liegt einer Vielzahl an Rezensionen das Lavieren zwischen ebenjenen Gegensätzen zugrunde, die Schlingensief mit seinen Inszenierungen zum Stilprinzip erhob. Der widersprüchlichen Verquickung von Authentizitätseffekten und synkretistischer Ich-Übermalung, von Entblößung und Maskierung, von egomanischer Selbstinszenierung und der Konstruktion eines rituellen Wir-Gefühls sowie, nicht zuletzt, von Religion und Kunst kamen die Rezensenten verständlicherweise nur durch eine rhetorische Wiederholung Schlingensiefscher Paradoxien bei.

      In der feuilletonistischen Betrachtung der „Krebs-Trilogie“ schob sich aufgrund der Zurschaustellung der Krankheit insgesamt allerdings tendenziell die Haltung der Pietät vor diejenige einer schonungslos kritischen Hinterfragung der Projekte. Die von Georg Seeßlen bereits in den 1990er Jahren angesprochene „mögliche Unübersetzbarkeit des Schlingensiefschen Arrangements in die klassische