Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes


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bewahrheitet. Der Art und Weise, wie Schlingensief sein persönliches Leid und seine Angst vor dem Tod auf die Theaterbühne brachte, schien mit konventionellen normativen Bewertungskriterien jedenfalls nicht mehr beizukommen zu sein.

      Über die Motive der Egozentrierung, Ritualisierung und Entblößung des Ichs und die Topoi des Bekenntnisses und der Beichte stellen die Rezensionen zu Eine Kirche der Angst, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa einen engen Konnex zu Ausdrucksgesten der Autobiographie her. Der den Arbeiten in den Augen vieler Rezensenten zugrunde liegende autobiographische Inszenierungsgestus, der im theaterwissenschaftlichen Jargon gemeinhin mit dem Begriff der Selbstinszenierung enggeführt wird, zeigt sich, fasst man die Argumente der Journalisten zusammen, im Versuch Schlingensiefs, die Zuschauer in der rückschauenden Betrachtung seines Lebens seiner Person ansichtig werden zu lassen. Das Kernmotiv der Autobiographie seit ihren Anfängen, der Versuch einer Konstruktion von Identität, d.h. der Unteilbarkeit (lat. idem, derselbe) des Ichs, wird in Eine Kirche der Angst und Mea Culpa allerdings gleichermaßen inszeniert und torpediert: So verweist Schlingensief zwar in jedem Moment der Inszenierungen auf sein Selbst; gleichzeitig tut er dies jedoch mit den Mitteln einer bruchstückhaften Kunstsprache, die die Schichten seines Ichs in einem unentwegten Maskenspiel freilegt, um sie im nächsten Moment wieder zu verhüllen. Der Regisseur als Sujet seiner Inszenierungen entzieht sich dabei konsequent der Fixierung auf einen einzigen subjektiven Standpunkt und setzt durch die personale Multiplikation seines Ichs in zahlreiche Bühnenfiguren, durch mediale Verfremdungseffekte sowie den theatral inszenierten fremden Blick auf das eigene Schaffen, ein intrikates Wechselspiel zwischen seinen unterschiedlichen Ich-Positionen in Gang. In zahlreichen Variationen von theatraler und medialer Rede und Gegenrede lässt er diese miteinander kommunizieren, grundiert oder übermalt sie mit eigenem und fremdem künstlerischem Material und wird dadurch zur verkleideten Kunstfigur. Der dem poststrukturalistischen Denken zugrunde liegende Vorgang der Zerlegung, Umcodierung und Neukontextualisierung, den der philosophische Terminus der Dekonstruktion umschreibt, ist für Schlingensiefs montagiertes Gesamtkunstwerk seines Ichs ebenso konstitutiv wie der Wille, seine, wenn auch gebrochene, Identität in einem Zustand der Ekstase nach außen zu transportieren. Aufgrund dieses antinomischen Zusammenfalls von Konstruktion und Dekonstruktion des Ichs stellt die Gesamtheit seiner thanatographischen Inszenierungen zweifelsohne einen intermedialen Hypertext zur hybriden Textsorte der Autobiographie mit ihren im literaturwissenschaftlichen Diskurs problematisierten Techniken der ästhetisierten Selbstdarstellung dar. Schlingensiefs autobiotheatrale Hervorbringungen setzen sich dabei keineswegs nur die Maske der Autobiographie auf, um diese zu parodieren, sondern folgen im Spiel der Selbstinszenierung bewusst den Wandlungen eines mit sich selbst nicht identischen Ichs.

      2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität

      2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit

      2.1.1 Die hermeneutische Perspektive

      Mit seinem, den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa ausschnittweise zugrunde liegenden Krebstagebuch schreibt Schlingensief zunächst die Tradition des journal intime fort. Die Ende des 18. Jahrhunderts als Zeichen erwachender Innerlichkeit aufkommende diaristische Schreibpraxis stellt der synthetisierenden rückschauenden Betrachtung des Lebens im Genre der Autobiographie komplementär ein punktuelles Sezieren der Jetzt-Zeit des Ichs gegenüber.1 Der Hermeneutiker Georg Misch grenzt das Tagebuch als Analyse, mit der der Schreibende seine Gedanken täglich aufs Neue festhält, von der Autobiographie als Synthese ab, die das räsonierende Ich erst in der Rückschau auf sein Leben leistet. Im Sinne einer analytischen Durchdringung der verschiedenen Etappen des Krankheitsweges sprach Schlingensief seine alltäglichen Erlebnisse während seines Krankenhausaufenthaltes zum Zweck der minutiösen Dokumentation seines Leidensweges auf Diktiergerät und trieb das Gebot der Diaristen, unmittelbares Zeugnis des gegenwärtigen Ich-Zustands zu geben, mit veränderten medialen Mitteln ins Extrem. Im Modus der radikalen Unmittelbarkeit des Sich-Selbst-Sprechen-Hörens, vermittelt durch die atopische Stimme, versicherte Schlingensief sich dabei seiner Selbstpräsenz.2 Diese Beteuerung des Selbst wurde erst nachträglich durch Transkription des Tonbanddokuments unter dem Titel So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein (2008) zu Papier gebracht.

      Im Erkenntnishorizont der poststrukturalistischen Rede von der Dezentrierung des Subjekts können freilich weder das Tagebuch noch die im Deutschen begrifflich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Autobiographie als jene faktisch verbürgte Ich-Dokumentation erscheinen, wie es ein im Bereich der populären Selbstbeschreibung geläufiges „ungebrochenes Ich-Bewusstsein“3 nach wie vor suggeriert. Paradigmatisch verdichtet in Titeln wie Ich. Wie es wirklich war (Franz Beckenbauer) oder Nichts als die Wahrheit (Dieter Bohlen) vermitteln die Urheber von Autobiographien, die sich ironischerweise lediglich als Auftraggeber von „anekdotischen oder hagiographischen Trivialprojektionen“4 entpuppen, den Anschein, als würde darin ein unmittelbarer und unverstellter Zugang zur dahinterliegenden Person eröffnet. Als sich seiner selbst vergewissernder Diarist wie als literarischer Autobiograph bediente sich Schlingensief der bekenntnishaften Rhetorik der Wahrhaftigkeit und befindet sich mithin auf einer Linie mit diesen selbstbeschreibenden Zeitgenossen bzw. deren Ghostwritern. Wie der Titel seiner 2012 erschienenen Autobiographie Ich weiß, ich war’s bereits suggeriert, untermauert sein literarisches Bekenntniswerk weitestgehend jenes integrale Ich-Verständnis, das seine Witwe Aino Laberenz im Vorwort mit Nachdruck artikuliert. Christoph Schlingensief schrieb ein Buch, „das sich auf sein Leben richtet. Das sich auch an sein Leben richtet, wie es gewesen ist, wie er gewesen ist.“5

      Die Begriffe Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die der Autor Schlingensief in seinem unerschütterlichen Ich-Verständnis hypostasiert („Ich weiß, ich war’s“), verweisen ihrerseits zurück auf das Paradigma der hermeneutischen Autobiographieforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So lautet die schlichte Definition von Autobiographie durch Georg Misch, es handle sich um eine „Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“6. In seinem Werk Der autobiographische Pakt (1973) liefert Philip Lejeune noch in den 1970er Jahren eine dazu kongruente Gattungsbestimmung: „Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“7 Diese Festlegung des französischen Rezep­tionsästhetikers war dem Bemühen geschuldet, die literarische Selbstbeschreibung systematisch von ihren Nachbargattungen, der Biographie, den Memoiren, dem Ich-Roman und dem Tagebuch, abzugrenzen und beruht auf vier notwendigen Kriterien: 1. einer retrospektiven Erzählposition, 2. der sprachlichen Form der Prosa, 3. der Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur und 4. der Behandlung der individuellen Lebensgeschichte. Das taxonomische Modell Lejeunes knüpft insofern an einen hermeneutischen Schriftbegriff an, als dass es auf der Überzeugung beruht, Leben und Selbst seien bereits gegeben und müssten im Akt des Schreibens lediglich aus der Erinnerung wieder hervorgeholt werden.

      Bereits Wilhelm Dilthey malt auf der Basis des hermeneutischen Denkansatzes als geisteswissenschaftlicher Methode des Verstehens die rückschauende Betrachtung auf das eigene Leben als modellhafte Verkörperung der geschichtlichen Erkenntnis aus. Im Umkreis der Lebensphilosophie um 1900 stellt Dilthey die Erkenntnisqualität subjektiven Erlebens der reinen Vernunfterkenntnis entgegen und erhebt mithin das individuelle Leben zum Ausgangspunkt geisteswissenschaftlichen Verstehens. Um die strukturelle Distanz zwischen verstehendem Subjekt und zu verstehendem Objekt zu verkürzen, etabliert die hermeneutische Methode ein Dispositiv, das den Vorgang des Verstehens in eine zirkuläre Struktur einbettet: Das Subjekt nähert sich dem Objekt, das sich ihm als Fremdes und Anderes zeigt, sukzessive an, indem es die Entwürfe und Vermutungen, die es über das Objekt anstellt, bei genauerer Betrachtung erweitert und korrigiert, um schließlich zu einem tieferen Verständnis des Gegenstandes zu gelangen. Obgleich mit dem hermeneutischen Paradigma des Sinnverstehens selbstredend kein Schlüssel zur Ermittlung letzter Gewissheiten bereitgestellt ist, so zeigt sich in ihm doch deutlich der Glaube an einen fortwährenden Prozess von subjektiver Sinnstiftung.

      An der von ihm so bezeichneten „Selbstbiographie“8 sieht Dilthey einen derart idealen Vorgang des Verstehens, der im Bild des hermeneutischen Zirkels das Einzelne über das Ganze und das Ganze wiederum über das Einzelne ansichtig