Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes


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Überwachung gar vor einer Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit des Beschriebenen: „Ich habe die Wahrheit gesagt. Wenn jemand etwas weiß, was dem eben Erzählten widerspricht, und wäre es tausendmal bewiesen, so weiß er nur Lug und Trug.“4 Trotz seines selbstauferlegten Diktats der Wahrheit, das die persönlichen Verfehlungen und charakterlichen Defizite nachgerade betont, muss Rousseau dem Leser dennoch bekennen, dass er bisweilen mit poetischer Erfindungsgabe die Leerstellen in seiner Erinnerung schließen musste: „wenn es mir manchmal begegnete, daß ich einen bedeutungslosen Zierrat verwandte, so geschah es nur, um eine Lücke zu füllen, die mir mangelnde Erinnerung verursachte.“5

      Hinter diesem Eingeständnis verbirgt sich Rousseaus Reflexion der Medialität von Schrift, die das gelebte Leben in einem Akt der Konstruktion rückwirkend entwirft. Im Rahmen seines autobiographischen Großprojektes musste sich der Autor darüber bewusst werden, dass sich das Subjekt seiner eigenen Mediatisierung grundlegend widersetzt, da es dem Ich letztlich versagt bleibt, sich gleichsam von außen und mit Distanz objektiv zu betrachten. Im Bewusstsein über die existierende „Spannung zwischen der Angst vor dem Selbstverlust und der Unerschütterlichkeit der Selbstgewissheit“6 formuliert Rousseau unweigerlich einen Subjektbegriff, der aus der Sicht Peter Bürgers „erstmals das moderne Ich in seiner Widersprüchlichkeit zu Darstellung“7 bringt.

      Entgegen des im Vorwort der Confessions artikulierten ehrgeizigen Programms, zwischen seinem subjektiven und einem allgemein anthropologischen Erkenntnisinteresse zu vermitteln, nämlich „das einzige Bild eines Menschen, genau nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit“8 gemalt zu haben, formiert sich im Autor die Gewissheit, dass die mit Nachdruck reklamierte Einzigartigkeit seiner selbst durch das Medium der Schrift nicht einzuholen ist. Martina Wagner-Egelhaaf sieht in diesem fragilen Verhältnis von Wahrhaftigkeit und sprachlicher Repräsentation die eigentliche Problematik des Rousseauschen Unternehmens:

      Die repräsentierende Sprache, so virtuos er sie handhabt, ist seinem eigenen Bekunden nach nicht in der Lage, die verwirrende Komplexität seiner Gefühle darzustellen, gleichwohl ist es aber nur diese so unzureichende Sprache, die von der Existenz seiner inneren Gefühlswelt überhaupt Kunde zu geben vermag. So kreist Rousseaus Schrift um jenen immer entzogenen Punkt, an dem Außen- und Innenwahrnehmung, Repräsentation und Repräsentiertes idealiter zusammenfallen könnten.9

      An der technischen Unmöglichkeit, das Herz („jenen immer entzogenen Punkt“), als der emphatisch aufgeladene Vorstellungskomplex von Rousseaus Innerlichkeit, über die Sprache nach außen zu transportieren, zeigt sich das grundlegende Dilemma jedes autothematischen Kunstwerks. Weil es auf die Wirklichkeit verweisen soll, muss es sich selbst zwingend in ein referentielles Verhältnis zur ihr setzen. Da es das Leben allerdings naturgemäß sprachlich nicht fassen kann, kommt das autobiographische Werk seiner aus hermeneutischer Sicht essentiellen Bestimmung niemals nach. Rousseau ist der erste Autobiograph der abendländischen Kulturgeschichte, der an der sprachlichen Undarstellbarkeit seiner Identität scheitert. Aufgrund der unüberwindbaren medialen Differenz der Schrift gerät sein Versuch, sich selbst als idealtypisches Unikum darzustellen, zu einem regelrecht quälenden Verpassen seines Selbst. Die verschriftlichte Repräsentation seines Lebens führt ihm die Grenzen der eigenen Sprachfähigkeit und mithin jene Nicht-Identität in der Doppelposition des Betrachters und des Betrachteten vor Augen, die Schlingensiefs Autobiotheatralität schließlich zum Ich-Darstellungsdispositiv nobilitieren wird. „Ich kann mich nicht begreifen“, lautet die Erkenntnis, die Schlingensief im Fluxus-Oratorium vorbringt und damit sein ästhetisches Bekenntnis der geschichteten Selbstkonstruktion existentiell untermauert.

      2.1.4 Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit

      Mit seinem autobiographischen Werk Dichtung und Wahrheit (1811–1833) komplettiert Goethe das von Dilthey aufgezeigte autobiographische Dreigestirn.1 Im Unterschied zu Rousseau war Goethe nicht die Kompensation seiner Verkennung durch seine Mitmenschen Anlass einer Selbstverschriftlichung, sondern vielmehr der Wunsch, eine künstlerische Bilanz seines Lebens zu ziehen. So ist Dichtung und Wahrheit aus der an die Adressaten gerichteten Hoffnung heraus entstanden, „in der Person des Dichters Mensch und Werk als eine innere Einheit wahrhaft ernst zu nehmen“2. Gleichzeitig sollte Goethes Autobiographie dem Leser Erkenntnisse über die Zeit seines Lebens vermitteln. Sein im Vorwort dargelegtes Ansinnen zielt auf nichts Geringeres als die Abbildung seines Ichs als Spiegel und Ausdruck der Zeit, nämlich

      […] den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter und Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.3

      Indes löst das Werk trotz seines Memoiren-Gestus das von Werner Mahrholz formulierte Desiderat einer Autobiographie, die über die sozialgeschichtliche Kontextualisierung des Ichs das „Zeugnis der Lebensstimmung einer Zeit“4 ablegt, nur bedingt ein. Grund dafür ist in erster Linie die auktorial vollzogene subjektive Transformation der historischen Ereignisse. Auch Diltheys Bewunderung für den greisen Goethe, dem im literarischen Rückblick „jeder Moment seiner Existenz in doppeltem Sinne bedeutend [ist]: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang seines Lebens hineinwirkende Kraft“5, gründet unzureichend auf der Auffassung, der Autor habe Geschichte gegenwärtig anschaulich gemacht und die kontinuierliche Entwicklung seines Lebens dargestellt. Die Perspektive Diltheys, der Dichtung und Wahrheit als Musterbeispiel hermeneutischer Selbstlektüre ausgewiesen hat, unterschlägt das von Goethe selbst angesprochene Dilemma seiner literarischen Unternehmung. Zugleich mit dem Memoiren-Charakter seiner Autobiographie fordert der Autor, wie er selbst erkennt, „Unmögliches“ von sich, nämlich, dass er „sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben“6 ist.

      In Konsequenz dieser Einsicht in die Unkenntnis seiner selbst verfasst Goethe seine Autobiographie schlechterdings als Roman, der die Zeitumstände für die Darstellung seiner künstlerischen Ich-Werdung funktionalisiert und sein künstlerisches Schaffen im Gegenzug als Manifest seines Entwicklungsweges entwirft. Dichtung und Wahrheit inszeniert ein Ich als alles überblickenden Beobachter, der durch den Blick auf die historischen Gegebenheiten seiner Zeit zu einer umfassenden Reflexion über sein Leben gelangt. Die beiden Sphären der Dichtung und der Wahrheit sind im Werk insofern wechselseitig aufeinander bezogen, als dass die Dichtung als Abstraktion des Gewesenen die Wahrheit hervorbringt, die Wirklichkeit umgekehrt allerdings – Goethes Selbstverständnis als Schriftsteller entsprechend – lediglich als Dichtung, als „höhere Wahrheit“7 zum Ausdruck gebracht werden kann. Im Unterschied zu Rousseau tritt Goethe mit einem dezidiert poetischen Anspruch an die Gattung der Autobiographie heran. Die dichterische Selbststilisierung des Autors, die das Leben in den Rang des Profanen herabsetzt, um ihm durch den dichterischen Schreibakt erst zu seinem eigentlichen Recht zu verhelfen, regte nicht lediglich eine Reihe an parodistischen Hypertexten an, die etwa von Jean Pauls Selberlebensbeschreibung (1826, posthum) bis hin zu Thomas Manns Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1954) reichen, sondern stellt überdies den unfreiwilligen Fluchtpunkt der erst im Laufe des 20. Jahrhunderts theoretisch fundierten literarischen Selbstbeschreibungsstrategie der Autofiktion dar. Das poetologische Konzept geht dabei selbstredend entschieden über Goethes romaneske Stilisierung des Ichs hinaus, indem es die fiktionale Konstitution des erschriebenen Subjekts, das keinen Ort außerhalb seiner textuellen Manifestation besetzt, selbstbewusst zur Disposition stellt. Mit Serge Doubrovskys Autofiktion und Alain Robbe-Grillets Programm der Nouvelle Autobiographie gelangt das autobiographietheoretisch problematische Verhältnis von Referenzialität und Fiktionalität in das Zentrum der autothematischen Schreibpraxis. Die Einheit des autobiographischen Ichs wird erzähltechnisch in die Mehrzahl von verschiedenen Sprecherpositionen aufgelöst und findet in Schlingensiefs letzten Inszenierungen schließlich seinen intermedialen Echoraum.

      Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts deklariert der Schriftsteller Carl Einstein mit Blick auf Goethes Dichtung und Wahrheit die autobiographische Selbstlektüre zur „Halluzinatorik“. Einstein blieb nicht verborgen, dass Goethe, gerade indem er auf seine dichterische Fähigkeit zur Wahrhaftigkeit vertraute, an einem emphatischen Ich-Bekenntnis festgehalten hatte. In seinem Nekrolog