Johanna Zorn

Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes


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des Zeigens und Zuschauens überhaupt noch als wirksamer Referenzrahmen für die Analyse des Theaterabends dienen konnte.

      Der Großteil der Kritiker operierte dementsprechend nicht mit dem Begriff des Theaters, sondern mit dem Terminus des Rituals, der zur Erfassung der von Schlingensiefs Mitteilung erzeugten gemeinschaftsbildenden Struktur einer kunstreligiösen communitas besser geeignet zu sein schien. In den Augen Ulrich Weinzierls bezog Mea Culpa seine eigentümliche Kraft gerade aus dem „Vergessenmachen“13 über den theatralen Rahmen, sodass der Zuschauer zum „Zeuge[n] der allmählichen Gemeindewerdung“14 wurde. Dössel betonte, dass man sich „gegen die Teilhabe, die Schlingensief […] gewährt“15, regelrecht sperre, wenn man den Protagonisten dieses existentiellen Abends lediglich als Narzissten abtue. Es gebe „nicht viele Theaterabende, die so ganzheitlich, so überzeugend authentisch – und dazu auch noch so multimedial ausgefeilt – an die wirklich letzten Dinge rühren.“16 Auf Eva Behrendt schließlich wirkte Mea Culpa hinsichtlich Schlingensiefs Auseinandersetzung mit seinem Leben zwar distanzierter als Eine Kirche der Angst, doch die Forderung der Teilhabe, die von der Inszenierung an das Publikum ergangen war, schien in ihren Augen ungebrochen.17

      Darüber hinaus gab es auch Kritikerstimmen, die explizit die voyeuristische Perspektive des Publikums, provoziert durch Schlingensiefs Selbstentblößung, reflektierten. So wollte die Bühne des Burgtheaters laut Ronald Pohl, dem Rezensenten des österreichischen Der Standard, „unter verschwenderischer Aufbietung ihrer Kunstmittel mit der ganzen ‚Wahrheit‘ über uns Menschen herausrücken“18. Rüdiger Schaper setzte ebenso an der mit Schlingensiefs theatraler Simulation von Wahrheit und Unmittelbarkeit verbundenen Rezep­tionsmechanik des Voyeurismus an: „Wann hat sich ein Künstler derart nackt und angreifbar gemacht wie Schlingensief? Sein Werk, sein Leben, seine Krankheit zu einem unerhörten Ganzen so verschmolzen? Die Logik ist fürchterlich, ein voyeuristischer Abgrund.“19 Demnach spielte der vom Regisseur exhibitionistisch in Gang gebrachte Versuch der „Heilung der Wunde ‚Sterblichkeit‘ aus der Idee des Gesamtkunstwerks“20 mit dem Erregungsmoment des Beobachtens. Aufgrund „der vielen verallgemeinerbaren Wahrheitsgehaltzipfel“21, die dabei zu erspähen waren, wurden die Kritiker dieses Abends – freiwillig oder unfreiwillig – letztlich zu Verfassern einer Hagiographie.22

      1.4 Individuelle Mythologie als Paradoxie im Ich

      Durch die Einflechtung ästhetischen, mythisch-religiösen und philosophischen Materials in den Bezugsrahmen des Persönlichen arbeitete Schlingensief mit geradezu plakativer Deutlichkeit an einer „individuellen Mythologie“1. Der programmatische Begriff, mit dem Harald Szeemann im Zuge der 1972 unter dem Titel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ firmierenden documenta 5 eine im Dienste der Kreativität stehende Überhöhung des Egozentrismus und damit eine Abkehr von kollektiv verbindlichen Mythenkomplexen thematisierte, ist für Schlingensiefs künstlerische Thematisierung seines Ichs fruchtbar zu machen. Mit seinen dichten motivischen Formationen eigener und fremder Stoffe, dem ironisch gebrochenen Spiel mit religiösen Ritualen und Bildformeln, der Inszenierung symbolischer Transformationsvorgänge und nicht zuletzt seiner selbstreferentiellen Inkorporation traditionellen ästhetischen Inventars lässt sich der Regisseur in eine Reihe mit Künstlern von Paul Thek über die Wiener Aktionisten bis hin zu Joseph Beuys einordnen, die sich „mit ihren Bildwelten aus den Konventionen des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses ausklinken und Entwürfe eines Kosmos liefern, der nur den eigenen kontrollierten Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“2 Die Verquickung des traditionellen Begriffs von Mythos als einem überindividuellen, verbindlichen Symbolsystem mit der Erfahrungswelt des Einzelnen lebt sowohl bei den historischen Referenzfiguren als auch bei Schlingensief von der funktionalen Paradoxie, zwei kontradiktorische Erfahrungsebenen in eine widersprüchliche künstlerische Formel zusammenzuschließen. Mit dieser Formel erhebt „die Egozentrik den Anspruch […], eine allgemeingültige Sprache zu sprechen“3.

      Von einem derartigen Standpunkt existentieller Selbsterfahrung, der sich nicht in privatistischer Autoreflexion erschöpft, sondern die eigenen enigmatischen Handlungsräume gegen die unhinterfragte Ordnung der Dinge in Anschlag bringen will, zeugt Schlingensiefs Schaffen selbstverständlich bereits vor dem Einbruch seiner Krankheit. Schon mit seinem ersten Langfilm Tunguska – Die Kisten sind da (1984) lanciert der Regisseur, den am Medium Film nach eigenen Aussagen vor allen Dingen seine materiale Zerstörbarkeit faszinierte,4 die autoreflexive Geste eines jungen Filmregisseurs, der gegen das Gebot des filmischen Realismus aufbegehrt und das Ende des Neuen Deutschen Films heraufbeschwört. Anhand hysterisch überspannter Familienkonstellationen wiederum zeigt die „Deutschland-Trilogie“, bestehend aus 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1988), Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) und Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1991/1992), ernüchternde Gegenwartsdiagnosen und die Erforschung deutscher Geschichte. Seine Theaterarbeiten führen die Impulse aktueller politischer und gesellschaftlicher Diskurse im intermedialen Assoziationsfeld weiter und zeichnen sich durch die Dichte an Bezügen zu vorangegangenen Arbeiten aus. So widmen sich etwa die sowohl im thematischen Umfeld der Church of Fear als auch Schlingensiefs Bayreuther Parsifal (2004–2007) entstandenen Inszenierungen Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen (Volksbühne Berlin, 2003), Bambiland (Burgtheater Wien, 2003) und Attabambi Pornoland (Schauspielhaus Zürich, 2004) ebenso den Anschlägen des 11. Septembers wie der medialen Inszenierung des Irakkriegs und zeigen motivische wie inszenatorische Versatzstücke der Parsifal-Inszenierung. Inmitten dieser apokalyptischen Settings stellt Schlingensief wahlweise Beuys’ Aktion Coyote nach, versucht sich als Aktionskünstler im Geiste Hermann Nitschs, dirigiert von einem Turm aus Wagners Tannhäuser-Ouvertüre und spielt nebenbei ein Kind, das gegen die Eltern rebelliert. In den letzten Inszenierungen Schlingensiefs führt eine solche Fundierung des ästhetischen Schaffensaktes im persönlichen Erfahrungshorizont des Künstlers allerdings zu einem ernsten, existentiellen Spiel um die Offenbarung und Chiffrierung des autobiotheatralen Ichs. Die augenscheinliche Mythologisierung des Ichs, die als implizites Leitmotiv zahlreicher Rezensionen fungiert, zeigt überdies den Versuch einer Aktualisierung kunstphilosophischer Konzepte der Frühromantik an.

      Dies wird offensichtlich mit Blick auf Friedrich Schlegels Konzept der Universalpoesie. In seinem fiktiven Gespräch über die Poesie weist der Philosoph die Poesie als schöpferischen Urquell aus, der zwischen dem Einzelnen und der all­umfassenden Idee des Kosmos vermittelt. In einem für das romantische Denken konstitutiven Modus „kosmischer Projektion“ bindet Schlegel seine Überzeugung, wonach „jeder [Mensch] seine eigne Poesie in sich“5 trage, an ein übergeordnetes, unbestimmbares Prinzip schöpferischer Kraft zurück. Diese höhere Poesie, die „von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit“6 hervorgeht, fungiert ihrerseits als Statthalterin des Numinosen. Aus dem alles einschließenden, selbstschöpfenden Vorstellungskomplex der Poesie erwächst letztlich Schlegels Forderung nach einer Neuen Mythologie. An sein poetisches Konzept knüpft er nichts weniger als die Hoffnung auf eine verbindliche, gemeinschaftliche Weltanschauung, die zwischen den Dualismen einer zerrissenen modernen Welt vermittelt. Die Neue Mythologie ist mithin dazu angetan, die religiöse Lücke einer entgötterten Welt in der Romantik zu schließen. Die Voraussetzungen für einen derartigen wirkungsästhetischen Zusammenschluss von Kunst und Religion liegen dabei freilich in deren vorangegangener Trennung im Zuge der Aufklärung und im nunmehrigen Fehlen eines verbindlichen religiösen Sinngebungssystems.

      Hinter Schlegels Entwurf einer alles verbindenden poetischen Kreativität kommt der Begriff der Kunstreligion zum Vorschein. Friedrich Schleiermacher bringt ihn im Jahr 1799 in seinen Reden Über die Religion erstmals ins Spiel. Der Begriff drückt die Sehnsucht nach Ganzheitserfahrungen – bei Schleiermacher die Suche nach der „Harmonie des Universums“7 – aus. Obwohl Schleiermacher zunächst keinen Zweifel daran lässt, dass die Kunst der Religion gegenüber eine dienende Funktion übernimmt, so gesteht er ihr im Laufe seiner Argumentation doch die Möglichkeit zu, aus eigener Kraft das Unendliche erfahrbar zu machen. Mit der Beobachtung, dass „der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion“8, weist er ebenso entschieden über Goethes verhaltene Bemerkung hinaus, wonach die Kunst „auf einer Art religiösem Sinn, auf einem tiefen unerschütterlichen Ernst“9 beruhe, wie über Klopstocks Ansicht, dass die „heilige