Michaela Sambanis

Didaktik und Neurowissenschaften


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Konkretisierungsniveau anstrebt. Sie nimmt Bezug auf zu jener Zeit aktuelle Erkenntnisse der amerikanischen Gehirnforschung und fordert Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen, nämlich auf Ebene der Lehrkräfteausbildung, der des „gehirngemäße[n] Lernen[s]“ (Arnold 2002: 235) und der der Curriculumsentwicklung. In Aspekte einer modernen NeurodidaktikNeurodidaktik stellt Arnold Kriterien zusammen, die sich ihr zufolge „direkt aus der Gehirnforschung ableiten lassen“ (ebd.: 236). Dazu zählen u.a. „Emotionen als ‚Türöffner‘ “ (ebd.), die Relevanz von „unmittelbarer Gegenwartserfahrung“ (ebd.: 238), die Multiple Intelligences nach Gardner (vgl. ebd.: 239) und der Einfluss der eigenen Persönlichkeit auf das Lernen (vgl. ebd.: 241). Darauf aufbauend zieht sie didaktische Schlüsse in Form von „acht gehirnmäßigen Elementen“, darunter Angstfreiheit, sinnvolle Inhalte, Wahlmöglichkeiten und unmittelbare Rückmeldung (ebd.: 242). Müller (2005: 77f.) kritisiert, dass Arnold sehr schnell zur Frage nach Schlussfolgerungen übergehe ohne die eigene Position zu analysieren.

      Als Gegenbeispiel führt er die Allgemeine Pädagogin Scheunpflug an, ebenfalls eine Vertreterin der Aufnahme von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung. Sie stellt fest, dass „die Psychologie oder die Soziologie [schon lange] erklärte Bezugswissenschaften der Erziehungswissenschaft“ seien (Scheunpflug 2000: 47). Anders verhalte es sich mit der Biologie, deren „Erkenntnisse […] für die Pädagogik rezipiert und [ebenfalls] fruchtbar gemacht werden“ sollten (ebd.). Scheunpflug strebt einen „Kompromiss zwischen Genauigkeit und Verständlichkeit“ (ebd.: 48) an und äußert sich „didaktischen Rezeptologien“ (Müller 2005: 81) gegenüber skeptisch. Dennoch formuliert auch sie im Sinne einer didaktischen Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Wissensbestände zum Zwecke der ApplikationApplikation mehrere Folgerungen, die sie für plausibel erachtet. Schnittmengen finden sich mit anderen neurodidaktisch ausgerichteten Arbeiten, z.B. bei dem Hinweis auf den Einfluss von Emotionen auf Lernprozesse oder bei der Bestätigung der Sinnhaftigkeit des Nutzens unterschiedlicher Lernzugänge.

      Allen erwähnten sowie weiteren Vertreterinnen und Vertretern des in diesem Teilkapitel umrissenen Rezeptionsmusters ist gemein, dass sie zumindest einen Teil der von den Neurowissenschaften generierten Befunde für relevant erachten, diese aufschlüsseln und in Lehr-Lern-Kontexten nutzbar machen wollen, wobei das lineare Modell des „Import[s] neurowissenschaftlichen Wissens in die Didaktik“ (Müller 2005: 83, kursiv im Original) zur Anwendung kommt.

      Vertreterinnen und Vertreter dieses Vorgehens haben vor allem dazu beigetragen, ausgewählte Befunde ins Licht der Aufmerksamkeit jener zu rücken, die auf unterschiedlichen Ebenen, z.B. in der Bildungspolitik, in Bildungsinstitutionen, in der Lehrkräfteausbildung etc. bis hinein in die Familien, Erziehung und Bildung gestalten. Dieser Beitrag ist, ohne die Begrenzungen des linearen Ansatzes negieren zu wollen, zu würdigen und stellt gewissermaßen wissenschaftshistorisch – falls der Begriff in diesem Zusammenhang als zulässig erscheint – einen wichtigen Meilenstein dar.

      Die Kritik an dieser Position setzt bei der Linearität des Vorgehens an, die das neurodidaktische Unterfangen letztlich auf eine Entlehnung von Wissen reduziert, was dazu führt, dass nicht wirklich der Versuch unternommen wird, einen wechselseitigen Dialog in Gang zu bringen. Das Ziel der direkten ApplikationApplikation ist vielmehr das Vorlegen einer „neurowissenschaftlich ausgewiesene[n] Didaktik“ (Müller 2005: 83) oder, je nachdem worin Ausgangspunkt und Ziel liegen, der Versuch einer zumindest augenscheinlichen wissenschaftlichen Absicherung von didaktischen ÜberzeugungenÜberzeugungen, Beliefs oder methodischen Konzepten bzw. unterrichtlichen Impulsen. Diese Intention verfolgten, um ein konkretes Beispiel, in diesem Fall aus der Fremdsprachendidaktik, zu nennen, Vertreterinnen und Vertreter der Suggestopädie. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der beeindruckende Lernerfolge in Aussicht stellt und mit Suggestion zur Steigerung der Gelingenszuversicht der Lernenden sowie dem Induzieren von Entspannungszuständen durch klassische oder barocke Musik arbeitet. Musik soll außerdem als ein „Katalysator für die LangzeitspeicherungLangzeitspeicherung von Wissen“ wirksam werden (Jäncke 2008: 203). Um die Glaubwürdigkeit des Ansatzes und den Marktwert zugehöriger Produkte zu erhöhen, wurden neurophysiologische und neuropsychologische Befunde entlehnt. Die direkte Anwendung ist in diesem und ähnlichen Fällen sehr kritisch als Legitimationsversuch durch Befunde der Hirnforschung, als Bemühen um Aktualität und als Erhöhung der Attraktivität durch den Anstrich der Wissenschaftlichkeit zu deuten. Sie stellt ein Beispiel für die – ohne Euphemismus formuliert – „Instrumentalisierung neurowissenschaftlicher Wissensbestände“ (Müller 2005: 84) dar. Dabei ist in der Regel in solchen Fällen das Vorgehen höchst selektiv, d.h. es wird ausschließlich nach Befunden gesucht, die die eigene Position stützen und diese werden isoliert dargestellt, was ethisch fragwürdig erscheint, dem Ansehen der eigenen Disziplin schadet und mitunter auch die Glaubwürdigkeit neurowissenschaftlicher Evidenz in Mitleidenschaft zieht (vgl. Sambanis 2015: 157). Auch die Vorläufigkeit mancher Befunde – die Neurowissenschaften sind überaus forschungsaktiv, das Feld ist hochdynamisch und die Erforschung des Lernorgans Gehirn noch lange nicht abgeschlossen2– wird in solchen Fällen selten in der gebotenen Weise berücksichtigt. Im Hinblick auf die Suggestopädie kommt daher der Musikneurologe Jäncke (2008: 233–234) zu folgendem Schluss: „Die von der Suggestopädie und verwandten Methoden propagierte Wirkung von passivem Musikhören auf das Lernen (vielfältiger Inhalte) hält keiner ernsten wissenschaftlichen Überprüfung stand. […] Auch die immer wieder propagierte Wirkung des passiven Hörens von Barockmusik auf das Lernen ist wissenschaftlich nicht bestätigt.“3

      Auf der Basis der mit der direkten ApplikationApplikation in den zurückliegenden Jahren gewonnenen Erfahrungen ist es möglich, Überlegungen zu einer Weiterentwicklung der neurodidaktischen Vorgehensweise anzustellen. Als Ansatzpunkt dafür soll das dritte Rezeptionsmuster dienen.

      1.1.3 Kritische Übersetzung und Begründung der angestrebten Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik

      Die „kritische Übersetzung“ (Müller 2005: 102) beschreibt eine Herangehensweise, die darauf basiert, „den Neurowissenschaften sowohl aufgeschlossen als auch kritisch gegenüber[zu]stehen“ (ebd.).1 Eine kritische Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften kann jedoch nur gelingen, wenn man mit deren Methoden, den Forschungszugängen, Designs usw. vertraut ist, sodass auf dieser Basis eine fundierte Einschätzung möglich wird. Zugleich bedarf es bei der kritischen Übersetzung einer ebenso soliden Kenntnis des Feldes der Didaktik bzw. der Erziehungswissenschaft, je nachdem, worauf die Übersetzung zielt.

      Während Applikationen und Integrationen suggerieren, neurowissenschaftliches Wissen ließe sich bruchlos in pädagogisches Wissen übertragen, werfen kritische Übersetzungen die Frage auf, was die Neurowissenschaften selbst nicht in den Blick bekommen, für eine pädagogisch sinnvolle RezeptionRezeption aber unabdingbar ist. (Müller 2005: 103)

      Um das in den Blick nehmen zu können, was außerhalb des Feldes der Neurowissenschaften liegt, scheinen zwei Maßnahmen von Bedeutung zu sein: zum einen der wechselseitige Dialog, zum anderen wäre ein Beitrag der Didaktik im Sinne von translationaler Forschung wünschenswert. Die Didaktik verfolgt keineswegs nur das Ziel, Unterrichtsimpulse hervorzubringen, sondern sie ist eine forschende Disziplin und als solche in der Lage, zu einer kritischen Übersetzung beizutragen sowie Fragen zu konkretisieren, deren Beantwortung auf interdisziplinärinterdisziplinär kumulativem Weg erfolgversprechend erscheint. Dort, wo die Expertise der Gehirnforschung endet, können Didaktik, Erziehungswissenschaft etc. ansetzen, und die Anwendbarkeit bzw. Aussagekraft von Erkenntnissen der Neurowissenschaften in Lehr-Lern-Kontexten insbesondere mittels Studien im Praxisfeld prüfen.2 Ebenso ist es möglich, dass didaktische Studien Fragen aufwerfen, deren Klärung unter Mitwirkung der Neurowissenschaften vorangebracht werden könnte. Auf diese Weise lassen sich neurowissenschaftliche und didaktische Erkenntnisse koppeln (TranslationTranslation zwischen den Disziplinen) und der Gefahr des rein intuitiven Übersetzens von Erkenntnissen der Hirnforschung in die Unterrichtspraxis entgegenwirken (Translation zwischen Wissenschaft und Praxis). Auf der Grundlage von zusammengeführten Wissensbeständen kann entschieden werden, „ob in einem weiteren Schritt Hinweise für die Unterrichtsgestaltung formuliert […] werden können“ (Sambanis 2015: 157).

      Der vorliegende Band sucht nach verfügbaren Wissensbeständen, die für