werden auch Forschungsbedarfe, insbesondere solche für translationale Forschung, benannt. Eine planvolle Verbindung von Neurowissenschaften und Didaktik, die im Zuge der Interpretation von Befunden und des Aufschlüsselns für die Praxis auch Befunde weiterer Disziplinen in den Blick nimmt, könnte sich gegebenenfalls sogar zu einer Disziplin entwickeln, die als Ergänzung zu den einzelnen Fachdidaktiken und als ein Bindeglied zwischen Didaktik und Neurowissenschaften fungiert.
Neurodidaktiken fokussieren in der Regel die Frage nach dem Wie?, also streng genommen die der Unterrichtsmethodik.3 Während die Hirnforschung als „natural science“ (Willingham 2008: 544) forscht, um beschreiben zu können, gehen die Erwartungen an eine NeurodidaktikNeurodidaktik in eine andere Richtung: Sie soll Orientierung geben, Entscheidungen zumindest erleichtern, wenn nicht sogar abnehmen.
Das Abnehmen von Entscheidungen erscheint uns als Autorinnen problematisch, denn es vereinfacht komplexe Zusammenhänge oftmals auf unzulässige Weise, reduziert sie auf die eine, vermeintlich richtige Lösung und das gesamte komplexe Gefüge pädagogischen Handelns auf ein scheinbar einfaches kausales Schema: Wenn man Unterrichtsmethode A anwendet, bekommt man B als Effekt. Dennoch würde ein Werk wie das vorliegende sein Ziel verfehlen, würde nicht der Versuch unternommen, mögliche Schlussfolgerungen für die Handlungsebene zumindest zu diskutieren. Die Verfasserinnen von Didaktik und Neurowissenschaften sind sich des Balanceakts zwischen geforderter Konkretisierung und gebotener Vorsicht sowie notwendiger Offenheit bewusst und möchten, statt fertiger Rezepte, Möglichkeiten in den Vordergrund stellen, die im Dialog zwischen Praktikerinnen und Praktikern sowie zwischen Praxis und Wissenschaft entwickelt werden. Es sollen Anstöße gegeben werden zum Dialog, zum Weiterdenken der Impulse, zum weiteren Erforschen und zum Abgleich mit Erfahrungen. Als Kontrollmaßnahme gegen den Sog der Rezeptorientierung, wählt der vorliegende Band das Format der Praxisfenster:
PraxisfensterPraxisfenster:4 Zwei Lehrkräfte, eine Didaktikerin und eine Neurowissenschaftlerin tauschen sich in einem fiktiven Kommunikationsprozess aus:5
Peter ist Lehrer an einem Gymnasium und verfügt über langjährige Erfahrung.
Claudia hat vor kurzem ihre erste Stelle als Lehrerin an einer Grundschule angetreten.
Dianne ist Fremdsprachendidaktikerin, lehrt und forscht an einer Universität. Sie ist in der Lehrkräfteaus- und fortbildung tätig und sehr an Knotenpunkten in Wissensbeständen unterschiedlicher Disziplinen interessiert.
Gesa ist Neurowissenschaftlerin. Sie legt Wert darauf, dass die generierten Erkenntnisse diffundieren, am besten auf dem Weg des Dialogs aufgeschlüsselt und genutzt werden können.
Der Text des Buches außerhalb der PraxisfensterPraxisfenster lässt sich wie das Skript zu einer Fortbildungsveranstaltung lesen. An größere Sinnabschnitte, die eine unmittelbare Bezugnahme auf die Praxis nahelegen, schließt sich ein Praxisfenster an. Hier treten die genannten vier Personen in einen Dialog: Kernbotschaften aus dem vorher Referierten werden zusammengefasst, kurz, möglichst verständlich und prägnant diskutiert. Offene Fragen werden im wechselseitigen Dialog zwischen den Disziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis aufgegriffen. Sich abzeichnender Forschungsbedarf und blinde Flecken werden zumindest exemplarisch angesprochen, Fragen der Praxis an die Forschung und der Forschung an die Praxis gestellt. Darüber hinaus wird innerhalb dieses Dialogs ausgelotet, wo Praktikerinnen und Praktiker Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen ihrem Erfahrungswissen und den referierten Erkenntnissen sehen. Außerdem werden Vorschläge gemacht und diskutiert, welche möglichen Schlüsse sich für die Gestaltung von Lehr- und LernprozessenLernprozesse ziehen lassen, welche Impulse generiert werden können, ohne diese als allgemeingültige Rezepte verstehen zu wollen.
Das Einrichten der PraxisfensterPraxisfenster ermöglicht es, die verschiedenen Betrachtungsebenen – Ebene der Erkenntnisse, Ebene möglicher Applikationen – textgestalterisch immer wieder voneinander zu trennen. Trotzdem können beide Ebenen inhaltlich im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung und eines evidenzbewussten Fokussierens und Reflektierens der Praxis (evidence-aware, vgl. Biesta 2011: 98) aufeinander bezogen werden. Dadurch soll mehr Gewicht auf die geforderte Diskussion in both directions (The Royal Society 2011: 18) gelegt werden und zwar, wie gesagt, zum einen im Sinne einer Diskussion zwischen den Wissenschaften, wobei die Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik eine Hauptachse bildet und im Feld der Didaktik ein Schwerpunkt auf die Fremdsprachendidaktik gelegt wird, was aber die Bezugnahme auf Befunde anderer Fachdidaktiken nicht ausschließt. Zum anderen soll ein wechselseitiger Dialog auch zwischen Forschung und Praxis geführt werden. Die Praxisfenster verstehen sich in diesem Sinne auch als Impulsgeber, um die Diskussion z.B. in Seminaren, bei Tagungen oder Fortbildungsveranstaltungen weiter zu tragen, denn die Praxisfenster müssen gezwungenermaßen exemplarisch und überschaubar bleiben.
Wie später noch ausgeführt wird (vgl. Infobox Kap. 3), können viele der im PraxisfensterPraxisfenster vorgeschlagenen Unterrichtsimpulse in Aktionsforschungsprojekten (vgl. Altrichter et al. 2006) von Praktikerinnen und Praktikern sowie Studierenden, wenn diese z.B. im Rahmen des Praxissemesters ein Lernforschungsprojekt durchzuführen haben, hinsichtlich ihrer Eignung, Akzeptanz durch die Lerngruppe und der intendierten Effekte im Praxisfeld beleuchtet werden. Dadurch können zu einzelnen praxisrelevanten Fragestellungen im Unterricht mit oftmals überschaubarem Aufwand Erkenntnisse generiert werden, die, in ihrer eigenen Art und Weise und mit dem jeweils angemessenen Geltungsbereich, als komplementär zu den Erkenntnissen der Neurowissenschaften betrachtet werden können. 6
Der vorliegende Band verfolgt nicht das Ziel, eine bestimmte Unterrichtsmethode zu legitimieren oder zu propagieren. Vielmehr begeben sich die Autorinnen unvoreingenommen auf Spurensuche nach Wissensbeständen, die für das Lehren und Lernen, insbesondere in institutionalisierten Kontexten, bedeutsam erscheinen. Dabei werden Schwerpunkte gesetzt, die einerseits grundlegende Aspekte des Themas Lehren und Lernen fokussieren, andererseits werden aber auch Schlaglichter gesetzt auf Einzelfragen, die das pädagogische Handeln und ein planvolles Innovieren von Unterricht betreffen. Einige Informationen werden, vom sonstigen Text graphisch abgesetzt, in InfoboxenInfobox bereitgestellt. Sie enthalten vertiefende bzw. ergänzende Informationen oder erläutern Hintergründe.
Als Autorinnen haben sich zwei Wissenschaftlerinnen zusammengetan, die im Bereich der interdisziplinäreninterdisziplinär und auf TransferTransfer ausgerichteten Forschung bereits seit Jahren tätig sind. Gemeinsam decken sie mit ihrer Expertise das Spektrum dessen, was für eine sich aus kritischer RezeptionRezeption speisende Verbindung von Neurowissenschaften und Didaktik samt Verankerung eines wechselseitigen Dialogs unverzichtbar erscheint, wie folgt ab: Neurobiologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Fremdsprachendidaktik sowie langjährige Tätigkeit als Lehrkraft, in der Lehrkräfteausbildung sowie im Coaching und der wissenschaftlichen Begleitung von Bildungseinrichtungen.
Didaktik und Neurowissenschaften lädt zu einer Spurensuche ein, die von Interesse und NeugierNeugier getragen ist, sich um eine kritische Auseinandersetzung mit Wissensbeständen sowie um ein Zusammenführen von Erkenntnissen bemüht und die sich bei der Frage nach Konsequenzen für die Praxis und beim Abgleich mit Praxiserfahrungen statt der Rezeptorientierung dem divergenten Denken verpflichtet fühlt.
Ausgewählte Literaturhinweise
Blakemore, S.-J. & Frith, U. (2006): Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
Müller, T. (2005): Pädagogische Implikationen der Hirnforschung. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Diskussion in der Erziehungswissenschaft. Berlin: Logos.
2. Gehirn und Hirnentwicklung
In diesem Kapitel werden die grundlegenden Prinzipien des Gehirns vorgestellt. Allerdings reicht es für unsere Zwecke nicht aus, das „fertige“ Gehirn von Erwachsenen zu betrachten, allein schon deshalb, weil sich sehr viele Lehr-Lernarrangements und didaktische Vorgehensweisen an junge, sich entwickelnde Menschen richten. Hinzu kommt, dass sich viele LernprozesseLernprozesse besser verstehen und einordnen lassen, wenn man die Entwicklung des Gehirns berücksichtigt. Jeder neue Lerninhalt